»Ich brauche Hilfe.«
Das sagten sie wie aus einem Munde. Lars Winther prustete los. Er umarmte Selma kurz und trat ein, als sie die Tür sperrangelweit öffnete. Unter dem Arm hatte er einen dicken Ordner. Den legte er auf die Kommode in der Diele, streifte seine Allwetterjacke ab und ließ seinen Fahrradhelm auf den Boden fallen.
»Die Schuhe«, sagte Selma missbilligend und zeigte darauf. »Hast du beim Birkebeinerrennen mitgemacht oder was?«
»Es regnet«, sagte er kurz, streifte die Schuhe ab, packte den Ordner und ging ins Wohnzimmer.
Am Esstisch zog er einen Stuhl heran und setzte sich.
»Ich liebe diese Wohnung«, murmelte er. »Wenn ich mich scheiden lasse, leg ich mir so eine zu.«
»Du hast weder Geld noch Grund genug, dich scheiden zu lassen«, sagte Selma und holte zwei Pepsi Max aus dem Kühlschrank. »Und eigentlich auch keine Lust, glaube ich.«
Er murmelte etwas Unverständliches und öffnete den Ordner.
»Nehmen wir erst mein Problem?«
Selma setzte sich wortlos neben ihn. Sie öffnete ihre Flasche. Ehe er, ohne Aufforderung ihrerseits, seine Erklärungen über den Inhalt von Jonathan Herses Ordner beendet hatte, war ihre eigene Flasche fast leer. Lars hatte seine noch nicht angerührt.
»Ich versteh nur Bahnhof«, sagte Selma. »Außer, dass viele wütend auf die norwegischen Jugendämter waren, hier bei uns und auch anderswo. Vor allem in Osteuropa. Aber da verprügeln sie ihre Kinder doch.«
»Na ja, das tun sie wohl nicht …«
»Jedenfalls haben sie eine ganz andere Auffassung von Elternsein als wir. Das hier solltest du deiner Chefredakteurin so schnell du kannst wieder auf den Schreibtisch knallen. Ich kann hier keinen Fall erkennen, aber zum Ausgleich sehe ich unglaublich viel Ärger für dich, wenn du dieses Thema auch nur antippst.«
Sie trank den letzten Schluck und drehte den Verschluss auf die Flasche, ehe sie sich zu der zum Wohnraum hin offenen Küche umdrehte und das Leergut mit einem eleganten Bogen Richtung Spülbecken warf. Die Flasche traf.
»Lass die Finger davon«, sagte sie. »Ich habe ab und zu solche Leute auf der Matte. Hatte ich jedenfalls früher, als ich noch Anwältin war. Die jammern und greinen und halten sich für die Opfer von entsetzlichen Übergriffen. Ich sage ach und ja und schicke sie dann mit einem lauten Nein wieder weg, sowie ich es anbringen kann. Das Problem bei den norwegischen Jugendämtern ist, dass sie nicht häufiger eingreifen. Dass sie zu selten aktiv werden. Was ist das da, übrigens?«
Sie zeigte auf den Speicherstick, den Lars aus der Tasche gefischt und auf den Tisch gelegt hatte.
»Das siehst du doch«, sagte Lars.
»Was enthält der?«
»Weiß nicht so recht. Der war in den Ordner geklebt. Er enthält zwei Dateien, die beide passwortgeschützt sind.«
»Du glaubst, der ist verschlüsselt? Der Stick, meine ich?«
»Äh … ja, nein … ich kann die Übersicht öffnen, aber jede Datei hat ein eigenes Passwort.«
»Also nicht verschlüsselt«, sagte Selma und holte ihren Laptop. »Das kriegen wir dann wohl hin.«
Lars saß schweigend da und sah zu, wie sie den Speicherstick in den USB -Anschluss schob. Ihre Finger hackten blitzschnell Kommandos in die Tastatur und öffneten ein Programm, das ihm offenbar unbekannt war. Selma ertappte sich bei einem Lächeln. Sekunden später tauchte mitten auf dem Bildschirm ein Stundenglas auf.
»Es kann eine Weile dauern«, sagte sie und drehte sich halbwegs zu ihm hin. »Und jetzt ich.«
»Was ist das denn da?«, fragte Lars und zeigte auf den Bildschirm.
