Emilie

Selma spielte an ihrem Handy herum, las den SMS -Wechsel immer wieder.

Anine, besteht überhaupt eine Möglichkeit, dass ich Sjalg bald sehen kann? Für einen Spaziergang vielleicht? Ich kann so lange oder so kurz auf ihn aufpassen, wie du willst. Kuss von Mama.

Das mit dem Kuss war vielleicht ein bisschen zu viel gewesen. Als nach einer Stunde noch keine Antwort gekommen war, hatte sie noch einmal geschrieben.

Hallo! Hast du meine Nachricht bekommen? Ich möchte meinen Enkel so schrecklich gern sehen. Melde dich.

Idiotisch, das sah sie jetzt ein. In ihrer Formulierung lag ein versteckter Vorwurf. Sie wirkte verärgert, ein wenig herablassend. Als auch diese Mitteilung nicht beantwortet wurde, versuchte sie es ein weiteres Mal.

Hallo, Anine. Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast, und mir ist auch klar, dass du aus irgendeinem Grund böse auf mich bist. Wir können gern darüber reden, wenn du willst. Aber kannst du mich bitte auf Sjalg aufpassen lassen? Ich kann zu dir kommen und ihn dann in der Nachbarschaft spazieren fahren, gerne auch nur in deiner Nähe. Gruß, Mama.

Nach fünf Sekunden piepte ihr Handy.

Du musst doch einsehen, dass ich dich mit meinem Sohn nirgendwo hinlassen kann, solange jemand auf offener Straße auf dich schießt? Also echt, Selma, hör auf!

Das tat sie. Bei einer normalen Familie wäre sie wohl eingeladen worden, ihn zu Hause bei seiner Mama zu besuchen, wenn alles andere jetzt als so ungeheuer gefährlich galt. Normalität war leider keine passende Bezeichnung für das Verhältnis zwischen Selma Falck und ihren Kindern, deshalb gab sie auf. Das hier war eine Schlacht, die sie nicht gewinnen konnte.

Selma kannte ihre Stärken und Schwächen. Das hatte sie immer schon getan. Schon mit vier oder fünf Jahren hatte sie begriffen, dass sie sich nicht bloßstellen lassen durfte. Als ihre Eltern beschlossen hatten, aus den USA nach Norwegen zurückzukehren, mit zwei Kindern und einem lukrativen Patent im Gepäck, war das Leben ganz anders geworden. Ein Dasein im Spagat zwischen Silicon Valley und Hippiezeit, wo die Kinder sich zumeist selbst überlassen worden waren, wurde durch ein bürgerliches Westendleben in Wohlstand ausgetauscht. Die kleine Selma konnte nicht mehr barfuß in den Tag spazieren, ohne daran zu denken, ob es Zeit oder Geld für eine ordentliche Mahlzeit geben würde. Ihre Mutter, die streng genommen das Gehirn hinter dem in der Prothesenindustrie angesiedelten einträglichen Patent des Vaters gewesen war, hörte auf zu arbeiten. Bisher hatte sie an ihren Kindern nur begrenztes Interesse gezeigt. Zu Hause aber sollten die beiden Kleinen in eine Form gepresst werden, die die Mutter für Bewohner einer Villa in Smestad zu Beginn der Siebzigerjahre für angemessen hielt. Als sich das Patent auch für die Ölindustrie verwerten ließ, wurde das Regime noch strenger.

Selma lernte alles in Rekordzeit. Wenn sie tat, was Mama verlangte, wurde sie in Ruhe gelassen, wurde sogar ein seltenes Mal gelobt. Wenn sie versuchte, die zu sein, die sie ihre vier kurzen Jahre zu werden versucht hatte, war der Teufel los. Obwohl sie sich eigentlich in der einen Form am liebsten mochte, entwickelte sie die Kunst, zwei zu sein. Mamas Kleine war gestriegelt, gehorsam und eine gute Schülerin. Selma dagegen war ein fantasievoller Wildfang und schon als Kleinkind vom Adrenalin getrieben gewesen.

