Die Nachbarn

Selma Falck wusste, dass sie sich zusammennehmen musste. Sie war wütend, verängstigt und verstört. Sie wäre gut beraten gewesen, mit dem Besuch bei den Nachbarn im vierten Stock zu warten, bis sie sich beruhigt hätte. Aber das konnte sie nicht. Sie musste herausfinden, wie ein alter Handball, bei dessen Verschwinden sie dreizehn gewesen war, vierzig Jahre später auf ihrem Balkon hatte landen können. Und deshalb musste sie mit den Nachbarn sprechen, ehe die zur Arbeit gingen.

Selma stand vor der Tür der Wohnung, zu der das von unten gesehen linke Fenster oberhalb des Balkons gehörte. Sie konnte drinnen Schritte und Stimmen hören, aber niemand öffnete. Ihr Finger berührte den Klingelknopf ein weiteres Mal. Nach einigen Sekunden meldete sich eine Männerstimme, wahrscheinlich über die Gegensprechanlage. Selma klopfte an die Tür.

»Hallo«, sagte der Mann, der sofort die Tür öffnete. »Sie sind doch …«

»Selma Falck«, sagte Selma lächelnd und hielt ihm die Hand hin.

Der Mann hatte ein kleines Mädchen auf dem rechten Arm sitzen, sie war vielleicht anderthalb Jahre alt. Er erwiderte den Gruß deshalb mit der linken Hand, die er umdrehte, damit sie in Selmas passte.

»Tut mir leid«, sagte er mit einem Lächeln. »Hier ist morgens immer ganz schön viel los, aber Sie möchten vielleicht …«

Er sah zur Seite, nach weiter hinten im Gang, Selma vermutete, auf eine Wanduhr.

»Shit«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Wir sind sehr spät dran, könnten Sie vielleicht …«

»Hallo«, sagte Selma zuckersüß zu einer Frau, die hinter ihm aufgetaucht war. »Ich würde gern kurz mit Ihnen oder Ihrer Frau reden. Aber natürlich, wenn ich ungelegen komme, dann …«

»Kommen Sie rein«, sagte die Frau. »Stein-Ove muss los, Vilja muss in den Kindergarten und er zur Arbeit. Aber ich …«

Der Mann war zur Seite getreten. Der Bauch der Frau war so umfangreich, dass es aussah, als hätte die Geburt schon vor zwei Wochen sein müssen.

»Zwillinge«, sagte sie und streichelte ihren Nabel, als ob sie an mitleidige Blicke gewöhnt sei und wisse, dass die kommen würden. »Mit der dazugehörigen Beckenbodeninstabilität. Einfach übel. Ich bin krankgeschrieben. Kommen Sie rein.«

Sie stellte sich als Johanna vor, und Selma ging hinter ihr her ins Wohnzimmer. Vom Flur her erklang der Lärm eines kleinen Kindes, das keinen Mantel anziehen wollte und das durchaus nicht vorhatte, sich in den Kindergarten zu begeben. Johanna ignorierte alles und ließ sich mit einer so heftigen Schmerzensgrimasse auf dem Sofa nieder, dass Selma sich fragte, ob sie nicht lieber wieder gehen sollte.

»Setzen Sie sich«, keuchte Johanna. »Es ist so schön, Besuch zu bekommen. Ich komme aus einem Dorf in Hedmarken, und ich bin diese Distanziertheit in der Großstadt nicht gewöhnt. Ich habe Sie ab und zu gesehen, Sie sind ja wirklich ein Superpromi, und ich habe gedacht, es wäre so nett, irgendwann mal zusammen einen Kaffee zu trinken. So unter Nachbarinnen. Aber Stein-Ove …«

Sie nickte zum Gang hinüber, wo der Papa offenbar einen schwer erkämpften Sieg einfuhr.

»Er ist von hier. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er ist in dem Haus aufgewachsen, das früher hier stand, ehe es abgerissen und dieses Mehrfamilienhaus gebaut wurde. Er sagt, die Leute hier lassen einander mehr oder weniger in Ruhe. Kaffee, übrigens?«

»Nein, danke. Ich komme frisch vom Frühstückstisch.«

Ihr Hunger knurrte im Zwerchfell, wenn sie an Essen dachte.

