Selma Falck war noch außer Atem nach der Joggingrunde zur Circle-K-Tankstelle unten am Alexander Kiellands plass und wieder zurück nach oben. Ihr linker Arm tat beim Laufen nicht mehr besonders weh. Nur ein leiser Druck, um die Wunde herum und in der Wunde, die gut verheilte. Der alte Handball war ziemlich fest gewesen, einige Minuten, nachdem sie ihn aufgepumpt hatte, aber als sie wieder zu Hause angekommen war, war er so schlaff wie zuvor. Was ja auch nicht anders zu erwarten gewesen war.
Die Innenblase war ja schon seit vierzig Jahren undicht.
Selma stand im Hinterhof. Irgendwer hatte vergessen, den Deckel auf den Sandkasten zu schieben. Das rächte sich, sie hatte zwei Haufen Katzenkacke gesehen, die nach dem heftigen Regenguss am Morgen in Auflösung übergingen. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, etwas gegen diese Sauerei zu unternehmen, aber dann hatte sie entschieden, dass es im Haus genug Eltern mit kleinen Kindern gab, die die Verantwortung für solche Dinge übernehmen konnten. Stattdessen blieb sie einige Meter von den Fahrradständern entfernt stehen und schaute hoch zu ihrem Balkon.
Aus dieser Perspektive stimmte sie den kritischen Stimmen in der Eigentümergemeinschaft absolut zu. Die waren noch immer nicht verstummt, sechs Jahre nach Bauvollendung. Als Selma vor gut anderthalb Jahren eingezogen war, war sie fast sofort mit dieser Mitteilung empfangen worden: Dieser Balkon hätte niemals gebaut werden dürfen. Von den zwanzig zum Hinterhof hin gelegenen Wohnungen hatte Selmas als einzige einen Balkon. Der sah aus wie eine Warze. Oder wie ein Pilz, ein beängstigender grauer Auswuchs hoch oben und mitten in der ansonsten glatten grauen Fassade. Was sich der Architekt dabei gedacht hatte, konnte niemand begreifen.
Aber der Balkon gehörte Selma und war ein Segen.
Lars hatte die Entfernung bis nach dort oben auf acht bis neun Meter veranschlagt. Von hier unten sah es weiter aus. Vielleicht zehn. Aber es müsste möglich sein.
Jedenfalls mit einem hart aufgepumpten Handball. Wenn man sich mitten in einer erfolgreichen Karriere befand. Und die richtige Entfernung zur Wand finden konnte und keine Probleme mit einer Schussverletzung hatte. Selma Falck war eine Frau mittleren Alters, die jetzt zum Spaß ein- oder zweimal pro Woche Handball spielte. Das Nachbarhaus hinderte sie daran, sich weit genug von der Wand zu entfernen, um die Kraft beim Wurf optimal zu nutzen.
Es war zudem unmöglich, den Ball straff genug aufzupumpen.
Sie musste es trotzdem versuchen. Sie stellte sich so weit weg auf, wie es der Zaun zum Nachbargrundstück gestattete. Sie berechnete Höhe und Entfernung, ließ den Ball von einer Hand in die andere wandern, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Sie hob ihn ans Gesicht. Nahm den Geruch von verschwitzten Sporthallen und Harz wahr, von Kindheit und Altern. Selma ließ ihn kurz in der rechten Hand ruhen, stellte einen Fuß zurück und ging ein wenig in die Knie. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte sich zu erinnern, wie es war. Ihre Mannschaft hatte soeben den Ball gefangen. Die Außenspielerinnen waren längst losgelaufen, das wusste Selma, ohne es zu sehen, ohne daran denken zu müssen, dass sie den Ball zu einem Punkt dort vorn schicken könnte, wo eine Teamkollegin in dem Moment stehen würde, nachdem der Ball Selmas Hand verlassen hatte. Hart genug, präzise genug.
Das hier war schwieriger. Viel schwieriger.
Sie öffnete die Augen und warf.
Der Ball beschrieb die richtige Bahn. Wenn die Kraft größer gewesen wäre, wäre er auf Selmas Balkon gelandet. Stattdessen verlangsamte er seinen Weg in einem elliptischen Bogen, dessen höchster Punkt beim zweiten Stock lag, ehe er sich drehte und schneller wurde, um mit einem leisen Klatschen gegen die Wand im ersten Stock zu knallen.
»Was machst du denn da?«
Lars Winther war auf dem Gehweg vom weiten, offenen Torgang her stehen geblieben. Er saß auf einem lächerlich kleinen Rad mit Bockshornlenker und Kindersitz auf dem Gepäckträger. An seiner Hüfte hing eine an einem Schulterriemen befestigte Tasche.