Ihre Eltern hatten sie nie gekannt. Ihr Bruder Herman wohl, aber den gab es nicht mehr. Das Heranwachsen hatte sie in unterschiedliche Richtungen geführt. Herman wurde düster. Selma wurde eine Meisterin in der Kunst der Verkleidung. Sie war gefesselt vom Sport und der Besessenheit, überall die Beste zu sein. Er las Bücher. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einem staubigen, abgelegenen Arbeitszimmer in der Universität. Er wurde nie mit seiner Doktorarbeit fertig, bei der es um einen Autor aus dem 18 . Jahrhundert ging, an dessen Namen sich Selma nicht einmal erinnern konnte.

Als Selma älter wurde, fiel ihr die Verstellung immer leichter. Die Mutter hatte ihr beigebracht, anderen angenehm zu sein. Das verschaffte ihr Freundinnen und Beliebtheit. Sie hatte gelernt, die eigentliche Selma zu bewahren, wozu auch gehörte, sich niemals richtig an jemanden zu binden. An niemanden außer ihren Bruder. Ein freier Mensch war jemand, der allem den Rücken zukehren konnte, ohne etwas zu verlieren. Diese Strategie hatte sich als nahezu perfekt herausgestellt. Sie hatte nur zweimal mit etwas oder jemandem ringen müssen. Der Tod ihres Bruders war eine Katastrophe gewesen. Sie hatte sich für zwei Tage eingeschlossen, und als sie wieder zum Vorschein kam, sprach sie nie wieder über ihn. Als sie vor weniger als zwei Jahren einen abrupten Bruch in Bezug auf ihre Arbeit und gegenüber ihrer Familie verarbeiten musste, war ihr das überraschend leichtgefallen. Beide Trennungen hatten eine Wendung zum Besseren bedeutet.

Selma Falck hielt sich Trauer und Kummer gegenüber für immun.

Nun saß sie an ihrem Ess- und Arbeitstisch und spürte, wie der Missmut in ihr aufstieg.

Sie hätte sich wegen Lars Sorgen machen müssen. Streng genommen hätte sie nach Ullevål fahren und feststellen müssen, ob sie helfen könnte. Vermutlich würde sie dort nichts für Lars und seine Familie tun können, aber Lars und seine Frau hatten zwei jüngere Kinder. Selma könnte anbieten, die beiden von der Schule abzuholen. Oder vielleicht Essen einzukaufen. Sie könnte eine Thermoskanne mit Kaffee füllen, es gab überhaupt eine lange Liste der Dinge, die ein Mensch in einer Krisensituation für einen anderen Menschen tun kann. Große und kleine Dinge.

Selma blieb nur sitzen.

Dass Kajsa Breien tot war, hatte sie überrascht. Sie konnte es nicht fassen. Die Frau hatte fünf Kinder und einen Mann und war außerdem eine geschätzte Angehörige des Obersten Gerichts in diesem Land. Sie war nicht einmal fünfzig gewesen. Das Ganze war eine Tragödie, ganz egal, ob sie sich wirklich das Leben genommen hatte. Für einen Moment, als Lars noch bei ihr gewesen war und ehe sie zum Duschen gegangen war, schien in ihr ein Funke von Interesse erwacht zu sein. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihr seltsam vor, es lag ein Ton darin, der ihr vage Assoziationen zu etwas gab, das sie nicht erfassen konnte. Danach hatte sie das alles verdrängt. Kajsa Breien ging sie nichts an. Jetzt ließ sie ihren Blick zwischen dem Foto von Sjalg an der Wand und dem Ordner hin- und herwandern, den Lars in der Eile vergessen hatte. Der Speicherstick lag auch noch da. Selma interessierte beides nicht, und sie schob die zwei Dinge weg.

Gerade jetzt hatte sie nur ein Ziel: ihren Enkel zu sehen.

Darauf musste sie sich konzentrieren.

Der Stalker musste entlarvt, die Wohnung sicher und Anine wieder einigermaßen umgänglich werden.

Die Polizei hatte offiziell noch nicht erklärt, dass sich das Attentat gegen Linda Bruseth gerichtet hatte. Es ärgerte Selma, dass sie so geheimnisvoll taten, und ihr kam der Gedanke, Kontakt zu Hauptkommissar Smedstuen aufzunehmen. Der musste doch begreifen, wie unangenehm es war, dass alle Welt Selma für das Ziel des Attentats hielt. Sie könnte ihm die insgesamt siebenunddreißig Anfragen von der Presse an sie zeigen, die zehn SMS und die sechs Anrufe allein von DG . Sie hatte auf nichts davon reagiert, was den Druck aber nicht mindern konnte.

