Sonntag, 8 . September

Der Helfer

»Wie kann ein Smiley zwinkern? Hat der sich bewegt?«

Einar Falsen wischte sich die gelblich verfärbten Hände an den Hosenbeinen ab und setzte sich auf sein uraltes Sofa. Ein Kater sprang ihm liebevoll schnurrend auf die Knie und begann, Käseflips-Fett von den Fingern seines Besitzers zu lecken.

»Natürlich nicht«, sagte Selma Falck gereizt und knallte eine große Aktentasche auf den Couchtisch, ehe sie in einem wackligen Sessel Platz nahm. »Das eine Auge war so gezeichnet. Geschlossen. Als ob das Gesicht zwinkerte.«

Sie demonstrierte das und versuchte dabei, den schmerzenden Arm anders zu positionieren.

»Nimm die hässliche Perücke ab«, sagte Einar. »Und was ist das da?«

Selma riss sich die Perücke vom Kopf und stopfte sie in die Handtasche. Die vielen Jahre, in denen sie verkleidet Oslos illegale Spielhöllen aufgesucht hatte, hatten ihr eine ansehnliche Auswahl an Perücken, Brillen und Kopfbedeckungen beschert. Das Bedürfnis danach, nicht erkannt zu werden, war jetzt mindestens ebenso groß. Sie hatte längst gelernt, ihren Gang zu variieren, und sie hatte den frisch operierten Arm in einen Jackenärmel gezwungen, ehe sie durch die Kellergarage gegangen war, statt die übliche Haustür zu benutzen. Danach hatte sie die knappe Viertelstunde zu Einar Falsens kleiner Wohnung zu Fuß zurückgelegt. Sosehr sie auch hoffte, dass Linda Bruseth das Ziel des Attentäters gewesen war, so konnte sie doch nicht sicher sein. Deshalb ergriff sie ihre Vorsichtsmaßnahmen.

»Das«, sagte Selma und legte eine flache Hand auf den Papierstapel, der vor ihr lag, »sind alle Fälle, mit denen ich zu tun hatte, seit ich als Anwältin aufgehört und als Privatermittlerin angefangen habe.«

Sie schob den Stapel einige Zentimeter auf ihn zu.

»Was soll ich damit?«, fragte Einar.

Der ehemalige Polizist starrte den Stapel skeptisch an.

»Du sollst jeden Fall ganz genau durchgehen«, sagte Selma.

»Warum?«

»Weil …« Gereizt erhob sie sich, knüllte die übel riechende, leere Käseflips-Tüte zusammen und ging in die Küche, um sie wegzuwerfen.

»Hast du nichts von dem begriffen, was ich dir am Telefon erzählt habe?«, fragte sie laut.

»Du kannst froh sein, dass ich überhaupt ans Telefon gegangen bin, als du angerufen hast. Ich bin ja gewaltig zusammengezuckt. Du sollst das doch nur im Notfall verwenden, hab ich gesagt. Viele Male schon.«

»Das hier ist ein Notfall. Ich bin angeschossen worden.«

»Überlass die Sache der Polizei. Die werden das schon klären.«

Selma ging zurück und setzte sich. Ihr Blick ruhte auf dem Mann auf der anderen Seite des dreibeinigen, schiefen Couchtisches. Er machte gerade eine gute Phase durch. Aß nicht nur Käseflips, auch wenn sein Verbrauch noch immer groß war. Soweit sie wusste, nahm er die ihm verschriebenen Antipsychotika. Nach zwei Jahrzehnten als Obdachloser hatte es ihm gutgetan, ein festes Dach über dem Kopf zu haben. Selbst wenn es nur eine Wohnung wie diese hier war. Sie war zugig und feucht, was er dadurch ausglich, dass er sämtliche Heizkörper rund um die Uhr voll aufdrehte.

»Hier drinnen ist es heiß wie in einer Sauna«, seufzte sie und zupfte an ihrem Pulloverausschnitt.

