Der Handball

Es dauerte einige Sekunden, bis Selma Falck begriff, wo sie war.

Das Bett kam ihr fremd vor. Panische Angst machte sie hellwach, ehe ihr wieder einfiel, dass sie sich in einem Hotel einquartiert hatte. Sie hatte sich ausgerechnet für Storo entschieden. Noch vor einem Jahr war dieser Stadtteil eine abweisende, hässliche und willkürliche Gebäudemasse um ein Einkaufszentrum herum gewesen. Jetzt war daraus eine abweisende, hässliche und genau geplante Wohnmaschine um dasselbe Zentrum herum geworden, in dessen Mitte ein Thon-Hotel gepflanzt worden war.

Selma war eigentlich zu einem lange geplanten Essen mit Bekannten unterwegs gewesen. Der Abend war auch gut gelaufen, und das Treffen war ein willkommener Vorwand gewesen, nicht allein zu Hause zu sein. Als sie sich aber ihrem Wohnblock in Sagene näherte, wurden ihre Beine ganz von selbst langsamer. Bei der Arendalsgate, nur ein Dutzend Meter von zu Hause entfernt, bog sie nach Osten ab, ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben. Sie ging in Richtung Akerselv und folgte dem Fluss etwa einen Kilometer nach Norden. Es war noch früh genug, um in eine H&M-Filiale zu gehen und Toilettenartikel und saubere Unterwäsche zu erstehen.

Sie hatte unruhig geschlafen, und um sechs hatte es keinen Sinn mehr gehabt, noch weitere Versuche zu machen. Für das Frühstück war sie zu früh, aber das spielte keine Rolle. Als die Dämmerung einsetzte, wollte sie nach Hause. Es war ungewohnt für sie, dieselbe Kleidung anzuziehen wie am Vortag, und sie brachte es nicht einmal über sich, zu duschen. Das konnte sie zu Hause machen, die Duschtür war endlich repariert worden. Der neue Billigslip landete unbenutzt im Papierkorb. Sie hatte das Zimmer beim Einchecken bezahlt, und der Rezeptionist schaute nur träge von einem iPad auf und nickte kurz, als sie die Schlüsselkarte auf den Tresen warf und das Hotel verließ.

Inzwischen war es sieben, und sie stand vor ihrer eigenen Wohnungstür. Die Spuren, die der dilettantische Schlossaustausch durch den Poker-Türken hinterlassen hatte, waren so beängstigend, dass sie beschloss, etwas zu unternehmen, ehe eine Klage der Hausverwaltung käme. Sie schaffte es, sich so intensiv auf die hässlichen Kratzer zu konzentrieren, dass sie die Angst davor, die Wohnung zu betreten, fast verdrängen konnte.

Aber eben nur fast.

Etwas schnellerer Puls. Etwas flacherer Atem.

Sie schloss beide Schlösser auf und ging hinein.

Alles war so, wie es sein sollte. Die etwas stickige Luft war warm und vertraut. Im Morgenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, konnte sie den Staub tanzen sehen; sie müsste mal wieder putzen. In der Küche stand eine halb volle Tasse Tee, und im Wohnzimmer konnte sie den Laptop auf dem Tisch erkennen, wie sie ihn verlassen hatte. Sogar ein Sofakissen, das ihr am Vortag auf den Boden gefallen war, lag noch immer auf dem grauen Teppich unter dem Couchtisch.

Langsam legte sich die Unruhe.

Selma atmete einige Male tief durch und ging dann zielstrebig weiter ins Schlafzimmer. Auch dort war alles so, wie es sein sollte. Das Badezimmer war unberührt. Keine überraschenden kleinen Gegenstände beim Waschbecken und keine Smileys auf dem Spiegel.

Noch immer aufgesetzt zielstrebig ging sie zur Balkontür und öffnete sie.

Plötzlich nahm sie den furchtbaren Gestank der Steinhütte auf der Hardangervidda wahr. Diese Halluzination brach in regelmäßigen Abständen über sie herein, und dann wurde ihr schlecht. Vor zwei Monaten hatte sie eines Abends die Information ergoogelt, dass Geruchshalluzinationen häufiger als andere Störungen der Wirklichkeitsauffassung eine physische und keine psychische Ursache hatten. Es kam dennoch nicht infrage, einen Arzt diesbezüglich zu konsultieren. Noch viel weniger wollte sie untersucht werden, das würde nur zu Fragen von der Sorte führen, die Dr. Viksfjord gestellt hatte. Vermutlich würden sich diese quälenden Anfälle mit der Zeit legen.

Die Morgenluft schlug ihr entgegen, als sie die Balkontür weiter aufschob. Sie machte zwei Schritte hinaus. Es roch süß nach Regen und nassem Asphalt, und sie atmete langsam durch die Nase.

Die Übelkeit ließ nach. Sie packte das Geländer mit beiden Händen. Das Metall war angenehm kalt unter ihren Handflächen. Zwei Busse versuchten, sich zwischen falsch geparkten Autos durch die Arendalsgate zu manövrieren. Irgendwo lachte ein Kind. Menschen führten ihre Hunde Gassi. Die Welt war so, wie sie sein sollte.