Sie wollte eine offizielle Erklärung von ihm verlangen, das beschloss sie jetzt.

Anine würde sich mit einer Bestätigung zufriedengeben, wenn die von der Polizei käme. Von dem ungebetenen Gast, der in Selmas Wohnung Kindheitserinnerungen hinterlegte, hatte Anine glücklicherweise keine Ahnung.

Nur ihr anstrengender eingebauter Lügendetektor stand einem baldigen Friedensabkommen noch im Weg. Für einen Menschen, der in seiner gesamten Kindheit weniger Zeit mit der Mutter verbracht hatte als die meisten anderen, verfügte Anine über eine unbegreifliche Fähigkeit, ihre Mutter zu durchschauen. Sie würde ihre Unruhe bemerken. Vielleicht würde das Allerschlimmste passieren, und Anine würde glauben, dass Selma wieder mit Zocken angefangen hatte.

Vielleicht war das genau das, was sie tun müsste.

Nur eine einzige Nacht am Rechner würde Wunder wirken. Diese rastlosen Schmerzen in Muskulatur und Gliedern, die Schlaflosigkeit, die Konzentrationsstörungen, die kamen und gingen, alles würde so viel besser werden, wenn sie nur einige Stunden an dem virtuellen Pokertisch verbringen könnte. Anine wollte sie ja doch nicht sehen. Bis zur nächsten Begegnung würde sicher eine Woche vergehen. Mindestens. Wenn Selma nur heute Nacht spielte, oder vielleicht jetzt gleich, würde vermutlich Zeit genug vergehen, um sogar Anine zu täuschen.

Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Laptop aufklappte. Ihre Finger gaben die vertrauten Codes ein. Der Anblick des sich bewegenden Kartenspiels auf der Website des Spielforums in den USA hatte dieselbe physische Wirkung auf sie wie immer: ein segensreicher Stoß aus prickelnder Erwartung, der Klarheit in ihre Gedanken brachte und alle Unruhe besänftigte. Sie wollte sich gerade einloggen, als ihr Handy klingelte. Sie fuhr heftig zusammen, als wäre Anine plötzlich hereingeplatzt und hätte ihre Mutter bei ihrem Tun entlarvt. Sie knallte den Mac zu und griff nach dem Handy.

Fredrik Smedstuen, zeigte das Display an.

Sie wartete zwei Sekunden, nahm das Gespräch an und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Hallo«, sagte sie so neutral wie möglich.

»Hallo. Fredrik Smedstuen hier.«

»Ja, das sehe ich.«

»Ich wollte nur fragen …«

Er schien mühsam ein- und auszuatmen. Er rauchte, begriff sie nun.

»Könnten wir uns auf einen Kaffee treffen?«

»Kaffee?«

»Ja.«

»Warum denn?«

»Ich würde gern ein paar Sachen mit Ihnen besprechen.«

»Über den Fall?«

»Äh … ja.«

»Gibt es etwas Neues?«

»Es gibt immer etwas Neues.«

Noch ein Lungenzug und ein pfeifendes Ausatmen.

Das war auch eine Möglichkeit. Das war genau, was sie brauchte.

»Wann habt ihr denn vor, bekannt zu geben, dass ich nur ein zufälliger Zaungast war?«, fragte sie. »Es ist eine ziemliche Belastung, dass alle mich für das Ziel zu halten scheinen.«

»Sie wissen genug von Polizeiarbeit, um zu begreifen, dass wir uns in der Anfangsphase der Ermittlungen bedeckt halten müssen.«

»Es ist jetzt schon über eine Woche her.«

»Wir … wir treten ein bisschen auf der Stelle, um ehrlich zu sein. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen. Sie haben Linda Bruseth seit Ihrer Jugend gekannt. Wir haben ausführlich mit Vanja Vegge gesprochen, aber dabei ist leider nur sehr wenig herausgekommen.«

»Sie haben immerhin ihren Namen gelernt.«

»Was?«

»Nichts.«

»Also, was sagen Sie? Können wir uns treffen? Bald?«

Selma gab keine Antwort. In seiner Stimme schwang plötzlich ein neuer Klang mit. Etwas Verletzliches, fast Flehendes. Sie starrte den Laptop an.