»Amüsier mich nur ein bisschen.«
Selma ging langsam hinüber und hob den Ball auf.
»Willst du deinen Balkon treffen oder was? Dann bist du aber optimistisch.«
Er starrte den Ball skeptisch an.
»Der sieht ja aus wie hundert Jahre alt.«
»Ist er auch fast. Wieso bist du hier?«
»Ich versuche jetzt schon einen Tag lang, dich zu erreichen.«
»Sorry. Ich hab’s doch gesagt, hatte zu viel zu tun.«
»Ich muss mit dir reden. Bist du weitergekommen mit …« Er sah sich nach allen Seiten um. »Du weißt schon, der Zip-Datei? Hast du jemanden gefunden, der uns helfen kann?«
Selma gab keine Antwort. Sie ging zurück zu der Stelle, wo sie beim Werfen gestanden hatte. Abermals maß sie mit dem Blick die Wand ab, sah zum Balkon hoch und schätzte die Entfernung sowie die potenzielle Flugbahn ein.
Die Schlussfolgerung ergab sich von selbst.
Mit einem kleineren, schwereren und härteren Ball hätte sie treffen können. In ihrer aktiven Zeit hätte sie vermutlich auch mit einem neuen, festen Handball getroffen. Aber bei diesem Ball war das unwahrscheinlich.
Sie betrachtete ihn näher, hielt ihn zwischen den steifen Fingern beider Hände und drehte ihn langsam um. Ihre Initialen waren mit Schwung und Fleiß geschrieben worden, »SF «, sie wusste noch, dass sie auf Butterbrotpapier geübt hatte. Als sie endlich zufrieden gewesen war, hatte sie versucht, die Initialen mit dem Tapetenmesser ihres Vaters aus dem Papier herauszuschneiden, um es als Schablone zu benutzen. Das ging nicht, aber am Ende hatte sie es geschafft, ihre Zinke freihändig zu zeichnen.
»Woher hast du gewusst, dass ich hier im Hinterhof bin?«, fragte sie.
»Ich habe geklingelt. Eine Frau kam heraus, die wohl gesehen hat, auf welchen Klingelknopf ich gedrückt hatte, denn sie hat gesagt, dass du hier hinten bist.«
Selma nickte. Vermutlich wusste eine ganze Handvoll Menschen im Haus, dass sie gerade hier draußen war. Vielleicht hatten sie neugierig ihrem misslungenen Rekordversuch mit dem alten, schlaffen Ball zugesehen. Niemand konnte hier stehen und so etwas tun, ohne gesehen zu werden.
Der Ball musste von oben heruntergeworfen worden sein.
Nicht aus der Wohnung von Stein-Ove und Johanna, das schien klar zu ein.
»Torstein Heimdal«, sagte sie leise.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.«
Sie nahm den Ball in die rechte Hand und ging wortlos auf Lars zu und an ihm vorbei zum Durchgang. Sie bemerkte, dass er blitzschnell sein Rad an den Ständer anschloss, und ehe sie die Tür zur Straße erreicht hatte, hatte er sie eingeholt. Mit dem Kindersitz unter dem Arm.
Noch immer schweigend, gingen sie beide ins Haus. Sie nahmen auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal. Selma verspürte einen Hauch von Erleichterung darüber, dass sie nicht allein war.
»Hast du mitgekriegt, dass Kajsa Breien tot ist?«, fragte Lars plötzlich.
»Was?«
Selma drehte sich verdutzt zu ihm um, während die Tür hinter ihnen leise ins Schloss fiel.
»Hab es eben im Radio gehört«, sagte Lars und tippte mit dem Zeigefinger an seinen einen Ohrstöpsel. »Nichts über die Todesursache. Aber Gerüchte wollen etwas von Selbstmord wissen.«
»Kajsa Breien? Die Richterin? Selbstmord?«
Selma lachte, was selbst für sie fremd klang.
