Frustration

Fredrik hatte zu viel Zeit damit verbracht, Löcher in die Luft zu starren. Von Natur aus war er ohnehin eher negativ gestimmt. Ab und zu konnte er sogar depressiv werden. Im Moment aber fühlte er sich absolut nicht wohl in seiner Haut.

Er hatte anderthalb Stunden gebraucht, um die idiotische Sackgasse zu verlassen, in die er sich um ein Haar verirrt hätte. Wieso der Mord an Linda Bruseth auch nur das Geringste mit dem Mord an Kajsa Breien zu tun haben sollte, war unmöglich zu sagen. Dass Birger Jarl Nilsen in diese Richtung fabulierte, war dessen Sache. Der Mann arbeitete schließlich nicht hier. Fredrik selbst war ein erfahrener Ermittler und müsste es besser wissen, als sich vagen Gefühlen und wilden Spekulationen hinzugeben. Sicher hatte die Frustration ihn in die Irre geführt.

Der Hauptkommissar war ein Polizist der grauen Sorte, worüber er sich selbst bewusst war. Er tat seine Pflicht, nicht mehr und nicht weniger, und hielt die Vorschriften bis zum i-Tüpfelchen ein. Nicht weil er das unbedingt richtig fand, sondern weil es so am einfachsten war. Das große geschwungene Polizeigebäude im Osten Oslos war voller Geschichten über Polizisten und Polizistinnen, die in Schwierigkeiten geraten waren, weil sie sich Freiheiten herausgenommen hatten. Einer von ihnen würde im Herbst zum dritten Mal vor Gericht gestellt werden, wobei ihm lebenslange Haft wegen Haschischschmuggels und Korruption drohte. Vor Fredriks Zeit bei der Osloer Polizei war hier in den Korridoren ein legendäres, unzertrennliches Duo unterwegs gewesen. Die Frau hieß Hanne Wilhelmsen und hatte es geschafft, sich im Dienst anschießen zu lassen. Ihre eigene Schuld, wie es hieß. Die Götter mochten wissen, was eigentlich aus ihr geworden war, seit sie im Rollstuhl sitzen musste. Ihr Partner war nur Billy T. genannt worden, Fredrik hatte nie seinen Nachnamen gehört, und er war vor einigen Jahren elendiglich zugrunde gegangen, hatte sich das Leben genommen, der arme Teufel.

Die Polizei hatte keinen Platz mehr für Cowboys, und das war gut so.

Vorschriften waren dazu da, das Dasein zu vereinfachen und Polizei und Öffentlichkeit abzusichern. Bei der polizeilichen Arbeit gab es keine Abkürzungen. Man musste Stein auf Stein legen, und aus hochfliegenden Theorien war noch nie etwas Gutes geworden. Fredrik Smedstuen spekulierte niemals über die Motive eines Verbrechers, ehe er gründliche Vorarbeit geleistet hatte. Er hatte eine Vorliebe für technische Beweise. Die logen selten. Fingerabdrücke, DNA und Waffen. Rechtsmedizin. Facebook-Postings und Fotografien. Handfeste, unbestreitbare Tatsachen. Wenn man sorgfältig genug damit umging, dann führten sie am Ende jeden Ermittler in die richtige Richtung, davon war er überzeugt. Seine Aufklärungsquote lag nur im Mittelfeld, aber damit konnte er leben. Der taktische Teil einer jeden Ermittlung war nie seine Stärke gewesen. Jedenfalls nicht der Teil, der Zeugenvernehmungen beinhaltete. Fredrik Smedstuen konnte mit Menschen einfach nicht besonders gut umgehen, woran seine Ex-Frau ihn in den drei Jahren, ehe ihre Trennung zur Tatsache geworden war, an wirklich jedem Tag erinnert hatte.

Er fuhr den Rechner hoch, loggte sich ein und öffnete die Dateien zum Fall Linda Bruseth. Das Bild, eine Ganzaufnahme, stammte von ihrem Facebook-Profil und war auf einer Wiese unter freiem Himmel aufgenommen. Er sah ein rundes Gesicht, rote Wangen, ein strahlendes Lächeln und ein mit einer Flasche gefüttertes Lamm zwischen ihren molligen Beinen.

Facebook hatte auch das erste Problem gelöst, mit dem Fredrik sich befasst hatte: herauszufinden, wer gewusst hatte, dass sich die drei Jugendfreundinnen am Donnerstag, dem 5 . September, um fünfzehn Uhr in Grünerløkka treffen wollten.