»Ich will Sie nicht lange belästigen, ich habe nur …«

»Sie belästigen mich doch nicht! Ich langweile mich zu Tode in diesem Zustand!«

Sie streichelte ihren Bauch mit missbilligender Miene, als ob sich darin ein Feind verschanzt hätte.

»Ich kenne nicht so viele hier in der Stadt, und jede Ablenkung von Stein-Ove und Vilja ist willkommen. Ja, verstehen Sie das nicht falsch, die beiden sind wunderbar, aber Sie wissen …«

Johanna redete drauflos, über alles und nichts. Selma hörte kaum zu. Stattdessen schaute sie sich so diskret wie möglich um. Der Flur hier war kleiner als der bei ihr. Oder die Diele, wie der hochtrabende Makler das genannt hatte. Das Wohnzimmer war zum Ausgleich ein wenig größer. Die Küche war durch eine Halbwand abgetrennt, es war nicht einfach eine Kücheninsel wie bei Selma. So, wie sie saß, schaute sie aus den nach Süden gelegenen Fenstern. Es waren drei an der Zahl.

»Sie haben es ja wirklich schön hier«, sagte Selma, als Johanna endlich Luft holte.

Sie stand auf und ging zu den Fenstern.

»Und eine noch schönere Aussicht als unten bei mir!«

»Ja, die Aussicht hat uns wirklich überzeugt. Und die Lage, natürlich. Stein-Ove arbeitet bei Lilleborg, gegenüber vom Sandaker Senter. Ich arbeite im Moment nicht, wie gesagt, ich …«

Selma hörte noch immer nicht zu. Sie war an das am weitesten links gelegene Fenster getreten. Nach ihrer Berechnung musste das genau über ihrem Balkon liegen.

»Uns fehlt nur ein Balkon.«

Lautes Atmen und Keuchen verrieten Selma, dass Johanna gerade aufstand.

Sie beugte sich bis an die Fensterscheibe vor und schaute nach unten.

Dort lag der Hinterhof. Mit Fahrradständer und Sandkasten mit Deckel zum Schutz gegen Katzenkacke. Und mit einer Schaukel, die schon seit mehreren Wochen defekt war.

Das hier war das falsche Fenster.

Während Johanna sich durch das Zimmer schleppte, begriff Selma, dass es hinter der Wand noch ein Zimmer geben musste. Ein Schlafzimmer, vermutlich, mit einer Tür zum Gang.

»Ja«, sagte Selma und lächelte Johanna an. »Mit meinem Balkon habe ich wirklich Glück gehabt. Sechs Quadratmeter ist ja nicht gerade groß, aber im Sommerhalbjahr ist es wirklich wunderbar. Nach Südosten gehend und sonnig.«

Johanna nickte. Sie war jetzt ans Fenster getreten und stützte sich auf die schmale Fensterbank.

»Man kann nicht alles haben, wie mein Vater immer sagt. Außerdem wäre es auch gruselig, wenn ich an Vilja denke. Sie ist doch überall, oben und unten. Vor allem oben. Ein kleiner Kletteraffe, das ist unsere Vilja. Schauen Sie her …« Sie zeigte auf eine Vorrichtung an den Fenstergriffen. »Kindersicherung. An allen Fenstern natürlich. Wussten Sie, dass Eric Clapton seinen Sohn verloren hat, als der in einem Wolkenkratzer aus dem Fenster gefallen ist? Also nicht Eric Clapton. Sondern der Sohn? Er war erst vier oder so. Also der Sohn.«

Es schauderte sie sichtlich.

»Eric Clapton war früher ein sehr bekannter Sänger«, fügte sie zur Erklärung hinzu. »Amerikaner.«

Selma unterdrückte ein Lächeln.

»Er ist noch immer ziemlich bekannt«, sagte sie. Und überaus britisch, dachte sie.