»Ein ziemlich einfaches Programm, um einen ziemlich einfachen Code zu knacken.«
»Wie …«
»Ich bin Privatermittlerin, Lars. Ich habe viele Bekannte auf beiden Seiten des Gesetzes. Das hier …«, sie richtete ihren Blick auf das Stundenglas, »… ist allerdings ein Programm, das man online kaufen kann. Wenn die Dateien deines Kollegen umfangreich sind, wie komplizierte Rechenprogramme, oder wenn sie besser gesichert sind, als es aussieht …«, sie hob die Hände, »… dann müssen wir eine andere Lösung finden. Aber solange wir nicht mehr wissen, können wir herausfinden, ob du mir ebenfalls helfen kannst.«
»Wobei denn?«
Selma überlegte.
»Was weißt du über Stalker?«
Lars Winther wirkte ehrlich verwirrt.
»Stalker? Du meinst solche … Verfolger?«
»Ja.«
Er ließ sich mit missbilligender Miene zurücksinken.
»Ich dachte, du wolltest mich nach etwas fragen, was mit der Schießerei zu tun hat.«
Er nickte in Richtung von Selmas Schulter.
»Das will ich auch, aber antworte erst mal. Was weißt du über Stalker?«
Endlich griff er nach seiner Pepsi-Max-Flasche und öffnete sie.
»Ian McEwan hat einen guten Roman über dieses Phänomen geschrieben«, sagte er.
»Ich lese keine Romane.«
»Solltest du vielleicht. Dieser heißt Liebeswahn. Ich kann ihn dir leihen. Es geht um einen Mann, der mit einer Frau ein Picknick macht, und …«
»Ich frage dich noch einmal«, fiel Selma ihm ins Wort. »Was weißt du über Stalker? So ganz im Ernst? Nicht in Romanen.«
»Na ja, da kann es verschiedene Erscheinungsformen geben. Verliebtheit auf Distanz zum Beispiel. Idolverehrung. Wenn das Objekt der Aufmerksamkeit berühmt ist, meine ich. Übrigens, in Liebeswahn ist es nicht …«
Selma schnappte nach Luft. Lars verstand den Wink.
»Oder Hass«, fügte er eilig hinzu. »Das ist vielleicht ebenso häufig? Ich weiß es nicht. Die Frage ist wohl auch, wie du den Begriff Stalker füllst. In den sozialen Medien kommt es nicht selten vor, dass irgendwer dich verfolgt. Ich habe mehrmals Personen erlebt, die sich überall mit ihren Lieblingsthemen einschalten, die dort rein gar nicht hingehören. Ob ich mich über die Qualität im Profifußball äußere oder über das Preisniveau in Studentenwohnheimen, oder ob ich um Vorschläge für gute Angelstellen in Nordmarka bitte, immer kann derselbe Idiot auftauchen, mit Tiraden über norwegische Einwanderungspolitik oder irgendein anderes Thema, in das er sich verbissen hat und worüber ich vor drei Jahren geschrieben habe. Und ich sage bewusst ›er‹. Es handelt sich fast immer um Männer.«
»Es gibt Ausnahmen«, sagte Selma und dachte an Fredrikke Augustsson.
»Bestimmt. Ich blockiere sie, wenn sie zu schlimm werden, und dann muss ich mich von den Freunden des Betreffenden zuspammen lassen, bis ich die auch los bin. Anstrengend. Aber das ist der Preis einer offenen Gesellschaft, nehme ich an.«
Das Letzte sagte er mit einer säuerlichen Grimasse.
»Aber warum willst du das wissen?«
Selma erhob sich. Das inzwischen vertraute physische Unbehagen machte sich in ihrem Zwerchfell bemerkbar. Sie versuchte, es unter Kontrolle zu bringen, indem sie den Rücken streckte und ruhig atmete. Die Schusswunde, von der sie sonst nicht mehr viel merkte, verursachte stechende Schmerzen. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Bilder. Fotos. Eine Skulptur auf einem eleganten Piedestal in der Ecke, ein nachdenklicher bronzener Orang-Utan, den sie vor zwanzig Jahren auf einer Thailandreise mit den Handballerinnen gekauft hatte.
Keine Bücher.
