Lars Winther konnte um nichts in der Welt begreifen, womit Jonathan Herse sich da beschäftigt hatte.
Er hatte vier Stunden gebraucht, um alle von dem toten Kollegen hinterlassenen Papiere durchzugehen. Schon nach einer halben Stunde hatte er die Chefredakteurin aufgesucht und abermals um Schonung gebeten. Aber das kam nicht infrage. Sie hatte, wenn auch mit einem Lächeln, erklärt, er dürfe erst das Handtuch werfen, wenn er einen Bericht geschrieben hätte, aus dem hervorging, dass er wirklich einen redlichen Versuch unternommen hatte, durch das Material durchzusteigen.
Davon war er immer noch weit entfernt. In der Hauptsache war hier die Rede von drei Sorten von Dokumenten. Etwa die Hälfte stammte aus verschiedenen Fällen des Jugendamtes. Insgesamt sechs, meinte er jetzt feststellen zu können. Es handelte sich um Berichte des Jugendamtes selbst, um Beschlüsse des Bezirksausschusses für soziale Angelegenheiten, um Erklärungen von Lehrern und Kindergartenangestellten und um Beobachtungen, die in den Wohnungen der betroffenen Familien angestellt worden waren. Lars musste zugeben, dass er von diesem Bezirksausschuss nur vage Vorstellungen hatte, doch einen Google-Treffer später war er klüger. Dieses staatliche, gerichtsähnliche Verwaltungsorgan traf seine Entscheidungen unter anderem aufgrund der Gesetze zum Kindeswohl. Der Ausschuss konnte anordnen, dass Kinder, deren Eltern sie grob vernachlässigt hatten, außerhalb der Familie untergebracht wurden, in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie. Er legte fest, wie oft und unter welchen Umständen die Kinder besucht werden durften, und konnte Hilfsmaßnahmen, Entlastungen oder Behandlungen anordnen. Seine Entscheidungen konnten von den eigentlichen Gerichten überprüft werden, und in zwei Fällen lagen auch rechtskräftige Urteile vor. In keinem davon war die Entscheidung des Bezirksausschusses aufgehoben worden.
Sechs Familien. Sechs tragische Fälle von inkompetenten Eltern. Allen waren ihre Kinder weggenommen worden. Mit sehr gutem Grund, so wie Lars das sah. In zwei Fällen ging es vor allem um den Drogenkonsum der Eltern, in einem um das, was ihm wie mehr oder weniger psychische Entwicklungsstörungen bei allen Beteiligten erschien. Zwei Fälle waren eher typisch, bildete Lars sich ein; alleinstehende Mütter, die ihrer Situation einfach nicht gewachsen waren. Die keine Kraft mehr hatten. Die ihren Kindern Cola zum Frühstück und Eis mit Schokoladensoße zum Mittagessen vorsetzten und die ihre regelmäßigen Kontrolltermine beim Gesundheitsamt nicht einmal absagten. Die den Kindern keine Pausenbrote mit in die Schule gaben und sich nicht davon überzeugten, dass die Kinder warm genug angezogen waren, ehe sie sie bei zehn Grad unter null und Schneegestöber losschickten. Beim letzten Fall ging es um eine sechzehn Jahre alte Somalierin, die schwanger geworden war, während sie bei einer Pflegefamilie untergebracht war. Sie war schon häufiger negativ aufgefallen, ging schon längst nicht mehr zur Schule und konnte sich nicht einmal um sich selbst kümmern. Von einem Baby ganz zu schweigen. Das Kind war zur Adoption freigegeben worden.
Lars hatte beim Lesen eine Art Sympathie für die Erwachsenen verspürt, die dem Leben ganz einfach nicht gewachsen waren. Es war ihm zu unbehaglich, an die Kinder zu denken. Er hatte selbst drei, die ihn auf Trab hielten. Eltern kleiner Kinder zu sein, war bisweilen hart, aber er und seine Frau hätten es trotzdem nicht fertiggebracht, die drei ohne Zähneputzen ins Bett zu schicken. Eins der Kinder in Jonathans Fallsammlung hatte mit fünf Jahren dermaßen verfaulte Milchzähne gehabt, dass alle gezogen werden mussten.
Wirklich traurig, aber doch kein Thema für eine journalistische Recherche. Jedenfalls nicht für Lars Winther.
Er legte zum zweiten Mal alle Unterlagen über die konkreten Fälle beiseite.
Der Stapel, der nun übrig blieb, konnte ungefähr in der Mitte geteilt werden. Die eine Hälfe bestand aus Ausdrucken aus dem Netz, die meisten aus seriösen norwegischen Medien. Aftenavisen selbst, NRK , DG und Dagbladet , darunter auch zwei Regionalzeitungen. Einige Artikel waren ziemlich alt. Der älteste stammte aus dem Jahr 1997 und war offenbar eine Fotokopie. In allen ging es um Jugendschutz, in einigen um konkrete Fälle, andere waren eher allgemein gehalten.