»So einen Blödsinn habe ich ehrlich gesagt lange nicht mehr gehört.«
»Hast du sie gekannt?«
»Wir haben zusammen studiert. Oder genauer gesagt, gleichzeitig. Teilweise. Sie ist jünger als ich, hat aber zum Ausgleich das Studium im Rekordtempo erledigt. Sie ist der intelligenteste Mensch, der mir je begegnet ist. Wir haben später einige Male zusammengearbeitet. Bei solchen …«, sie streifte die Trainingsjacke ab und stieg aus den Turnschuhen, »… ›Gesundheit für Behinderte‹-Aktionen. Unglaublich sympathische Frau. Und wie gesagt: total intelligent. Voller Tatkraft. Und Lebensmut. Hat im Studium einen Typen kennengelernt und dann geheiratet, average height , und seither sind sie zusammen.«
»Aber so richtig gut hast du sie also nicht gekannt?«
»Gut genug«, sagte Selma leicht gereizt. »Mehr als gut genug, um absolut erstaunt darüber zu sein, dass sie Selbstmord begangen haben soll. Wann soll das denn passiert sein?«
»Heute Morgen oder so. Die Familie hat zusammen mit dem Obersten Gericht nur eine kurze Pressemeldung über den Todesfall veröffentlicht. Ein Kollege hat mich angerufen. Die Hotline ist fast zusammengebrochen bei den vielen Anrufern, die erzählen wollten, dass die Richterin an einem Baum in Marka gefunden worden ist. Heute Morgen, gleich bei Kjelsås. Oder Korsvoll. Irgendwo da oben.«
Selma, schon halbwegs auf dem Weg zur Dusche, blieb stehen. Sie verharrte so lange in derselben Position, dass Lars sich an den Schreibtisch setzte und rief: »Selbstmord kann total überraschend kommen, sogar für die Allernächsten. Du kannst darüber nichts wissen, Selma.«
Sie gab keine Antwort. Ihr war ein Gedanke gekommen. Irgendetwas, das schwer zu fassen war. Ein flüchtiger Gedanke, eine Überlegung, die sich nicht ganz einfangen ließ. Sie registrierte, dass Lars Jonathan Herses Ordner aus seiner Schultertasche zog und den Speicherstick vor sich auf den Tisch legte. Das ärgerte sie. Sie hätte ihn nicht mit nach oben kommen lassen dürfen. Sie wollte ihm nicht helfen. Das Einzige, worauf sie sich konzentrieren wollte, war die Suche nach ihrem Quälgeist. Um der Sache ein Ende zu machen. Sie wollte ihre Ruhe zurückerobern, und die Kraft, Anine klarzumachen, dass alles war wie vorher. Sie wollte nur eins: mit ihrem Enkel zusammen sein.
»Ich muss duschen«, murmelte sie. »Das dauert, wegen des Verbands. Gib mir zehn Minuten.«
Als sie zurückkam, telefonierte Lars. Selma trocknete sich noch immer die Haare mit einem riesigen Frotteetuch. Als sie das zu einem Turban gewickelt hatte, der auf ihre unversehrte Schulter hing, sah sie, dass Lars eine kränkliche Gesichtsfarbe hatte. Die Hand, die das Handy hielt, zitterte sichtlich. Selma setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und blieb ganz still.
Endlich legte Lars das Handy weg.
»Was ist los?«, fragte Selma. »Du siehst krank aus, Lars.«
»Leon ist ins Krankenhaus Ullevål gebracht worden. Er wurde vor einer halben Stunde angefahren.«
Selma verspürte einen Adrenalinstoß, die stechende Angst, gegen die sie so oft hatte kämpfen müssen, um auf der Hochebene zu überleben.
»Was … kann er sterben?«, rief sie und bereute die Frage sofort.
Leon war Lars’ ältester Sohn, ging in die zweite Klasse und war vor einer Woche sieben geworden. Er hatte eine kesse Tolle wie sein Vater, dazu eisblaue Augen und war wie der Papa ein Radfahrass.
»Er war mit dem Rad unterwegs«, flüsterte Lars. »Und ist unter einen Sattelzug geraten. Es besteht Lebensgefahr, Selma. Mein Junge schwebt in Lebensgefahr.«
Selma wusste, dass sie aufstehen müsste. Sie müsste sich neben ihn setzen, seine Hand nehmen vielleicht, dazu waren sie gut genug befreundet, und ihn fragen, ob sie ihm helfen könnte. Ihn ins Krankenhaus fahren oder ihm den neuen Volvo leihen. Irgendetwas. Aber sie blieb nur sitzen und spürte ihre eigene Angst. Und sie schämte sich. Sie dachte nicht an Leon. Auch nicht an Lars, obwohl er aussah, als könnte er jeden Moment tot umfallen.
Selma dachte nur an Sjalg. Daran, was sie tun würde, wenn er schwer verletzt wäre. Sie, die kaum eine Kalorie dafür verbraucht hatte, sich um ihre Kinder zu ängstigen, als die klein waren, und noch weniger, als sie heranwuchsen, sah jetzt alles vor sich, was einem Baby zustoßen könnte. Ein Katastrophenfilm lief vor ihrem inneren Auge ab. Krippentod, Stürze und Krankheiten. Kidnapping. Sie rang um Atem und wollte etwas sagen, als Lars aufsprang, seine Tasche an sich riss und losstürzte.
»Ich kann dich nach Ullevål fahren«, rief sie, aber zu spät.
Er hatte die Wohnung schon verlassen und war bereits die halbe Treppe hinuntergelaufen.