»Gerade richtig«, sagte Einar lächelnd und legte sich den Kater an die Schulter. »Miez findet das auch.«

Einars Zustand hatte sich im vergangenen Jahr ganz eindeutig gebessert. Er war jetzt so gesund, dass er sie fast immer Selma nannte und nicht Mariska, nach einer Schauspielerin aus den USA , mit der sie nach allgemeiner Auffassung Ähnlichkeit hatte.

Viel zu viele Jahre lang hatte Selma ihn mindestens einmal in jeder dunklen Jahreszeit mit vierzig Grad Fieber und röchelnder Lunge in die Notaufnahme bringen müssen. Im vergangenen Winter jedoch hatte er sich durchgehangelt, ohne auch nur ein einziges Mal ernsthaft krank zu werden. Mit seinem physischen Zustand besserte sich auch der psychische. Noch immer litt er unter Zwangsvorstellungen über alles, von tödlicher elektrischer Energie bis hin zu der Überzeugung, das Land sei einem totalitären, alles überwachenden und geheimen Regime unterworfen. Welches natürlich von der CIA gesteuert wurde. Die ganze Geschichte mit Zerfurcht/Verwittert war da keine Hilfe gewesen. Noch immer konnte er von furchtbaren Ängsten und Verschwörungsideen gepackt werden. Aber diese Phasen waren zusehends seltener und dauerten nie mehr so lange wie früher. In den letzten Wochen hatte er sich fast normal verhalten. Er hielt die Wohnung einigermaßen sauber und duschte immerhin zweimal pro Woche. Einar Falsen wirkte zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten zufrieden mit sich und der Welt.

Bei Selma sah es nicht so gut aus.

Sie war müde. Es war nicht mehr so leicht, die Fassade aufrechtzuerhalten. Das Nahtod-Erlebnis des vergangenen Jahres hatte ihr stärker zugesetzt, als sie sich eingestehen mochte. Solange sie sich zurückerinnern konnte, vermutlich schon als Kind, hatte sie sich im Spagat zwischen der, die sie eigentlich war, und ihrem Außenbild befunden. So hatte sie ihr Leben führen wollen. Viel von dem ewig Rastlosen in ihr war zu positiver Energie geworden. Sie schaffte eine Menge. Die Unruhe, die übrig blieb, hatte sie spielsüchtig gemacht, was sie erst vor zwei Jahren um ein Haar in den vollständigen Ruin getrieben hätte.

Aber nicht ganz: Selma Falck kam immer wieder auf die Beine.

Der Ruhm von damals, als sie zu den weltbesten Handballspielerinnen gehört hatte, war mit der Zeit durch stetig wechselnde Aufmerksamkeit ersetzt worden. Zuerst als Anwältin. Es kam oft vor, dass sie Mandanten explizit annahm oder abwies, je nachdem, wie viel Aufmerksamkeit der Fall ihr einbringen könnte. Sie war immer in der politischen Mitte gesegelt, mit der ihr ganz eigenen Fähigkeit, mitten im allgemein Akzeptablen auf den Füßen zu landen, wenn sie ein seltenes Mal zu einer politischen Äußerung aufgefordert wurde.

Selma provozierte niemanden.

Bald würde es keine Promi-Show mehr geben, an der sie nicht teilgenommen hatte. Sie hatte mehrere dieser TV -Competitions gewonnen. Soziale Medien waren ebenfalls wie für Selma Falck geschaffen. Durch Selfies und Schnappschüsse hatte sie sich zwischen Wänden des Erfolgs eingemauert, ohne allzu viel Neid auf sich zu ziehen. Ihre Trainingstipps waren früher auf YouTube von dreißigtausend Abonnentinnen und Abonnenten verfolgt worden, und diese Zahl war noch gestiegen, nachdem sie im vergangenen Jahr die Welt an einer imponierenden Wiederherstellung eines über fünf Jahrzehnte alten, ruinierten Körpers hatte teilhaben lassen.

Selma Falck war selten ganz sie selbst.

Es war ihr erfolgreich gelungen, so zu leben. Selma beherrschte keine andere Kunst. Für andere Menschen verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Ihr Gedächtnis war beneidenswert und ermöglichte es ihr, den meisten Mitmenschen mit empathischen Fragen nach ihrem Leben, ihrer Gesundheit und den Enkelkindern zu begegnen.

