Emilie Karina Sundet wohnte in einem Klinkerblock, dessen Errichtung Selma auf die Fünfzigerjahre schätzte. Die letzte halbe Stunde hatte Selma im Mat & Mer im Erdgeschoss des Gebäudes verbracht. Sie hatte einen langweiligen Salat gegessen und auf dem Handy Zeitungen gelesen. Der NAV -Skandal war abermals in allen Medien. Selma hatte ihn bereits satt. Wenn sie noch immer Anwältin gewesen wäre, sähe die Sache vielleicht anders aus. Zwei der prominentesten Verteidiger taten bereits kund, dass sie auf der Jagd nach Gerechtigkeit für die Betroffenen jeden Stein umdrehen würden. Dass die meisten von ihnen vollkommen falsche Auslegungen der EWR -Vorschriften zugrunde gelegt und damit zu den Justizirrtümern beigetragen hatten, sagten sie nicht so laut.
Selma stieg die Treppe in den zweiten Stock hoch.
Emilie Sundet erwartete sie in der Türöffnung. Sie trug einen gelben Trainingsanzug, der zu groß für sie war. Auf der Brust stand in großen schwarzen Buchstaben LSK , die Abkürzung des Fußballvereins von Lillestrøm. Selma vermutete, dass der Anzug von Jonathans Seite im Kleiderschrank stammte.
Emilie Sundet sah wirklich elend aus.
Ihr Gesicht war blass, mit feuerroten Halbmonden um die Nasenflügel. Ihre Augen waren rot unterlaufen und trieften. Sie nieste nachdrücklich, als Selma den richtigen Treppenabsatz erreichte. Selma blieb stehen.
»Entschuldigung«, sagte Emilie und streckte die Hand aus, ehe sie zurückzuckte und die Hand hinter ihrem Rücken versteckte. »Ich will Sie nicht anstecken. Wo Sie doch gerade erst angeschossen worden sind und überhaupt.«
»Ich habe eine Immunabwehr wie ein Elefant«, sagte Selma lächelnd und ging weiter, als die Frau zurückwich. »Kein Problem.«
»Die fressen gegenseitig ihre Exkremente«, sagte Emilie und ging vor Selma her in ein kleines Wohnzimmer.
»Was?«
»Elefanten. Um ihre Immunabwehr zu kräftigen, unter anderem.«
»Ach ja? Interessant.«
Selma sah sich um. Das Zimmer war vielleicht zwanzig Quadratmeter groß. Es war vollgestopft. Vor dem Fenster stand ein flaschengrünes Cordsofa, das mit bunten Kissen bedeckt war. Der Couchtisch hatte schon bessere Tage gesehen. Er stammte aus den Sechzigerjahren und hatte schräg stehende Beine und eine Ablage für Zeitungen und Zeitschriften unter der abgenutzten, matten Tischplatte. Dort lag bestimmt schon ein Kilo Papier. Scientific American , bemerkte Selma, und einige National Geographic. Der Stapel Exemplare einer Zeitschrift, von der Selma noch nie gehört hatte, Fauna, war so hoch, dass er neben einem gelben Ohrensessel auf dem Boden abgelegt worden war. Die Armlehnen waren so verschlissen, dass das Polster an mehreren Stellen hervorquoll. Überall lagen kleine Figuren von Tieren und Gebäuden, Schachteln mit Puzzlespielen und jede Menge Bücher. In einem Regal neben der Küchentür, wie Selma annahm, lag eine Steinsammlung. Die Wände waren fast vollständig bedeckt mit Bildern in einem wilden Stilgemisch, scheinbar ohne Sinn und Zweck, außer dem, die angejahrte Strohtapete zu verdecken.
Die Wohnung sah aus, als gehörte sie einem exzentrischen, unverheirateten und alternden Professor.
»Jonathan hatte offenbar viele Interessen«, sagte Selma mitfühlend und wusste nicht so recht, wohin sie sich setzen sollte.
»Nehmen Sie den hier«, sagte Emilie und zeigte auf den Ohrensessel. »Dann setze ich mich auf das Sofa, so weit von Ihnen entfernt wie möglich. Und nein. Jonathan hat sich nur für seine Arbeit interessiert. Und für Fußball. Für nicht viel mehr. Ich dagegen …«
Sie versuchte erfolglos, ein weiteres Niesen zu unterdrücken. »Entschuldigung«, sagte sie, während ihre Tränen flossen. »Ich bin Zoologin.«
»Zoologin? Arbeiten Sie nicht im Planungs- und Bauamt?«
»Doch. Wenn Sie keine dem Studium entsprechende Arbeit finden wollen, dann werden Sie Zoologin. Der Arbeitsmarkt für uns ist klein in Norwegen. Und während ich suche, muss ich anderswo Geld verdienen.«
Selma setzte sich.
»Was wollen Sie?«, fragte Emilie. »Wirklich, meine ich.«
Ihre Iris war so hellblau, wie das überhaupt nur möglich war, ohne mit dem Weiß des Augapfels zu verschwimmen. Vermutlich verbrachte sie sonst jeden Morgen viel Zeit mit Schminken, denn Wimpern und Brauen waren in natürlichem Zustand fast kreideweiß. Ihre Haare waren dünn und weizenblond. Selma musterte sie, während Emilie noch eine Runde mit dem Papiertaschentuch hinter sich brachte.
Vielleicht sollte sie einfach ehrlich sein.