Der Rest bestand aus Artikeln und Unterlagen in anderen Sprachen. Einige waren auf Englisch. Sie alle stellten die norwegischen Jugendämter als die pure Terrororganisation dar. Manche waren in einer Sprache verfasst, die Lars für Polnisch hielt. Zwei waren vielleicht aus ungarischen oder tschechischen Zeitungen, er war sich da nicht sicher, ziemlich viele waren auf Russisch. Die waren leichter zu identifizieren, aufgrund einzelner Wörter, die er erkannte, und der kyrillischen Buchstaben, aber auch sie waren für ihn völlig unverständlich.
Lars starrte seine drei Papierstapel trostlos an.
Sie sagten ihm nur, dass für einige das Leben härter war als für andere. Wie die Verschwörungstheorietrolle die Sache auch drehen und wenden mochten, es war eine Tatsache, dass einige Menschen es einfach nicht schafften, sich um ihre Kinder zu kümmern. Der norwegische Jugendschutz funktionierte einigermaßen gut, auch wenn Vertreter einzelner Länder den rabiaten norwegischen Kritikern zustimmten, wenn diese die Jugendämter mit der Gestapo verglichen.
Was einfach nur Unfug war.
Aus diesem Material würde sich keine Reportage machen lassen. Jedenfalls nicht, soweit Lars Winther das erkennen konnte. Er verspürte eine Art Erleichterung. Er würde zehn Minuten brauchen, um eine Zusammenfassung dieser Unterlagen zu schreiben. Danach würde er der Chefredakteurin den Ordner auf den Schreibtisch knallen und sich einem Fall in Sachen Kindeswohlgefährdung erst wieder nähern, wenn er dazu gezwungen würde.
Ein Bogen war zu Boden gefallen. Er schob seinen Schreibtischsessel zurück und hob ihn auf. Es war der Ausdruck eines Artikels aus seiner eigenen Zeitung. Generalstaatsanwalt tobt – wirft EGMR undichte Stellen in umstrittenem Fall von Kindeswohlgefährdung vor , lautete die Überschrift. Lars konnte sich vage erinnern, den Artikel vor langer Zeit gesehen zu haben. Gelesen hatte er ihn damals nicht.
EGMR . Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Lars wusste, dass norwegische Fälle von Kindeswohlgefährdung dort sozusagen Schlange standen, was die norwegische Regierung jedoch mit Fassung zu tragen schien. Gerade dieser Fall war längst zu Ende verhandelt, das Urteil jedoch ließ auf sich warten. Dennoch hatte ein Juraprofessor der Universität Oslo munter getwittert, das Urteil werde für Norwegen ungeheuer peinlich werden. Er hatte offenbar Quellen, die ihn gar nicht hätten informieren dürfen.
Lars sah in der rechten Ecke des Ausdrucks das Datum: 4 . September.
Der Artikel war erst fünf Tage alt. Das konnte nicht stimmen. Rasch begann Lars, die übrigen Artikel in diesem Stapel durchzublättern. Der neueste stammte aus dem Juli dieses Jahres. Er griff nach dem Ordner, in dem die Unterlagen gesteckt hatten. Der grüne Plastikordner war an den Ecken verschlissen. Das Gummi, mit dem er verschlossen wurde, ging an der einen Seite gerade ab.
Jonathan war am 17 . August bei einem Unfall ums Leben gekommen. Zweieinhalb Wochen vor dem 4 . September.
Bis zu seinem Tod hatte er seinem Fall, oder dem Nicht-Fall, wofür Lars ihn hielt, offenbar viel Zeit gewidmet. Nach seinem Tod hatte sich jemand die Mühe gemacht, einen einzelnen Artikel herauszusuchen und auszudrucken, um ihn danach an einer Stelle, an die er logischerweise gehörte, in den Ordner zu legen.
Einen uninteressanten Artikel über den erbosten Generalstaatsanwalt.
Seltsam.
Das konnte natürlich die Chefredakteurin selbst gewesen sein.
Nein. Sie hatte gesagt, sie habe nicht in den Ordner geschaut. Dass sie nur wichtig fand, was Jonathan ihr vor seinem plötzlichen Tod erzählt hatte.
Vielleicht hatte sie gelogen, doch Lars konnte sich auf die Schnelle keinen einzigen Grund dafür denken, warum sie das hätte tun sollen. Dann war es wahrscheinlicher, dass sie den Fall jemand anderem aus der Redaktion aufgedrückt hatte, ehe sie ihn an Lars weiterreichte. Einer Kollegin oder einem Kollegen, die dasselbe getan hatten wie Lars und vielleicht ein kleines Stück weitergekommen waren. Die einen Artikel gefunden hatten, der interessant wirkte, und diesen in den Stapel gelegt hatten. Vielleicht. Es konnte eigentlich zahllose Erklärungen geben, aber Lars konnte sich doch nicht von dem kleinen Keim der Neugier befreien, den dieses Mysterium in ihm geweckt hatte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, riss er den Speicherstick los, der mit Klebeband innen im Ordner befestigt war. Er steckte ihn in einen USB -Anschluss an seinem Rechner. Aus irgendeinem Grund überlegte er sich die Sache dann anders. Er zog ihn wieder heraus, nahm sein eigenes MacBook aus einer Schublade und loggte sich ein. Sekunden später war er im Finder.