Johanna konnte höchstens fünfundzwanzig sein, dachte Selma, und war noch nicht geboren gewesen, als Clapton »Tears in heaven« geschrieben hatte. Wahrscheinlich hatte sie dieses Stück nie gehört, aber jedenfalls hatte sie Höhenangst. Sie zögerte, ehe sie ganz ans Fenster herantrat.

»Die Aussicht kostet aber auch. Ich würde lieber im Erdgeschoss wohnen, aber dann kommen ja Einbrecher leichter in die Wohnung. Davon soll es hier in der Großstadt viele geben. Die Qual der Wahl.«

»Ich dachte, ihr hättet ein Fenster über meinem Balkon«, sagte Selma. »Aber da habe ich mich wohl geirrt.«

»Absolut nicht! Viljas Zimmer ist da drüben.«

Sie zeigte auf die Längswand.

»Sie hat das größte Schlafzimmer bekommen. Einfach, weil sie nicht tief fallen würde, wenn sie das Fenster doch öffnen könnte. Sie würde einfach zu Ihnen nach unten fallen. Ich habe schreckliche Angst vor solchen Stürzen.«

Sie lachte wieder, diesmal schrill.

»Aber bis dahin ist es auch schon tief genug, deshalb haben wir das Fenster lieber gleich festgenagelt. Es kommt ja vor, eigentlich sogar sehr oft, dass Kinder aus dem Fenster fallen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand danach weiterleben kann. Denken Sie doch nur an die Schuldgefühle. Und an …«

»Zugenagelt? Sie haben das Fenster zugenagelt? Aber wie lüften Sie denn dann?«

»Mit den Kindersicherungen können wir die Fenster einen Spaltbreit aufmachen, es ist also nicht …«

»Nicht hier, sondern bei Vilja. Wie machen Sie das da?«

Johanna schloss den Mund, ungefähr zum ersten Mal, seit Selma gekommen war. Sie war eine ziemlich kleine Frau, an allen anderen Stellen jedenfalls, nur nicht am Bauch, und jetzt sah sie schräg und skeptisch zu der überraschenden Besucherin hoch.

»Warum wollen Sie das wissen? Glauben Sie, ich sorge nicht für frische Luft für …«

Selma hob die Hände und trat einen halben Schritt zurück.

»Nein, nein! Ich meine nur …«

Wieder musste sie diese unwillkommene kleine Pause einlegen, ehe ihr die Lüge gelang. Das ärgerte sie, und sie hüstelte, ehe sie weitersprach: »Ich will bei der Hausverwaltung beantragen, dass meine Balkontür ausgetauscht wird, verstehen Sie. Die ist unpraktisch schmal. Schwer, Möbel hin und her zu bugsieren. Ich lagere sie über den Winter im Keller, und jetzt muss ich sie zuerst auseinandernehmen. Bei der Gelegenheit …« Sie war aus der Übung und schob noch ein beruhigendes Lächeln ein. »… muss möglicherweise auf meinem Balkon ein kleines Gerüst aufgestellt werden. Deshalb wollte ich eigentlich Bescheid sagen. Und wenn ich also mal nachschauen dürfte, nur, um …«

Johanna lächelte übers ganze Gesicht.

»Gerüst, um eine Tür auszutauschen? Auf einem Balkon!«

Jetzt lachte sie herzlich.

»Ihr Stadtleute fallt aber auch auf alles herein. Ihr lasst den Handwerkern viel zu viel durchgehen. Von so was werden die Rechnungen fett. Ein Gerüst ist doch total unnötig.«

Sie watschelte jetzt wieder in Richtung Flur und hatte dabei die eine Hand ins Kreuz gelegt. Mit der anderen winkte sie Selma.

Viljas Zimmer war ein rosa Bombeneinschlag. Sogar Boden und Decke waren rosa. Auf ein Zeichen von Johanna ging Selma weiter, während sie über Bauklötze und Barbie-Puppen hinwegstieg, von denen sie nicht begreifen konnte, dass jemand eine Anderthalbjährige damit spielen ließ. Am Fenster angekommen, konnte sie sich rasch davon überzeugen, dass Johanna die Wahrheit gesagt hatte. Das Fenster war zugenagelt. Auf ziemlich dilettantische Weise, aber es verhinderte jedenfalls, dass irgendwer es öffnen konnte. Sie war sich sicher, dass das nicht erlaubt war. Sie lehnte die Stirn ans Glas.