Nicht ein einziges Bücherregal. Ihre Fachliteratur war im Kellerraum aufgestapelt. Auf dem Couchtisch lagen drei riesige Prachtbände, die sie niemals aufschlug.
»Jemand verfolgt mich«, sagte sie leise.
»Irgendwer wird immer verfolgt«, sagte Lars mit leichter Ungeduld. »So ist es einfach. Wie gesagt, ich erlebe dauernd, dass …«
»Jemand bricht hier ein. Ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen. Einer, der einfach hier herumläuft und der Geheimnisse aus meiner Kindheit weiß.«
»Äh … was?«
Früher hatte Selma Falck geglaubt, sie könne nicht weinen. Über dreißig Jahre lang hatte sie nicht eine einzige Träne vergossen, in dem sicheren Wissen, dass ihre Tränenkanäle bei einer brutalen Sportverletzung beschädigt worden waren.
»W…weinst du, Selma?«
»Nein.«
Sie riss die Augen auf und starrte die Decke an.
»Aber ich habe im Grunde keine Lust, hier noch länger zu wohnen.«
»Erzähl«, sagte Lars und klopfte auf den Stuhl neben seinem.
Selma setzte sich zögernd wieder, zog ihren Stuhl aber weiter von seinem weg. Das Stundenglas auf dem Bildschirm summte und leerte sich. Sie ließ es nicht aus den Augen und fing an zu erzählen.
Sie redete sich leer. Über das Gefühl einer fremden Anwesenheit in der Wohnung. Über eine Packung KIP auf ihrem Kissen. Über Kartoffelmehlfallen vor der Wohnungstür. Sie gab vor, sein kleines Lächeln zu ignorieren. Sie erzählte von dem zwinkernden Smiley, vom Poker-Türken und der neuen Überwachungsanlage und von dermaßen angsterfüllten Nächten, dass sie ernsthaft mit dem Gedanken spielte, die Wohnung zu verkaufen.
Als sie fertig war, sah sie ihn endlich an.
Er lächelte nicht mehr. Rein gar nicht. Ein Ernst, den sie in seinem jungenhaften Gesicht bisher nur selten gesehen hatte, machte ihre Angst noch größer.
»Das darfst du dir nicht gefallen lassen«, sagte er ruhig und legte auf dem Tisch seine Hand über ihre.
Sie zog die Hand zurück.
»Du musst mit der Polizei sprechen. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen dem hier, was immer das sein mag, und dem Schuss in Løkka.«
»Das glaube ich nicht. Und die Polizei darf nichts erfahren von diesen … Einbrüchen.«
»Warum nicht?«
»Weil Anine dann durchdrehen würde. Es ist schlimm genug, dass ich angeschossen worden bin. Ich muss Zugang zu Sjalg haben. Ich muss mich um ihn kümmern dürfen.«
»Das verstehe ich gut. Meine Jungs sind anstrengend wie die Hölle, aber ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich keinen Kontakt zu ihnen haben dürfte. Du musst dich aber trotzdem an die Polizei wenden.«
»Das kommt nicht infrage. Okay? Ich gehe damit nicht zur Polizei.«
Lars seufzte fast unhörbar.
»Was soll ich denn dann sagen?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas. Etwas darüber, dass er unmöglich zurückkommen kann, jetzt, wo die Schlösser ausgetauscht worden sind. Dass ich mir das Ganze nur eingebildet habe. Ich weiß nicht, Lars. Vielleicht brauche ich einfach nur … Trost.«
Lars hielt die Flasche an den Mund und trank. Lange. Endlich stellte er sie weg, drehte den Verschluss darauf und faltete die Hände um das Etikett.
»Hast du den Abdruck fotografiert?«, fragte er.
»Ja.«
Selma griff zu ihrem Handy und hielt ihm ein Bild hin. Es war auf eine Entfernung von weniger als einem halben Meter aufgenommen worden und zeigte einen deutlichen Fußabdruck.
»Eine Schuhspitze«, murmelte Lars. »Aber warum geht sie nach innen?«
»Wie meinst du das?«
»Die Tür ist doch da«, sagte er und zeigte darauf. »Wenn der Typ oder die Frau oder wer auch immer durch die Wohnungstür hereingekommen ist, dann würden wir doch eher den Absatz sehen. Hier sieht es eher aus, als ob der Betreffende die Wohnung verlassen will.«
Selma zog ihr Handy zu sich heran.