Vor einem Jahr hätte sie die Situation ausgenutzt, in der sie sich jetzt befand. Sie hätte sich im Krankenbett interviewen lassen, wenn die Ärzte es gestattet hätten, wie sie es im Vorjahr getan hatte. Die Fotografen hätten ihre Fotos gemacht, heute wie damals. Ihr Instagram-Konto hätte sich eifrig gefüllt mit Bildern aus dem Krankenhaus, begleitet von Hashtags wie #angeschossen und #ermittlerinnenleben.

Stattdessen hatte sie dieses Mal alle Kontaktversuche abgewiesen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Einar überrascht und setzte den Kater auf den Boden.

»Allerdings nicht. Ich wäre fast ermordet worden. Und ich habe keine Ahnung, von wem. Das lässt meine Stimmung irgendwie nicht unbeeinflusst.«

»Wie gesagt, das solltest du der Polizei überlassen. Außerdem kann es doch sein, dass der Typ es auf deine Freundin abgesehen hatte. Die ist schließlich krepiert.«

Selma gab keine Antwort. Langsam ließ sie sich im Sessel zurücksinken, bis sie wie ein trotziges Kind mit lang ausgestreckten Beinen dasaß.

»Doch, das schon. Ich wünschte, es wäre so. Ich will, dass es so ist. Aber ich glaube es noch immer nicht.«

Sie nickte zu dem Ordner hinüber und setzte sich aufrecht hin.

»Sieh das durch, bitte. Ganz oben liegen die Fälle, die ich dann wirklich übernommen habe. Die kannst du kurz überfliegen. Da ich alle gelöst habe, lieben mich die Mandanten. Ganz unten im Stapel findest du eine kurz gefasste Übersicht darüber, wer sich in den letzten beiden Jahren bei mir gemeldet hat, ohne dass ich ihnen helfen konnte oder wollte.«

»Wonach suche ich?«

»Ob es jemanden gibt, der mehr Grund hat, mir übel zu wollen, als andere. Ich selbst kann niemanden finden. Aber es kann ein Muster geben, das ich bisher nicht entdeckt habe. Fühlst du dich gut in Form?«

»Gut in Form, ja. Hab mich seit Ewigkeiten nicht besser gefühlt. Ich gehe nachts mit Miez an die Luft, um so wenig Leuten wie möglich zu begegnen. Der Chinese aus dem Kiosk …«

»Der kommt aus Vietnam.«

»Ist doch egal. Der liefert Käseflips an die Wohnungstür. Jeden Dienstag und Freitag. Und im Meny da drüben …«, er winkte träge zum Fenster hinüber, ungefähr in der richtigen Richtung zu dem Supermarkt gegenüber, »… da haben sie jetzt bis halb elf abends offen. Ganz kurz vor Ladenschluss ist da fast nie jemand. Und ich brauche nur alle zwei Wochen einzukaufen. Ich fühl mich ganz einfach pudelwohl.«

Selma zögerte. Einar Falsen durfte nicht jederzeit Zugang zum Internet haben. Im vergangenen Jahr hatte sie einen Laptop gekauft, hatte ihn gut eingehüllt in die Lüge, dass er strahlenfrei sei, und hatte Einar beigebracht, das Gerät zu benutzen. Das war richtig schlecht ausgegangen. Überall im Netz hatte er noch für seine wirrsten Zwangsvorstellungen Bestätigung gefunden, und das hatte ihm einen so harten Schlag versetzt, dass es ihn fast für immer umgeworfen hätte.

In den guten Phasen dagegen konnte sie ihn das Gerät benutzen lassen. Das war zweimal vorgekommen und ein richtiger Erfolg gewesen. Schon bei seiner ersten Begegnung mit dem großen Weltgewebe hatte er sich als Talent erwiesen, wenn es um Suche und Datensammlungen ging. Wenn er diszipliniert genug war, um sich nicht auf Seiten zu verirren, die er nicht ertragen konnte, fand er noch dazu große Freude an harmlosen Spielen, die Selma für ihn kaufte.

»Du kriegst das Gerät«, sagte sie und zog den Laptop aus der Schultertasche.