Die ganze Welt hätte das wissen können, wie sich herausgestellt hatte. Oder fast die ganze, falls es überhaupt jemanden interessiert hatte. Die Dame hatte nämlich zwei Tage vorher Zeit und Ort auf ihrer eigenen Seite gepostet. Ihr Account war öffentlich, wie der der meisten Politiker. Linda Bruseth hatte zwar nur 769 Freunde und etwas über zweihundert Follower, aber alle Welt hatte ihr in die Karten blicken können.

Falls alle Welt gewollt hätte. Sie schrieb über Reisen mit ihrem Ausschuss und über politische Prozesse, und das auf so langweilige Weise, dass Fredrik es nicht über sich gebracht hatte, alles zu lesen. Sie war zudem wohl Legasthenikerin ohne Rechtschreibprogramm gewesen, denn in ihren Posts wimmelte es nur so von Schreibfehlern. Dennoch häuften sich die Berichte über fünfzigste Geburtstage und frisch geborene Tiere, sabbernde Enkelkinder, mähbereite Kornfelder und Mutters selbst gemachte Frikadellen in Großaufnahme auf einem Teller. Und dazu so einiges über Selma Falck.

Linda Bruseth war ganz einfach ungeheuer stolz darauf gewesen, die Freundin der beliebten Ermittlerin zu sein. Und das war offenbar noch eine echte Freundschaft gewesen, nicht nur in diesem neumodischen Sinne, der kaum mehr beinhalten musste, als dass man einander einige Male über den Weg gelaufen war. Im Herbst 2018  hatte sie fast täglich Links zu den vielen Berichten über die von Selma Falck aufgedeckten Skandale gepostet. Ungefähr zur selben Zeit hatte Linda in rascher Folge vier Bilder aus den späten Achtzigerjahren hochgeladen, alle mit der Gemeinsamkeit, dass sie Selma und sie zusammen zeigten. Drei davon waren auf dem Handballfeld aufgenommen worden, eins stammte offenbar von einem munteren Fest. Linda postete auf Facebook und auf Instagram und liebte Hashtags wie #selmaforpresident, #oldbuddies und #daswarenzeiten.

Das Seltsame war jedoch, dass sie über Treffen berichtete, die noch in der Zukunft lagen. Die meisten Freundschaftsbekundungen in sozialen Medien enthielten Bilder des eigentlichen Geschehnisses. Lächelnde Menschen um einen Restauranttisch, auf einem Berggipfel, auf Skiern und an allen möglichen anderen Orten, die den Eindruck verstärken konnten, jemand sei erfolgreich und beliebt. Für Linda reichte das offenbar nicht. Sie musste alles schon vorher bekannt geben, offenbar aus reinem, purem Glücksgefühl.

Er ertappte sich dabei, dass sie ihm ein bisschen leidtat.

Er hatte selbst bei den vier größten sozialen Plattformen je ein absolut totes Konto. Er brauchte keine sozialen Medien, bis auf eine Handvoll von nützlichen Gruppen. Die meisten davon hingen vage mit seiner Arbeit zusammen, wie der Schützenverein und der Oldtimerclub der Polizei. »Schmetterlinge in Norwegen« und »The world of Lepidoptera« waren die ersten Gruppen, denen er wirklich mit Vergnügen folgte. Schon als Junge hatte er angefangen, Schmetterlinge zu sammeln. Seine Sammlung hatte er natürlich bei seinen alten Eltern deponieren müssen, seine Frau wollte das Haus nicht voller toter Insekten haben, wie sie sagte, aber er war stolz darauf.

Freunde dagegen traf er nur im wirklichen Leben. Er trank ein Freitagsbier mit fünf oder sechs Kommilitonen von der Polizeihochschule. Er wurde zum Essen eingeladen. Es war selten ein Problem, vor dem Wochenende jemanden anzurufen und sich zu verabreden, nicht einmal nach der Scheidung. Er hatte sogar einige Freundinnen.

Fredrik Smedstuen war nicht freundlos.