»Da hast du recht«, sagte sie leise. »Wenn er das Kartoffelmehl nicht sofort gesehen hat, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Und wenn er danach nicht über alles hinweggestiegen ist. Ich habe das Mehl nicht so weit ins Zimmer hinein verstreut. Und dann kann er den Abdruck später hinterlassen haben. Als er gehen wollte, oder …«
Sie sah sich das Bild genauer an. Ihr Herz drehte jetzt wieder durch. Wenn die Kardiologen in Ullevål nicht erst vor zwei Tagen erklärt hätten, dass sich dieses hämmernde Organ in einem ungewöhnlich guten Zustand befand, wäre sie abermals in Panik geraten. Ihr Hals schnürte sich auf unbehagliche Weise zusammen, als sie weitersprach, als ob ihre Halsschlagader auf doppelte Größe angeschwollen wäre und auf die Luftröhre drückte.
»Er hat den Abdruck ganz bewusst hinterlassen«, sagte sie heiser. »Natürlich. Warum hätte er den Smiley zeichnen sollen, wenn nicht, damit ich ihn entdecke?«
»Na ja«, sagte Lars. »Mir ist schon klar, dass der Smiley dir Angst machen sollte, aber der Fußabdruck wäre vermutlich eine Spur für die Polizei. Es wäre ziemlich idiotisch, den zu hinterlassen, wenn das wirklich seine Absicht war.«
»Es sei denn …«, begann Selma.
Weiter kam sie nicht.
»Es sei denn, was?«, fragte Lars.
Selma erhob sich. Für einen Moment blieb sie stehen und starrte den Bildschirm an, wo noch immer Sand in das digitale Stundenglas rieselte, ehe es sich alle zehn Sekunden umdrehte. Dann fuhr sie herum und ging zur Balkontür. Wortlos ließ sie die Finger über den Türrahmen wandern.
»Es sei denn, was?«, fragte Lars noch einmal.
»Er kennt mich«, sagte Selma leise und öffnete die Tür.
Auch Lars erhob sich. Er kam zu ihr. Selma schaute auf zu dem kleinen Kontaktsensor, der an Tür und Rahmen angebracht war und sie warnen würde, wenn die Tür geöffnet würde, während der Alarm eingeschaltet war.
»Kennt dich?«, fragte Lars. »Wie meinst du das?«
»Seine Besuche sind die pure Provokation. Die allermeisten würden zur Polizei gehen, wenn sie entdeckten, dass sich jemand Zugang zu ihrer Wohnung verschafft hat. Er weiß, dass ich das nicht tun werde.«
»Aber wer … wer zum Teufel weiß das denn, Selma? Nicht einmal ich habe das gewusst, bis du es vor ein paar Minuten erzählt hast. Wer sonst könnte auf irgendeine Weise …«
Sie erhob sich auf Zehenspitzen und schaute die Kontaktpunkte der Alarmanlage aus zusammengekniffenen Augen an. Sie waren unversehrt und glatt und sahen unberührt aus. Mit einer gewissen Mühe öffnete sie die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Lars folgte ihr. Sie schaute hinab auf den Hof.
»Wie tief ist das bis nach unten?«, fragte sie. »So ungefähr.«
Lars rechnete im Kopf.
»Neun Meter? Das hier ist der dritte Stock. Wenn du für jede Etage zwei Meter achtzig rechnest, inklusive der Fußböden, und noch etwas dazu … acht, neun Meter.«
»Und hier gibt es nichts, woran man hochklettern kann«, stellte Selma fest und musterte die glatte Betonwand.
»Ein guter Kletterer könnte wohl …« Lars unterbrach sich und legte den Kopf in den Nacken. »Wer wohnt über dir?«
Selma lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer und zeigte nach oben. »Da sind zwei Wohnungen. Jede hat ein Fenster genau über meinem Balkon. In der da …«, sie zeigte nach links, »… wohnt eine junge Familie mit einem kleinen Kind. Die andere da …«, sie zögerte kurz, »die steht zum Verkauf, glaube ich. Da hat bis vor einigen Wochen ein älterer Mann gewohnt. Oder …«
Ihr fiel ein Aushang vom Schwarzen Brett neben den Briefkästen unten im Treppenhaus ein.