No name stand auf dem Stick. Jonathan hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, dem Vorgang einen Namen zu geben. Lars versuchte, die Ordner zu öffnen. Das war möglich, half ihm aber nicht weiter. Es gab zwei Dokumente in dieser Speichereinheit. Sie hießen A.docx und Archiv.zip. Seltsame Bezeichnungen. Er speicherte niemals etwas, ohne sich einen Namen zu überlegen, der auf den Inhalt verwies. Nur auf diese Weise war der Inhalt später leicht zu finden.
Die anonymen Dateien ließen sich zudem nur mit einem Passwort öffnen.
Es hätte keinen Sinn gehabt, es mit Raten zu versuchen. Lars machte nicht einmal einen Versuch. Er stand auf und sah, dass die Chefredakteurin gerade auf dem Weg in ihr Büro war.
»Elisabeth!«, rief er im Aufstehen.
Mehrere der Anwesenden starrten gereizt zu ihm herüber. Er hob bedauernd die Hände. Die Chefredakteurin hatte ihn rufen hören und kam mit energischen kurzen Schritten auf ihn zu.
»Ja?«, fragte sie, als sie sich näherte, offenbar ebenso gereizt wie die anderen.
»Dieses Material von Jonathan«, sagte Lars und nickte zu dem Ordner hinüber. »Hast du da mal einen Blick drauf geworfen?«
»Nein. Das habe ich dir doch gesagt. Ich will, dass jemand sich die Sache genauer ansieht, weil Jonathan ungeheuer aufgebracht wirkte, als er zwei Tage vor seinem Tod bei mir war. Fast gestresst. Er hat sich reichlich kryptisch verhalten, was mich natürlich irritiert hat. Wenn man kein Vertrauen zu seiner Chefredakteurin hat, muss man sich einen anderen Job suchen. Aber trotzdem war da etwas, das …«
Lars hatte sie noch nie zögern sehen. Sie wirkte unsicher, fast besorgt, als sie einen raschen Blick auf den grünen Plastikordner warf. Als sie zwei Schritte näher gekommen war, senkte sie die Stimme: »Um ehrlich zu sein, wirkte es fast so, als ob er sich so bedeckt hielt, weil er Angst hatte.«
»Angst?«
»Nein. Doch. Nein, eigentlich nicht. Aber er … ich habe ihn ja nicht gekannt. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass das hier groß sein könnte.«
Sie schob sich mit beiden Händen die blonden Haare hinter die Ohren und hob das Kinn.
»Ich kenne euch leider alle noch nicht gut. Aber genug davon. Hast du dir die Unterlagen genauer angesehen?«
»Ja. Haben das noch andere getan? Vor mir, meine ich?«
»Wie meinst du das?«
Sie wirkte aufrichtig überrascht.
»Alsoooo«, er zögerte, »hast du zuerst versucht, diesen Fall anderen zu übertragen?«
Nun wirkte sie empört. Lars hatte keine Ahnung, ob das ehrlich war.
»Nein, warum hätte ich das tun sollen?«, fragte sie. »Ich habe den Ordner am Tag nach seinem Tod aus Jonathans Schreibtisch geholt.«
»Also am 18 . August?«
»Äh … ja. Doch, da muss es gewesen sein. Am Morgen, das weiß ich noch, ich war am Sonntag in der Redaktion, um alles zu erledigen, was im Zusammenhang mit seinem tragischen Hinscheiden erledigt werden musste.«
Dafür, dass sie noch keine vierzig war, drückte sie sich ziemlich altertümlich aus.
»Wo hast du den Ordner hingelegt?«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil …«
»In einen Schrank in meinem Büro.«
»Hast du abgeschlossen? Den Schrank, meine ich.«
Ihre Irritation wurde jetzt überdeutlich, sie sprach noch langsamer und betonter als sonst.
»Nein. Ich schließe mein Büro ab, wenn ich gehe, aber nicht meine Schränke. Worauf willst du eigentlich hinaus?«
Lars lächelte so herzlich, wie er nur konnte.
»Auf gar nichts«, sagte er und setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl. »Vergiss es einfach. Du bekommst morgen irgendwann eine Zusammenfassung von mir. Ich glaube eigentlich nicht, dass hier etwas zu holen ist, aber das musst du selbst beurteilen.«
Sie schien noch einmal zu zögern, dann drehte sie sich abrupt auf ihren vernünftigen Absätzen um und verschwand.
Lars schaute ihr hinterher, bis sie in ihrem Büro war. Danach ließ er seinen Rechner den Stick wieder ausspucken und schob ihn tief in seine eigene Hosentasche.
Vielleicht würde er Jonathans Fall doch nicht aufgeben. Nicht sofort jedenfalls. Es wurde Zeit für ein Gespräch mit Selma Falck.