Dort war ihr Balkon. Der Handball war von hier aus nicht zu sehen, er lag noch immer in der Ecke, wo sie ihn gefunden hatte.

»Hier gibt es eine Lüftung«, sagte Johanna und zeigte auf ein Ventil oben unter der Decke. »Bei Ihnen auch, nehme ich an. Lüften ist total unnötig. Wenn es stickig wird, machen wir einfach die Tür zum Flur auf.«

»Ja, natürlich. Gute Idee, das da.«

Selma legte die Hand an den Fensterrahmen, wo ein großer Nagel durch das Holz und weiter in die Wand getrieben war.

»Better safe than sorry« , sagte Johanna.

»Seh ich auch so. Aber dann wissen Sie jedenfalls, dass es vielleicht ein paar Bauarbeiten geben wird. Wenn die Hausverwaltung das gestattet, natürlich nur. Das steht, wie gesagt, noch nicht fest. Ich sollte mir die Sache vielleicht noch einmal überlegen. Sich mit der Hausverwaltung hier anzulegen, das ist …«

Sie setzte ein resigniertes Gesicht auf.

»Ich weiß«, sagte Johanna verständnisvoll. »Danke, dass Sie uns Bescheid gesagt haben. Dann weiß ich, was los ist, wenn etwas passiert. Sind Sie sicher, dass Sie keinen Kaffee wollen?«

»Ja. Ich muss jetzt wirklich los. Wissen Sie …«, sie stieg wieder über das ganze Spielzeug hinweg, »… etwas über die, die die Wohnung neben Ihrer gekauft haben?« Selma zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter zurück.

»Na ja, ich hab da mal angeklopft, gleich nach der Übergabe. Ich dachte …«

Selma ging an Johanna vorbei hinaus auf den Flur.

»Na ja«, sagte Johanna. »Auch egal. Das ist ein Ehepaar. Älter als wir, aber mit einem Jungen in Viljas Alter. Ich konnte nur kurz mit dem Mann sprechen.«

Selma stand jetzt bei der Wohnungstür.

»Wie schön«, sagte sie begeistert. »Ein Spielkamerad gleich nebenan!«

»Schön wär’s. Sie ist Diplomatin. Die Frau, meine ich. Sie sind jetzt in Amerika oder so. Oder vielleicht Australien. Sie waren nur zweimal hier, ehe sie geflogen sind. Ich glaube, sie haben das Wohnzimmer gestrichen. Und dann haben sie eine Menge Kartons abgestellt. Richtig nette Menschen, davon bin ich überzeugt, aber wie gesagt …« Wieder verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse.

»Ich glaube, Sie sollten sich hinlegen«, sagte Selma. »Ich gehe jetzt. Aber wissen Sie, ob jemand sich für die beiden um die Wohnung kümmert?«

»Nein«, stöhnte Johanna. »Das glaube ich nicht. Ich habe jedenfalls niemanden gesehen, und von nebenan ist nie etwas zu hören. Kein Lebenszeichen, wirklich nicht. Sie haben auch nichts auf ihren Briefkasten unten geschrieben. Keinen Namen, meine ich. Da klebt nur ein Zettel mit ›Keine Werbung‹. Wollen sicher nicht den Briefkasten mit diesem Müll vollgestopft haben. Ach, großer Gott. Sie haben recht. Ich muss mich hinlegen.«

Selma öffnete die Wohnungstür. Als sie sich umdrehte, hatte Johanna die beschwerliche Wanderung durch das Wohnzimmer angetreten.

»Wissen Sie zufällig, wie die heißen?«

»Heimdal«, stöhnte Johanna. »Er jedenfalls. Torstein Heimdal. Der Junge heißt Lukas. Oder Luka? Leonard? Irgend so was.«

Selma wiederholte in Gedanken den Namen des Mannes dreimal und ging. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

»Torstein Heimdal«, sagte sie, diesmal laut, und hatte den Namen des Sohnes schon vergessen.