»Nein. Die ist verkauft. Auch an eine kleine Familie. Bei der Besichtigung standen sie hier Schlange. Jetzt weiß ich es wieder. Vor sechs Wochen oder so. Es gab eine wilde Auktion, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Kennst du die Leute schon?«
»Nein. Ich versuche, hier im Haus auf eine Armlänge Distanz zu bleiben. Ist besser so. Aber wir sind auf Grüßfuß, die meisten von uns. Einige waren anfangs ein bisschen aufdringlich, aber das geht vorbei.«
»Wenn ich ums Verrecken in deine Wohnung einbrechen wollte, würde ich eins von zwei Dingen machen«, sagte Lars. »Entweder die Wohnungstür knacken oder mich aus einem dieser Fenster herunterlassen.«
Wieder zeigte er auf die beiden Fenster, die genau über Selmas Balkon lagen. Er hatte recht. Es wäre nicht besonders riskant, diesen Weg zu nehmen. Selma konnte sich den Hipster von Mitte zwanzig mit seinen schmalen Schultern und seinem anämischen Teint allerdings nur mit Mühe bei einem solchen Manöver vorstellen. Von seiner hochschwangeren Frau ganz zu schweigen.
Ein leises Pling ertönte im Wohnzimmer. Lars und Selma wechselten einen Blick, ehe sie mit raschen Schritten zum Esstisch zurückkehrten. Auf dem Bildschirm des Laptops war das Stundenglas verschwunden.
»Sesam, öffne dich!«
Selma setzte sich.
»Was haben wir also hier«, murmelte sie, während Lars seinen Stuhl näher zog. »A.docx ist geöffnet. Ein schnödes Word-Dokument.«
Sie schwiegen beide. Sie lasen ungefähr gleich schnell, und der Text war so kurz, dass Selma nicht zu scrollen brauchte.
»Was ist das, verdammt noch mal?«, fragte Lars.
»Weiß ich nicht«, murmelte Selma.
Die Dateien wirkten wie eine Übersicht, eine Art Register, meinte Selma, obwohl sie nicht richtig begreifen konnte, worüber. Der Liste vorangestellt war etwas, das wie Zeit- und Ortsangaben wirkte, sowie etliche Zahlen und Buchstaben, deren Bedeutung sie nicht erfassen konnte.
Sie ließ ihren Finger über die erste Zeile gleiten.
1. 02.01.19 KFM HBP Snr 1, dok 2+3, Td Archiv.zip 01.13.14
»Könnten das … Breitengrade oder so was sein?«, schlug Lars vor.
»Tja«, sagte sie. »Die Zahlen am Anfang sehen eher aus wie ein Datum. Der zweite Januar dieses Jahres. Aber KFM ? Keine Freunde mehr? «
Lars gab keine Antwort. Sein Mund stand halb offen, und er atmete rasch. Er beugte sich immer weiter zu dem Bildschirm vor, als ob die Lösung des Codes sich in den Zeichen versteckte, wenn er nur genau genug hinsähe.
»Du hast sicher recht, was das Datum betrifft«, flüsterte er fast. »Du siehst, dass jeder Zeile, die mit 1 , 2 , 3 und so weiter nummeriert ist, etwas folgt, was aussieht wie aufeinanderfolgende Daten. Die allermeisten im Januar und Februar.«
Sein Finger glitt am Bildschirm nach unten.
»Zwei sind im März. Dann ist Schluss. Aber KFM …«
»Diese Buchstabenkombination taucht in jeder Zeile auf. Abgesehen …«, sie nahm sich einen Kugelschreiber vom Tisch und benutzte ihn als Zeigestock, »… hiervon. Zeile 7 . 8 . März. Da steht statt KFM ein Fragezeichen. Und was soll HBP heißen?«
Der Kugelschreiber glitt lautlos die Zeilen hinab.
»HBP taucht in den meisten Zeilen auf. Nur nicht … hier … und hier. Da steht stattdessen AL .«
»Initialen?«
Selma deutete ein Schulterzucken an. Die Schusswunde tat fast nicht mehr weh. Es war ein befreiendes Gefühl, mit etwas ganz anderem zu ringen als mit der Frage, wie um alles in der Welt es möglich war, ihre Wohnung ungesehen und ungebeten zu betreten und zu verlassen.