Die Sehnsucht nach dem kleinen Sjalg war jetzt physisch geworden. Eine Art Schmerz, der kam und ging. Selma wollte ihn so gern sehen, ihn auf den Arm nehmen, den Duft von Milch und Babycreme und sauer gewordenem Brei aus den Hautfalten am Hals schnuppern. Sie sah seine leicht schräg stehenden Augen vor sich, die mit jeder Woche brauner wurden. Sie wollte seine Hände streicheln und deren Kraft spüren, wenn er ihre Finger packte oder ihr die Brille von der Nase riss.

Mehr als alles andere wollte sie ihn zum Lachen bringen.

Anine musste besänftigt werden.

Als Fredrik Smedstuen sie in der Besenkammer des Krankenhauses gefragt hatte, an welchem Fall sie gerade arbeite, hatte sie gelogen. An keinem, war ihre Antwort gewesen, und das wäre einige Minuten vor dieser Antwort noch die Wahrheit gewesen. Derzeit hatte sie nichts Besonderes zu tun. Sie hatte alle Aufträge abgelehnt, weil sie ab und zu dafür sorgte, aller Verpflichtungen ledig zu sein und sich jederzeit um ihren Enkel kümmern zu können.

Bei dem Gespräch mit dem Polizisten war ihr jedoch aufgegangen, dass sie eben doch einen Fall hatte. Einen unbezahlten Fall von großem Eigeninteresse: Sie musste Anine davon überzeugen, dass der Schuss in Grünerløkka nicht für sie bestimmt gewesen war.

Von dem geheimnisvollen Stalker würde Anine niemals etwas erfahren, wenn Selma keine Anzeige erstattete. Nur Einar und Lars wussten von dem Eindringling, und beide hatten oft genug bewiesen, dass sie dichthalten konnten. Außerdem kannten sie Anine nicht.

Selma musste sich darauf verlassen, dass die ganze Sache ein Ende hatte, seitdem der Poker-Türke Alarmanlage und Türschlösser ausgewechselt hatte. Sie hatte allen Grund, sich ebenso sicher zu fühlen wie vorher.

Das würde sie schaffen. Das musste sie.

Sie fröstelte und ließ das Geländer los. Ihre Finger waren steif, und sie bog sie langsam vor und zurück, ehe sie sich umdrehte, um ihren Plan einer gründlichen Wohnungsreinigung in die Tat umzusetzen.

Ihr Blick fiel auf etwas in der Ecke des Balkons.

Dort lag ein Handball.

Ein abgenutzter, alter Handball. Die fünfeckigen Lederstücke, aus denen er zusammengesetzt war, waren deutlicher als bei einem modernen Handball. Die Furchen dazwischen waren etwas tiefer, die Lederstücke waren mit der Hand aneinandergenäht worden. Mehrere Jahre Harzgebrauch hatten das Logo des Herstellers ausgelöscht. Selma wusste trotzdem, dass früher einmal die stilisierte Hummel der gleichnamigen deutschen Firma den Ball geziert hatte.

Sie erstarrte. Das war einfach nicht möglich. Ihre Gehirnwindungen weigerten sich, die Information aufzunehmen, die die Augen ihnen schickten. Endlich konnte sie dann doch zu dem Ball hingehen. Statt ihn aufzuheben, stupste sie ihn mit der Spitze ihrer Birkenstocksandalen an. Der Ball rollte eine halbe Drehung um sich selbst.

»SF « konnte sie durch Harz und Schmutz lesen. Das war mit Filzstift geschrieben, das wusste sie. Ihre eigenen Initialen, die einmal im Monat aufgefrischt worden waren, solange der Ball ihr gehört hatte. Sie hatte ihn zu ihrem zehnten Geburtstag von Vanja bekommen. Er war viel zu schön, ein Wahnsinnsgeschenk, und Selma hatte sich in ihrem ganzen kurzen Leben noch nie derartig über etwas gefreut. Jeden Tag wurde der Ball benutzt, drei Jahre lang, bis er so schlaff geworden war, dass er eben nicht mehr benutzt werden konnte. Sie hatte ihn aufbewahrt, ganz unten im Kleiderschrank; es war ein Ball, den sie ihr ganzes Leben lang behalten wollte. Doch eines Tages war er verschwunden gewesen.

Ihre Mutter hatte ihn weggeworfen. Es sei unhygienisch, ihn mitten in ihren Kleidern liegen zu haben, war ihr erklärt worden, und damit basta.

Selma war zu den Mülltonnen gelaufen, hatte sie durchwühlt, hatte geweint und sogar geflucht. Sie war dreizehn Jahre alt, und das Einzige, was sie in diesem Moment wollte, war, den besten und wichtigsten Handball der Welt zu finden. Den sie von der besten und wichtigsten Freundin der Welt bekommen hatte.

Sie fand ihn niemals wieder.

Bis jetzt, fast genau vierzig Jahre später.