Einar strahlte.

»Darf ich ein neues HOG runterladen?«

»HOG

»Hidden objects game. Macht richtig Spaß.«

»Na gut. Eins. Nur eins.«

Der Laptop war noch immer von etwas beschützt, das aus mit Spray lackiertem Plastik bestand und das Einar für ein magnetfeldeliminierendes Cover hielt. Selma schaltete das Gerät ein.

»Lass mal sehen«, sagte Einar eifrig und winkte sie zu sich auf das Sofa. »Ich will das Spiel selbst aussuchen.«

Sicherheitshalber hob er den Helm vom Boden auf. Es war ein alter Eishockeyhelm, den Selma mit Alufolie überzogen und mit silberfarbenem Klebeband versehen hatte. Einar fummelte am Kinnriemen herum und setzte sich besser zurecht.

»Spiel erst, wenn du mindestens drei Stunden gearbeitet hast«, mahnte Selma, während sie Big Fish , die Seite mit den Onlinespielen, öffnete und zusah, wie Einar sich durch die vielen Angebote scrollte. »Und du darfst nur eine Stunde spielen.«

»Zwei«, erklärte Einar. »Und du musst mir noch sagen, was ich herausfinden soll.«

Selma fing an, das Spiel, auf das er gezeigt hatte, herunterzuladen.

»Ich will so viel wie möglich über all diese Menschen wissen«, sagte sie und nickte zu dem Stapel hinüber. »Viel liegt schon dort. Das musst du nur systematisieren. Und danach finde alles heraus, was du nur kannst. Ehe, Interessen, Freunde. Sieh nach, ob einige von denen gemeinsame Freunde haben. Arbeit, Ferienhaus, Reisen. Soziale Medien sind in der Regel die beste Quelle, aber …«

»Das habe ich inzwischen begriffen.«

»Dann geh ich jetzt mal. Funktioniert dein Drucker? Hast du Papier, um auszudrucken? Hast du genug Tinte in der Patrone?«

»Ja. Ja. Ja. Mach’s gut.«

Er schaute nicht einmal vom Bildschirm auf. Selmas Unterlagen hatte er nicht angerührt.

»Du musst mir noch eins sagen, ehe du gehst«, erklärte er.

Die Geräusche des Laptops verrieten, dass er schon spielte.

»Zuerst die Arbeit«, sagte Selma streng.

Nun sah er auf.

»Wenn die Polizei den Zwischenfall in Løkka doch schon als möglichen Mordversuch an dir untersucht, warum willst du denen nicht von dem Stalker erzählen, der auf magische Weise deine Wohnung aufsucht und kleine Grüße hinterlässt, ohne den Alarm auszulösen und ohne einzubrechen?«

Er sprach »Stalker« aus, wie es geschrieben wird.

»Stoooker«, korrigierte Selma und ging weiter. »Das wird Stoooker ausgesprochen.«

»Hör doch auf und antworte lieber.«

»Weil«, sagte sie und drehte sich langsam zu ihm um.

Es wurde still.

»Weil?«, fragte Einar.

»Weil es Anine nicht gefallen würde, wenn ich auf offener Straße angeschossen würde. Ich bin zwar davon überzeugt, dass ich das eigentliche Ziel war, aber ich hoffe wirklich, dass sich die Polizei in Lindas Leben festbeißt. Dann ist es immerhin möglich, dass Anine auf mich hört und ich Sjalg bei mir haben darf. Bei mir zu Hause jedenfalls. Wenn sie dagegen erfährt, dass ich bis in meine eigene Wohnung verfolgt werde, dann kannst du sicher sein, dass ich den Jungen erst wiedersehen darf, wenn das alles hier vorüber ist. Und das kann dauern.«

»Sjalg«, wiederholte Einar und grinste zahnlos. »Dass Selma Falck sich endlich richtig verliebt hat, was für eine Vorstellung!«

Selma verließ ihn, ohne noch mehr zu sagen. Die Unruhe, die sie immer weitertrieb, sie in Gang hielt, willkommen und lebensspendend, fühlte sich jetzt anders an.

Was sie wirklich empfand, war Angst.