»Das kann schon sein«, sagte sie, nickte und rückte ihre Brille gerade. »Die Buchstaben KFM könnten natürlich die Initialen einer Person sein, aber …« Jetzt trommelte sie gegen den Bildschirm. »Gehen wir davon aus, dass es sich bei den ersten Zahlen um ein Datum handelt. Das meiste spricht zudem dafür, dass dok Dokument bedeutet. Dok 2+3 muss mit anderen Worten auf zwei bestimmte nummerierte Dokumente hinweisen.«
Lars murmelte etwas, das sie als Zustimmung deutete.
»Hier wird auch auf ein Archiv.zip verwiesen«, sagte sie. »In jeder Zeile sogar. Eine Zip-Datei ist doch so eine komprimierte Datei, oder? Damit die Daten nicht so viel Platz einnehmen? Kann das hier also eine Art Register über den Inhalt der nächsten Datei sein?«
»Schon …«
Lars zögerte mit der Antwort. Jetzt war seine Nase nur noch fünfzehn Zentimeter vom Bildschirm entfernt.
»Aber wozu sollte das überhaupt gut sein?«
Selma gab keine Antwort.
»Könnten wir nicht dein Hackerprogramm einsetzen und die andere Datei öffnen, damit wir …«
»Snr« , fiel Selma ihm ins Wort, laut und fast triumphierend. »S-n-r. Sachnummer. Übliche Abkürzung. Sachnummer 1 . Das bedeutet es.«
Sie malte einen unsichtbaren Ring um diese Buchstaben.
Lars richtete sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch seine blonde Tolle.
»Sachnummer 1 «, wiederholte er. »Dann kann ja wohl kaum die Rede von öffentlichen Dokumenten sein.«
»Wieso nicht?«
»Hast du je Unterlagen von irgendeiner Behörde bekommen mit Registriernummern wie 1 ? Oder 2 , 3 , 4 und 5 ? Als ich zuletzt mit dem Staat zu tun hatte, hatte meine Angelegenheit die Registriernummer zehntausend und sonst was.«
Sein Finger eilte über die Zeilen. Die Einzelposten waren wirklich mit derselben Zahl gekennzeichnet wie die Zeilen. Selma befeuchtete sich die Lippen und schmatzte kurz. Sie biss in den Kugelschreiber, dann legte sie ihn energisch weg und stand auf.
»Gehen wir einen Schritt zurück«, sagte sie. »Jonathan Herse hat an etwas gearbeitet, das mit den Jugendämtern zu tun hatte, nicht wahr?«
Lars schaute verärgert vom Bildschirm auf und rang sich ein kurzes Nicken ab.
»Den Unterlagen in dem Ordner, also den physischen Papieren, die du da liegen hast, lässt sich nur schwer etwas von journalistischem Interesse entnehmen. Oder?«
Abermals ein kurzes Nicken.
»Da der Speicherstick sich bei den anderen Unterlagen befand, können wir davon ausgehen, dass sich der Inhalt darauf bezieht.«
Jetzt starrte er sie nur ausdruckslos an.
»Die Papiere sind sozusagen der Rohstoff«, sagte Selma nun. »Sie enthalten keine Geheimnisse. Der Stapel da besteht vor allem aus Zeitungsartikeln.«
»Und aus Fallunterlagen«, sagte Lars. »Die sind nicht so leicht zu bekommen.«
»Doch. Er kann sie zum Beispiel von den Klienten selbst bekommen haben. Oder von deren Anwälten. Vergiss das jetzt. Mir geht es darum, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, das alles digital zu verstecken. Aber …«, sie legte sich die Fingerspitzen an die Schläfen, »… ich hatte einen Gedanken«, sagte sie rasch. »KFM . KFM .«
Eine Herbstwespe war durch die offene Balkontür hereingekommen. Sie taumelte träge durch den Raum. Selma achtete nicht auf sie.
»Das Kinder- und Familienministerium. KFM ! Das alles hier geht doch um Jugendschutz!«
Lars sah sie an. Sein Mund öffnete sich, aber er fand keine Worte. Selma griff wieder zu dem Kugelschreiber und zeigte auf die erste Zeile.