Fredrik Smedstuen hatte sie vor einem Riesenpatzer gerettet.

»Wann denn? Gleich heute?«

»Das geht leider nicht, ich muss … Wie wäre es mit morgen? Welche Uhrzeit wäre Ihnen recht?«

Selma ließ sich Zeit, als ob sie in ihrem Terminkalender nachsehen müsste.

»Ich habe nur einen freien Slot, so gegen zwölf. Wir könnten zusammen zu Mittag essen.«

»Schön. Super. Wir können irgendwo in Ihrer Nähe hingehen, das ist weniger umständlich für Sie. Sagene Lunsjbar?«

Das war hundert Meter entfernt. Selma sagte zu und legte auf.

Vom Gong gerettet, dachte sie mit einem schrägen Blick zu ihrem MacBook. Sie hatte noch fast vierundzwanzig Stunden bis zu ihrem Treffen mit dem Hauptkommissar. Sie musste sich inzwischen irgendwie die Zeit vertreiben. Natürlich könnte sie noch eine Runde laufen oder zum Training ins Artesia gehen. Das half ein wenig gegen die Spannungen, das wusste sie, aber nicht viel länger als die Zeit, in der sie damit beschäftigt war.

Leon konnte tot sein.

Lars ging es jedenfalls ganz schrecklich schlecht. In diesem Moment. Selma sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte. Sie musste nach Ullevål, dachte sie noch einmal, als ihr Blick auf den Speicherstick fiel.

Wenn Leon starb, war der Inhalt des Sticks für Lars ohne Bedeutung.

Wenn der Junge überlebte und keine schlimmen Folgen davontrug, würde der Zugang zu den gesperrten Zip-Dateien ziemlich viel bedeuten. Sie griff nach dem roten Speicherstick und legte ihn in ihre Handfläche, während sie bereits über Methoden nachdachte, den Code zu knacken. Ihre Ideen waren entweder zu vage oder strikt verboten.

Ab und zu war das Einfachste das Beste, entschied sie.

Lars hatte Jonathans Lebensgefährtin erwähnt. Obwohl Selma ihre Passwörter immer für sich behielt, wusste sie, dass Paare oft die Passwörter vom jeweils anderen wussten. Sie googelte rasch per Handy und fand schon nach wenigen Sekunden Jonathan Herses Todesanzeige.

 

 

Unser geliebter Sohn,

mein bester Freund und Liebster,

der beste große Bruder und Onkel auf der Welt

 

Jonathan Henry Herse

geboren 27.03.1989

wurde am 17. August 2019 brutal von uns gerissen.

 

Tobben und Berit

Emilie

Kasper und Julia

Liam

Freunde und übrige Verwandte

 

Die Beisetzung würde in fünf Tagen stattfinden, und danach waren alle in die Räumlichkeiten der Forschungsstiftung FAFO in Grønland eingeladen.

Emilie hieß sie also. Wie ungefähr dreitausend andere in diesem Alter. Sie waren nicht verheiratet gewesen, Herse hieß sie also nicht. Selma fing an, aufs Geratewohl zu suchen. Jonathan und Emilie. Emilie liebt Jonathan. Jonathan Herse und Emilie.

Bingo.

Der erste Sommertag des vergangenen Jahres.

Jonathan Herse und Emilie Karina Sundet saßen auf den Felsen bei Huk, leicht bekleidet und lächelnd, zwischen sich einen Einmalgrill.

Die Mitteilung von Dagbladet , dass die Wettergottheiten zum ersten Mal in diesem Jahr die Temperatur auf zwanzig Grad springen ließen, erzählte Selma alles, was sie wissen musste. Die Kleine hatte noch dazu einen Doppelnamen. Das wird einfach, konnte Selma gerade noch denken, ehe ein Blick ins Telefonbuch genau das bestätigte.

Vermutlich war Emilie Sundet um diese Tageszeit bei der Arbeit. Eine weitere Suche ergab, dass sie als Sachbearbeiterin beim Planungs- und Bauamt in Oslo arbeitete. Dieses Amt gehörte zu den meistbeschäftigten öffentlichen Behörden, aber Selma ging davon aus, dass eingehende Anrufe noch über eine Telefonzentrale an die Anschlüsse in den einzelnen Büros weitergeleitet wurden. In der freien Wirtschaft wurden Einzelanschlüsse jetzt immer üblicher. Selma begriff nicht, weshalb, aber sie könnte doch einen Versuch machen.