In der Realität. Seine Freunde waren etwas, das er nicht vorzeigen oder womit er nicht prahlen musste. Nachdem er sich am vergangenen Samstag zwei Stunden lang Linda Bruseths Leben im Internet zu Gemüte geführt hatte, glaubte er, die Konturen einer Frau zu erahnen, die immer Heimweh gehabt hatte, die niemals in die Großstadt hätte gehen und sich noch viel weniger ins Parlament hätte wählen lassen dürfen. Ihr Leben fand im Dorf statt, im Vertrauten und Geliebten, wo ihre etwas groß geratene Erscheinung als Zeichen von körperlicher Stärke und Gesundheit gesehen wurde.

Fredrik hatte noch nicht mit Ingolf Bruseth sprechen können, Lindas Ehemann. Der älteste Sohn der beiden war nur zwei Stunden nach dem Mord nach Oslo gekommen und hatte darum gebeten, den Vater so lange wie möglich in Ruhe zu lassen. Fredrik hatte geantwortet, eine Vernehmung müsse ziemlich bald stattfinden, aber solange die Söhne sich für die Polizei zur Verfügung hielten, könnten sie noch ein paar Tage warten.

Diese Tage waren jetzt vorbei. Die drei älteren Söhne hatten ihre Aussagen gemacht, ohne dass die Polizei einer Erklärung, warum irgendwer den Tod dieser ländlichen, herzensguten Frau gewollt hatte, auch nur um einen Zentimeter näher gekommen wäre.

Fredrik machte sich auch keine großen Hoffnungen, dass der Ehemann zur Aufklärung besonders viel beitragen könnte. Die Informationen, die sie über ihn gesammelt hatten, die meisten über Facebook und aus einigen Artikeln in der Lokalzeitung, zeichneten das Bild eines bodenständigen und ziemlich wortkargen Mannes, dessen Aktionsradius im Leben an die zehn Kilometer betrug. Die beiden hatten schon jung geheiratet, als Linda noch bei der Handballnationalmannschaft das Tor gehütet hatte, aber Ingolf hatte sie nicht zu einem einzigen Auslandsspiel begleitet.

Es war offenbar so kompliziert, die Tiere zu verlassen. Fredrik scrollte sich durch etliche andere Vernehmungsprotokolle. Drei davon hatte er noch nicht gelesen, aber keins sagte ihm mehr, als er ohnehin schon wusste.

Die Unterlagen von der Tatortuntersuchung waren noch entmutigender. Die Rekonstruktion war insofern gelungen, als es jetzt einigermaßen feststand, was passiert war. Auf dem Dach, wo der Schütze mit absolut überzeugender Wahrscheinlichkeit gelegen hatte, waren jedoch keine Funde von Bedeutung gemacht worden. Es war auch unklar, wie er nach dort oben gelangt war. Es gab viele Möglichkeiten. Die Häuser in diesem Teil der Straße standen dicht beieinander, und einige erstreckten sich bis in die Hinterhöfe. Der Schütze konnte ganz einfach durch den offenen Durchgang von der Straße in den Hinterhof spaziert sein, um dann eine der drei Leitern zu benutzen, die praktischerweise vor der Mauer lagen. Er konnte auch von eigentlich jedem Dach in der Nachbarschaft gekommen sein. Das Seltsame war, dass niemand ihn gesehen hatte. Jedenfalls hatten sie bisher wirklich niemanden gefunden, der etwas von verdächtigen Bewegungen erzählt hatte, weder über Dächer noch in dem Wirrwarr von Durchgängen. Fredrik hatte zwei frisch eingestellte Polizisten losgeschickt, um alle Aufnahmen der Überwachungskameras innerhalb von neun Blocks zusammenzusuchen. Er hatte sie zu Überstunden gezwungen, wozu er streng genommen gar nicht befugt war, und sie hatten bereits mehrere Hundert Stunden gesichtet, ohne irgendeinen interessanten Fund zu machen.

Der Täter kam ihm vor wie ein Gespenst.

Fredrik öffnete die Schreibtischschublade, um nach den Zigaretten zu greifen. Er brauchte eine Pause. Von der Packung schrie ihm die Warnung vor einem baldigen und grauenhaften Tod entgegen, er zögerte und schloss die Schublade wieder, ohne sich auch nur ein Kaugummi zu nehmen.

»Warum zum Teufel sollte jemand dich umgebracht haben?«, murmelte er Lindas Foto auf dem Bildschirm zu.