1. 02.01.19 KFM HBP Snr 1, dok 2+3, Td Archiv.zip 01.13.14
»Die Ziffer 1 zeigt, dass das hier ganz einfach die erste Zeile ist und damit auch der erste Fall. 02 .01 .19 ist ein Datum. KFM steht für das Kinder- und Familienministerium. HBP , da wissen die Götter, was das bedeutet. Snr bedeutet Sachnummer. Dok 2+3 steht ziemlich klar für Dokumente 2 +3 , und …«, sie beugte sich noch weiter vor, »… steht da Td ?«
»Ja.«
»Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Aber danach wird auf etwas verwiesen, was sich in der nächsten Datei befindet, also der Zip-Datei, und diese letzte Zahl …«
»01 .13 .14 . Das kann jedenfalls kein Datum sein. Es gibt keine dreizehn Monate.«
»Das kann geschrieben sein wie in den USA . Also 13 . Januar 2014 .«
»Warum sollte das Datum zu Anfang der Zeile auf die norwegische Weise geschrieben sein«, begann Lars, »und dann taucht plötzlich am Ende der Zeile ein auf ausländische Weise geschriebenes auf?«
Selma hatte darauf keine Antwort.
Die Wespe hatte einen Abstecher in die Küche gemacht. Nun war sie auf dem Rückflug und irrte dermaßen benommen durch die Gegend, dass sie mit hörbarem Aufprall den Bildschirm traf. Lars versuchte, sie zu verscheuchen, als sie zur Landung auf der Tastatur ansetzte. Selma saß da wie eine Salzsäule.
»Jedes Ministerium erstellt Dokumente, die unter das Informationsfreiheitsgesetz fallen«, sagte sie endlich. »Solche, bei denen man Anspruch auf Einblick hat. Aber es gibt natürlich auch eine Reihe von Informationen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat. Da Jonathan Herse sich die Mühe gemacht hat, die so gut zu verstecken, gehe ich davon aus, dass es sich bei dem Inhalt der Zip-Datei nicht gerade um Dinge handelt, von denen man sich problemlos einen Ausdruck verschaffen kann.«
»Geheime Dokumente, meinst du?«
»Na ja, wenn nicht direkt geheime, dann doch solche, die dem Einblick der Öffentlichkeit entzogen sind. Und wenn es um Jugendschutz geht, was aller Logik nach der Fall ist, dann kann das hier ziemlich …«
»Dann setz dein Hackerprogramm endlich auf Archiv.zip an! Wenn das …«
»Es ist zu schlicht. Das Hackerprogramm, meine ich.«
»Gibt es andere solche Programme? Die mehr können, meine ich?«
»Sicher. Aber vielleicht keine legalen. Ich kann das untersuchen. Jemanden fragen.«
»Scheiße. Diese Datei hier sagt uns doch so gut wie nichts, wenn wir sie nicht mit der anderen zusammenführen können.«
»Pst.«
Wieder war Selma ein Gedanke gekommen.
Die Wespe hatte sich auf der W-Taste niedergelassen. Lars starrte sie eine Weile an, dann schnippte er sie so brutal weg, dass sie tot zu Boden fiel.
»Zip ist eine Methode, um Dateien zu komprimieren. Es hat keinen Sinn, normale geschriebene Dateien zu komprimieren. Es sei denn, es handelt sich um unglaublich viele. An sich brauchen sie nämlich wenig Platz.«
»Filme brauchen Platz«, schlug Lars vor. »Und umfangreiche Rechenprogramme.«
»Aber«, sagte Selma zerstreut, während sie abermals den Kugelschreiber über die erste Zeile der Datei gleiten ließ, »die Wahrscheinlichkeit, dass dein lieber Kollege zwischen den vielen Jugendamtsdokumenten Rechenprogramme gespeichert hat, ist doch relativ gering. Tondateien dagegen …«
Der Kugelschreiber tippte wütend gegen den Bildschirm.