Dennoch zögerte sie.

Dieser Fall ging sie nichts an.

Sie hatte genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun. Andererseits: Das hier war etwas, das sie für Lars tun konnte. Und für sich selbst, wenn sie noch einmal genauer darüber nachdachte. Es war unerträglich, einfach still zu sitzen.

Emilie Karina Sundet meldete sich nach nur einem Klingeln. Sie war so erkältet, dass sie sich mit einem verzweifelten »Ebilie« meldete. Selma machte es wie immer, sie lächelte so strahlend, dass es auch durch die Telefonleitung zu hören war.

»Hallo. Mein Name ist Selma Falck. Störe ich?«

»Äh … nein.«

Sie sagte »dein«, Selma hoffte, dass sie im Bett lag, dick in Decken eingewickelt.

»Ich bin heute nicht im Büro«, sagte jetzt die helle Stimme. »Bin furchtbar erkältet, das hören Sie vielleicht. Sind Sie übrigens … also, meinen Sie die Selma Falck?«

Selma lachte kurz.

»Doch. Ja. Ich bin Selma Falck. Meines Wissens heißt sonst niemand so.«

»Was kann ich für Sie tun?«

Selma griff nach dem Speicherstick. Der fühlte sich kalt an.

»Es geht um Jonathan«, sagte sie ruhig. »Um eine Sache, an der er vor seinem Tod gearbeitet hat.«

»Was?«

Die Leitung rauschte, Emilie hustete heftig.

»Eine Sache«, wiederholte Selma, »mit der er nicht mehr fertig geworden ist. Im Zusammenhang damit hat er einen Speicherstick hinterlassen, über den ich gern mit Ihnen sprechen würde.«

Neues Husten, gefolgt von einem heftigen Niesen. Als Emilie endlich wieder sprechen konnte, war Selma nicht sicher, ob sie weinte.

»Ich weiß eigentlich nicht, wie ich Ihnen da helfen soll«, sagte Emilie. »Wir haben ab und zu darüber gesprochen, woran er gerade arbeitete und so, aber in der letzten Zeit vor dem Unfall war er … irgendwie abwesend. Ich dachte, vielleicht … ich weiß nicht so ganz.«

»Er hat an etwas gearbeitet, das ziemlich kompliziert wirkt«, sagte Selma. »Es wäre vielleicht das Beste, wenn ich bei Ihnen vorbeischauen könnte?«

»Jetzt? Heute?«

»Tja. Mir ist es recht, wenn Sie denn einen Krankenbesuch vertragen können. Brauchen Sie irgendwas? Ich könnte für Sie einkaufen. Nur ein kurzer Besuch.«

»Ja …« Emilie Sundet zögerte. »Geben Sie mir noch etwas Zeit, damit ich duschen kann.«

»Natürlich. Sagen wir, in einer Dreiviertelstunde? Bergensgate 4 , nicht wahr?«

»Ja. Genau gegenüber von Mat & Mer. Und … könnten Sie einen Caffè Latte mit Hafermilch mitbringen?«

»Das kann ich, ist doch klar.«

Das Gespräch wurde beendet. Die Bergensgate lag fünf Minuten entfernt. Selma hatte mehr als genug Zeit. Rasch schob sie den Laptop in eine Hülle, holte ihre große Ledertasche und sah aus dem Fenster. Es war noch immer trocken. Sie steckte den Speicherstick in die Tasche, ließ den Ordner mit den vielen Jugendamtsfällen jedoch liegen. Auf dem Gang zog sie ihre Jenny-Skavlan-Jacke an und schob sicherheitshalber einen zusammenklappbaren Regenschirm in die Tasche. Ihr Arm machte ihr immer weniger zu schaffen, und sie zog die Schlinge aus der Manteltasche und legte sie weg. In der verbleibenden Dreiviertelstunde könnte sie noch etwas essen, ehe sie Emilie Sundet besuchte.

Noch einmal dachte sie kurz an Lars und den kleinen Leon.

Sie hoffte, dass der Junge noch lebte, denn wenn nicht, wäre ihr Einsatz hier ganz und gar vergebens.