Donnerstag, 12 . September

Der Fund

Wie die Abende wurden auch die Morgenstunden immer dunkler. Das gefiel der alten Frau. Sie fühlte sich wohl, wenn sie mit Bella die erste Morgenrunde drehen konnte, ehe alle anderen auf den Beinen waren. In der hellen Jahreszeit war in dem viel besuchten Teil von Marka gleich im Norden von Korsvoll immer viel Betrieb. Die Gegend konnte fast als Park durchgehen, es wimmelte dort immer von Kindern und Spaziergängern, Hunden und Joggern.

Aber sie alle mochten Dunkelheit und Dämmerung nicht so gern wie die alte Frau.

Sie war fast achtzig, aber ungeheuer gut in Form. So versuchte sie jedenfalls zu erscheinen. Die Runden mit Bella hielten sie fit, und dreimal pro Tag ging sie von Grinda aus in einem großen Kreis, der sich ab und zu bis zum Sognsvann hinzog.

Bella kam ebenfalls in die Jahre. Zu Weihnachten würde sie zwölf, wenn sie so lange lebte. Der Tierarzt war beim letzten Besuch begeistert von ihr gewesen und hatte erklärt, die Hündin könne durchaus noch ein oder zwei Jahre haben. Auch wenn Sicht und Gehör sich verschlechtert hatten und der Geruchssinn sicher auch nicht mehr so war wie früher, war der kleine Pudel doch gesund und hatte ein gutes Herz. In jeder Hinsicht, hatte seine Besitzerin erklärt. Bella war der liebste Hund der Welt.

Als die Frau und der grau-schwarze Hund nur noch wenige Hundert Meter von den ersten Häusern entfernt waren, konnte sie es nicht mehr aushalten. Wenn sie aus dem Wald kamen, würde sie noch immer sieben Minuten bis zu dem kleinen roten Haus gehen müssen, das ihr Mann Ende der Sechzigerjahre mit seinen eigenen Händen gebaut hatte. Sie hatte ihre Blase wie immer geleert, ehe sie losgegangen war. Die zusätzliche Kaffeetasse gegen fünf tat trotzdem ihre Wirkung. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde alles in die Hose gehen.

So war es eben, wenn man alt wurde. Der Körper war nicht mehr so wie früher. Die Knie konnten das Hocken nicht ertragen, das wusste sie aus Erfahrung, und deshalb bog sie von dem breiten Weg ab, den sie eben betreten hatte. Langsam schleppte sie sich zu einem umgestürzten Baum, der, wie sie wusste, nur vierzig bis fünfzig Meter weit entfernt war. Sie geriet schließlich nicht zum ersten Mal auf ihrer Runde in eine solche Notlage, damit kannte sie sich aus. Wenn sie sich auf den Baumstamm setzte, wie über eine improvisierte Latrine, mit der Hose um die Knöchel, würde das hervorragend gehen.

Mehrere Male wäre sie fast gefallen. Ihr Gleichgewichtssinn war auch nicht mehr so wie früher, das musste sie zugeben, und sie musste sich an Ästen und Büschen festhalten, als sie durch das unebene Gelände lief. Bella lief dicht hinter ihr, sie sprang nicht vor ihr herum wie in jüngeren Tagen.

Ein Kind hing an einem Baum.

Die Frau blieb stehen. Sie blinzelte einige Male. Sagte nichts. Bella stand ruhig hinter ihr, müde und hungrig in ihrer eigenen tauben Welt.

Das alte Mütterchen, wie ihr Mann sie schon genannt hatte, als sie gerade vierzig geworden war, war nicht von gestern. Sie ging nicht weiter. Das Kind hing an einem Seil von einer hohen, geraden Birke. Es war ein Mädchen, da war sich die Frau sicher, in roten Turnschuhen und Jeans. Ihre Haare waren blond, mit Strähnen, die ihr jedenfalls nicht die Natur geschenkt hatte. Einen großen Busen hatte das Kind ebenfalls, und das war so seltsam, dass die Frau nun doch noch zwei Schritte näher rangehen musste.

Es war kein Kind. Es war eine Zwergin. Oder eine Kleinwüchsige, so hieß das wohl gerade. Die Frau konnte nicht begreifen, warum die vielen Wörter, die man generationenlang verwendet hatte, nun nicht mehr zulässig waren. »Neger« und »mongoloid« und »Zwerg« waren doch brauchbare, beschreibende Wörter, die sie in Gedanken noch immer benutzte. Es lag kein böser Wille darin. Aber die Zeiten änderten sich, da konnte man nichts machen.

Blödsinnig war es aber trotzdem.

Eine Kleinwüchsige hing von einem Ast.

Und nicht irgendeine Kleinwüchsige, das sah sie, als der zaghafte Morgenwind, der nun durch den Wald wehte, die Leiche ein wenig drehte. Wer hier zwischen den herbstgelben Bäumen baumelte, war Kajsa Breien. Kajsa Marie Breien, Richterin beim Obersten Gericht, neunundvierzig Jahre alt und die einzige Angehörige dieses ehrwürdigen Gremiums, die die meisten Menschen in Norwegen sofort erkennen würden.

Sie war hundertdreiundvierzig Zentimeter groß, hatte die alte Frau gelesen.

Kajsa Breien gehörte zu den besten juristischen Fachkräften im Land. Sie war mit dem Dekan der Juristischen Fakultät verheiratet und hatte fünf Adoptivkinder. Im Sommer segelte sie gern und machte Bergwanderungen. Im Winter badete sie drei Mal pro Woche von dem Steg ihres Elternhauses auf Bygdøy aus im vereisten Wasser. Das hatte sie bei guter Gesundheit gehalten und würde ihr ein langes Leben sichern, wie sie in den Interviews erzählt hatte, die die alte Frau gelesen hatte.

Das Eiswasser hat ihr jetzt aber überhaupt nicht geholfen, dachte sie.

Bella stand noch immer wie eine Salzsäule hinter ihr. Es konnte fast aussehen, als ob sie im Stehen eingeschlafen wäre. Die Frau öffnete den Reißverschluss der Tasche in ihrer robusten Wanderjacke. Das Telefon war von der Marke Doro. Ein Omatelefon, wie die Enkelkinder es lachend genannt hatten, als sie es ihr im vorigen Jahr zu Weihnachten schenkten. Es war rot und schlicht und hatte große, deutliche Ziffern. Sie zog ihre Sporthandschuhe aus, wählte 112 und hielt sich das Telefon ans Ohr.

»Mein Name ist Anna Knutsen«, sagte sie zu dem Mann, der sich gleich nach dem ersten Klingeln meldete. »Ich habe eine tote Zwergin gefunden.«