»Td . Das kann für Tondatei stehen. Kann es sich ganz einfach um Tonaufnahmen handeln? Dann könnte die letzte Zahl eine Zeitangabe sein. Dass das, worum es geht, eine Stunde, 13 Minuten und 14 Sekunden weiter in der Aufnahme liegt, meine ich?«
»Tonaufnahmen? Warum hätte Jonathan sich für Tonaufnahmen aus dem Kinder- und Familienministerium interessieren sollen? Was sollten die denn enthalten? Und … wie sollte er sich die beschafft haben?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Selma und schloss die Datei, ehe sie den Speicherstick herauszog und Lars übergab.
Er hielt den Stick unschlüssig vor sich hin.
»Wie sollen wir den denn öffnen?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber ich kenne Leute. Verlier ihn um Gottes willen nicht. Wenn Jonathan Herse wirklich Tonaufnahmen vom Familienministerium hatte, Aufnahmen, die er für so wichtig hielt, dass er sich diese ganze Mühe gemacht hat …« Sie ließ die Hand einen weiten Bogen über Laptop und Plastikordner beschreiben. Plötzlich erstarrte sie, ließ sich auf den Stuhl sinken und öffnete den Laptop wieder. Einige Sekunden darauf befand sie sich auf der Website des Ministeriums.
Lars sagte nichts, während sie sich zur Abteilung für Jugendschutz durchklickte.
»Bingo«, sagte Selma leise. »Schau her.«
Lars überflog die öffentlich zugängliche Website, ohne dass ihm etwas Besonderes aufgefallen wäre.
»Wonach soll ich Ausschau halten?«
»Der Abteilungsleiter. Sieh mal, wie der heißt.«
»Horatio Bull-Pedersen«, las Lars verwundert. »Seltsamer Vorname. Ich habe den zwar schon mal gehört, bei CSI : Miami zum Beispiel, Horatio Caine, aber bei einem Norweger?«
»Horatio Bull-Pedersen«, sagte Selma und holte abrupt Atem. »HBP ! Die Initialen aus dem Register. Kapierst du noch immer nicht? H-B-P! Kann hier also die Rede von einer Tonaufnahme mit ihm sein?«
»Von einem ganzen Haufen Aufnahmen?«, meinte Lars, wie aus allen Wolken gefallen. »Ich versteh überhaupt nichts mehr. Warum sollte …«
Selma suchte weiter auf der Website, ohne ihm zuzuhören. Zu ihrer großen Enttäuschung waren nur die Abteilungsleiter mit Fotos versehen. Rasch ging sie die Website weiter durch.
»Bingo«, flüsterte sie wieder. »Führende Beraterin Alvhilde Leonardsen. Direkt Horatio Bull-Pedersen unterstellt. Die AL aus den Codes.«
Sie gab den Namen ins Google-Suchfeld ein und klickte auf »Bilder«.
»Keine große Auswahl«, sagte sie, fast zu sich selbst.
Sie klickte ein Foto der Führenden Beraterin an, das 2018 während der Holmenkollstafette aufgenommen worden war. Eine kleine, zierliche und adrett aussehende Frau stand zusammen mit jubelnden Kollegen. Sie waren auf dem zwölften Platz in der Kategorie Mix-Teams mit Mehrzahl Frauen gelandet und hatten die Generalstaatsanwaltschaft um siebzehn Sekunden geschlagen. Auf dem Bild waren nur vier Personen zu sehen, Alvhilde Leonardsen und vier schweißnasse Männer, die anderen Frauen waren also offenbar nach Hause gegangen.
»Die ist also ziemlich in Form«, sagte Lars. »Das ist doch gut zu wissen.«
»Wir müssen die Datei öffnen«, sagte Selma, ohne auf seine Spitze zu achten. »Wenn wir die Tatsache bedenken, dass Jonathan ziemlich besorgt war und dass er diese Dateien so gut versteckt hatte, dann kann das hier …« Sie verstummte.
Lars blies die Wangen auf und legte die Hände zu einem Ball zusammen.
»Ich würde mich nicht zu früh freuen«, sagte Selma trocken. »Ich verstehe ja, dass du auf eine richtig saftige Story hoffst. Aber …«
Sie schaute zu ihm hinüber und lächelte, ehe sie hinzufügte: »… es gibt Grenzen dafür, wie groß die Skandale sind, die man in so einem Ministerium anrichten kann.«
»Buuuummmm«, sagte Lars und ließ seine Hände explodieren wie eine Bombe in Zeitlupe.