Donnerstag, 5 . September 2019

Das Attentat

Als der Schuss Selma Falck traf, war sie eigentlich nur überrascht.

Es tat nicht besonders weh. Ein Rucken in der Schulter, ganz oben am linken Arm. Instinktiv griff sie an die Eintrittswunde und merkte mit wachsendem Erstaunen, dass das Blut schon ihre Samtjacke tränkte und sie dunkelrot färbte.

Ein gewaltiges Spektakel brach los.

Der Tisch kippte um, Menschen kreischten. Tassen, Gläser und Stühle flogen in alle Richtungen. Die Gäste in dem engen Straßencafé ließen sich auf den Asphalt fallen oder sprangen auf, um die Flucht zu ergreifen. Ein Kinderwagen, der am äußeren Rand der Tischreihe stand, fiel um, und die Schreie der Mutter übertönten allen anderen Lärm.

Nur Selma Falck blieb ganz ruhig sitzen. Während sich das Blut unter ihrer rechten Hand ausbreitete, wurde ihr immer schwindliger. Später würde sie aussagen, dass viele Sekunden vergangen waren, vielleicht sogar Minuten, ehe sie bemerkt hatte, dass Linda tot war.

Der Schuss hatte Selmas alte Freundin aus der Handballnationalmannschaft in den Kopf getroffen.

Ein scharfer Knall hatte die Herbstluft zerfetzt. Es hatte nicht zweimal geknallt, das wusste Selma mit Sicherheit. Sie blieb sitzen, die Übelkeit hinderte sie am Aufstehen, während sie versuchte, die Kakophonie aus Weinen, Jammern und scharfen Warnungen auszusperren.

Ein einziger Schuss. Definitiv keine zwei. Linda hatte links von ihr gesessen. Vanja Vegge, Selmas älteste Freundin, saß den beiden genau gegenüber. Ein gestresster Kellner hatte soeben ein Glas Wasser auf den wackligen kleinen Tisch geknallt. Das Glas stand so weit am Rand, dass es fast umgekippt wäre, als der Kellner sich zwischen den eng stehenden Tischen umdrehte. Linda Bruseths Reflexe waren vielleicht nicht so gut wie vor dreißig Jahren, aber sie hatte den Fall in letzter Sekunde verhindern können. Ihre Hand umklammerte noch immer das Glas. Ihr Kopf war nach vorn gesunken. Es konnte aussehen, als wäre sie betrunken eingeschlafen. Aber alles, was vor wenigen Sekunden auf dem Tisch gestanden hatte, waren das Wasser, eine Pepsi Max und ein Cappuccino gewesen.

Feinkalibrige Waffe, konnte Selma noch denken. Die Kugel hatte Linda von hinten seitlich am Kopf getroffen. Dort hatte sie Masse und Gewicht hinterlassen, während sie im Gehirn rotiert war, hatte den Winkel geändert und ihre Reise durch ein neues und größeres Loch in Lindas Schädel fortgesetzt, ehe sie Selmas Arm traf. Vor Selmas Augen tanzten Punkte, schwarze und grüne, aber sie konnte den verletzten Arm doch weit genug heben, um zu sehen, dass es keine Austrittswunde gab.

»Selbe Kugel«, murmelte sie. »Und jetzt ist die in mir.«

»Wir müssen weg!«, schrie Vanja Vegge hysterisch unter dem Tisch.

»Sie hat mich gerettet«, sagte Selma.

»Was? Wir müssen weg, Selma! Vielleicht gibt es noch weitere Schüsse!«

»Linda hat mich gerettet«, wiederholte Selma. »Aber ohne das zu wissen, glaube ich.«

Danach erhob sie sich, schwankte ein wenig, packte ihren linken Oberarm fester mit der rechten Hand und ging mit überraschend sicheren Schritten auf den heulenden Rettungswagen zu, der sich wie durch ein Wunder bereits näherte.

»Das darf Anine nie im Leben erfahren«, murmelte sie immer wieder. »Meine Tochter darf davon einfach nichts hören.«

Als ob sich das vermeiden lassen würde.