Diesen Weg musste er gehen. Vielleicht sollte er gegen eins seiner vielen Prinzipien verstoßen. Wenn die Techniker am Tatort und anderswo bisher nada geliefert hatten, müsste er vielleicht ein wenig moderner denken. Es lag ihm nicht, nach dem Motiv zu suchen, ohne dabei auf mehr aufbauen zu können als dem eigentlichen Verbrechen, aber er war noch nie in einer Situation wie dieser gewesen. Genau eine Woche nach dem Mord trat die Ermittlung noch immer auf der Stelle. Sie hatten eine Menge Daten aus Vernehmungen, massenhaft weitere Berichte, die technischen Untersuchungen waren bereits zahlreich, aber nichts davon sagte ihm etwas, das ihn auf irgendeine Weise weitergebracht hätte.

»Warum musstest du sterben?«, fragte er, diesmal lauter.

Wenn er den Grund fände, aus dem Linda ermordet worden war, würde er den Täter finden, egal, wie gut der Kerl sich versteckt und seine Spuren verwischt hatte.

Der Kerl.

Er ertappte sich dabei, dass er bereits beschlossen hatte, dass es sich um einen Mann handelte. Das hätte er im Grunde nicht tun dürfen. Sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, war wichtig. Es war dennoch fast unmöglich, sich eine Frau mit den physischen Fähigkeiten vorzustellen, die dieser Mord erfordert hatte. Eine außergewöhnlich gute Schützin mit einem athletischen Körper.

Scharfsinnig musste sie sein, mit der Fähigkeit zu sorgfältiger Planung.

»Verdammter Scheißmacho«, murmelte er und öffnete die Schublade.

Um die Gräuelpropaganda nicht lesen zu müssen, fischte er mit halb geschlossenen Augen eine Zigarette aus der Packung. Gerade eben hatte er noch zum Rauchen nach draußen gehen wollen, jetzt ging er nur zum Fenster.

Natürlich konnte eine Frau athletisch, intelligent und eine außergewöhnliche Schützin sein. Er öffnete das Fenster. Es war ein eklatanter Verstoß gegen die Vorschriften, im Gebäude zu rauchen, aber er konnte nicht anders. Drei Lungenzüge später hatte sich sein Kopf ein wenig geklärt.

Selma Falck war so eine Frau. Sie hätte ein solches Attentat ausführen können. Abgesehen davon, dass sie nachweislich am anderen Ende des Zielfernrohrs gesessen hatte, in einem Straßencafé.

Und am Arm getroffen worden war.

Ohne diese Wunde besonders zu beachten. Während der Rekonstruktion des Tathergangs schien sie überhaupt keine Schmerzen gehabt zu haben. Obwohl sie eine Schlinge um den Hals trug, hatte er mehrmals gesehen, dass sie den Arm herauszog und benutzte.

Sie war hart im Nehmen. Ein wirklich harter Brocken, das hatte sie im vergangenen Jahr bewiesen. Intelligent war sie außerdem.

Und sie sah ziemlich gut aus. Das Alter spielte keine Rolle, wenn man sich so gut in Form hielt wie sie.

Er nahm noch einen tiefen Zug aus der Zigarette und ließ den Rauch langsam durch seine Nase und weiter aus dem Fenster entweichen. Eine warme Ruhe breitete sich in seinem Körper aus. Sogar seine Hose kam ihm jetzt trocken vor. Vielleicht sollte er den Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, für eine Weile unterbrechen. Bis Silvester jedenfalls. Noch drei Monate mit einer Zigarette ab und zu konnten unmöglich einen großen gesundheitlichen Unterschied ausmachen, wenn er bedachte, dass er schon mit sechzehn mit dem Rauchen angefangen hatte.

Selma Falck hatte Linda Bruseth gekannt. Sie waren Freundinnen gewesen. Wenn jemand ihm helfen könnte, ein mögliches Motiv für den Mord zu finden, dann sie. Vielleicht gerade sie. Vielleicht nur sie, wenn er sich das genauer überlegte. In gewisser Weise war sie eine Kollegin. Früher hatte er Privatermittler nicht leiden können, hatte sie eigentlich verachtet, jedenfalls die, die nicht ursprünglich aus den polizeieigenen Reihen kamen. Ermitteln, das war eine Ausbildung und ein Lebensstil und keine Rolle, in die ehemalige Journalisten oder eben Anwältinnen so einfach schlüpfen konnten.

Selma Falck war dennoch etwas Besonderes. Das musste er zugeben. Er loggte sich aus, griff nach seinem Handy und fand ihre Nummer direkt.

Es konnte weder ihm noch dem Fall schaden, sie zu einem Kaffee einzuladen.