»Zuerst möchte ich Ihnen mein Beileid zu Jonathans Tod aussprechen«, begann sie und räusperte sich leise. »Wirklich. Das muss jetzt eine schwere Zeit für Sie sein.«
»Ja. Auf jeden Fall, aber für seine Familie ist es schlimmer als für mich. Wenn die Wohnungspreise hier in der Stadt nicht so wahnsinnig hoch wären, hätten wir uns im Sommer vermutlich getrennt. Seitdem hat er mehr Zeit mit seinem besten Freund verbracht als mit mir.«
»Ich will Sie nicht lange belästigen«, sagte Selma in der Hoffnung, eine engere Bekanntschaft mit der jungen Frau vermeiden zu können. »Also frage ich lieber gleich …«
Sie hob den Hintern ein wenig, um den Speicherstick aus der Tasche ziehen zu können.
»Das hier hat Jonathan in der Redaktion hinterlassen.«
»Ein USB -Stick.«
»Ja. Der enthält einige Dateien, die für einen Kollegen von ihm von journalistischem Interesse sein können.«
»Und warum fragt mich dann nicht der Kollege?«
»Weil er gerade beschäftigt ist. Ich tue ihm einen Gefallen.«
»Na gut. Ich dachte, Sie seien Detektivin. Aber was kann ich für Sie tun? Sie haben in echt übrigens größere Ähnlichkeit mit dieser amerikanischen Schauspielerin als auf den Fotos. Sehr große sogar.«
Seit Selma in einem Interview mit dem NRK kurz vor Weihnachten endlich über ihre Ähnlichkeit mit Mariska Hargitay aus der Fernsehserie Law and Order: SVU gesprochen hatte, gab es dazu kaum noch Kommentare. Was ein Segen war. Selma merkte, wie ihre Irritation wuchs.
»Ach was. Was ich brauche, ist das Passwort.«
»Das weiß ich doch nicht! Über so was haben wir nie gesprochen.«
»Sind Sie sicher? Darf ich einige Kombinationen ausprobieren?«
»Natürlich. Fangen Sie an.«
Emilie griff nach einer Tube Mentholsalbe auf dem Tisch, während Selma den Laptop auspackte. Nachdem sie den Verschluss abgedreht hatte, presste Emilie einen dicken Klumpen der transparenten, kräftig riechenden Salbe heraus und schmierte sich damit die Haut unter und neben der Nase ein.
»Was ist Ihr Geburtsdatum?«, fragte Selma so freundlich sie konnte.
»Was wollen Sie damit?«
»Einige Codes testen.«
»23 . April.«
»Welches Jahr?«
»1995 .«
Selma überlegte kurz, ehe sie die nächstliegende Lösung versuchte.
Emilie230495 .
Wrong Password.
Selma hatte an der Computerfront viel mehr Erfahrung als Lars und hatte deshalb keine Angst, dass die Datei nach drei falschen Passwörtern endgültig gesperrt würde oder sich auflöste. Sie versuchte deshalb ihr Glück mit immer neuen Kombinationen von Jonathans vielleicht nicht mehr so sehr geliebter Freundin und ihrem Geburtsdatum.
»Kommen Sie irgendwie weiter?«, fragte Emilie und nippte an ihrem Latte mit Hafermilch, den Selma auf den Tisch gestellt hatte.
»Na ja. Nein. Hatte Jonathan einen Hund? Eine Katze? Irgendein anderes Tier?«
»Großer Gott, nein! Er hatte eine Sterbensangst vor Tieren. Totale Panik. Null Interesse an Tieren überhaupt. Das gehörte zu den Dingen, über die wir uns gestritten haben. Ich hatte mir einen Hund gewünscht. Oder noch lieber ein Terrarium. Jetzt kann ich ja machen, was ich will. Ich werde mir eine Bartagame zulegen, sowie ich mir das leisten kann. Oder eigentlich ein Paar. Damit ich Junge bekommen kann. Oder … also, damit die Junge bekommen können.«
Selma begriff nun langsam, dass diese Beziehung nicht unbedingt ein Riesenerfolg gewesen war.
Sie hätte niemals herkommen dürfen.
»Ich komme wohl nicht weiter«, sagte sie und packte den Laptop ein. »Aber den Versuch war es wert. Tausend Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.«
Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf eine Sammlung von Fotorahmen in einem Regalfach. Vor allem ein Bild erregte ihr Interesse. Sie trat zwei Schritte näher. Um die eine Ecke des Rahmens war ein samtener Trauerflor gewunden.
»Ziemlich grotesk«, sagte Emilie vom Sofa her. »Das steht vor allem anstandshalber da. Bis auf Weiteres, jedenfalls. Jonathans Eltern haben allen, die ihn kannten, so eines geschenkt. Jedenfalls allen, die ihm irgendwie … nahegestanden haben. Ich hätte ja ein schönes Foto von ihm zu Lebzeiten als Erinnerung besser gefunden. Der, der da vorn rechts zu sehen ist, ist übrigens der, den ich vorhin erwähnt habe.«
»Wer denn?«
»Allan. Allan Strømme. Jonathans bester Freund, schon seit ihrer Kindheit.«
Das Bild war aufgenommen worden, während der Sarg mit Jonathans sterblichen Überresten aus der Kapelle getragen wurde. Als Foto betrachtet war es gut. Der Winkel stimmte nicht ganz, weshalb die Gesichter der Sargträger im Mittelpunkt standen. Es waren nur Männer.
Emilie war aufgestanden. Sie trat zum Glück nicht dicht an Selma heran, sondern blieb zwei Meter von ihr entfernt stehen.
Selma achtete nicht auf sie. Sie konzentrierte sich auf den Mann vorne rechts, von dem sie sicher glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern, wo.
»Allan Strømme«, wiederholte sie leise. »Und wo arbeitet er?«
Aber sie hätte nicht zu fragen brauchen. Sie wusste wieder, wo sie ihn gesehen hatte. Auf einem Bild in einer Zeitung. In Aftenavisen , da war sie sich sicher, als Lars und sie nach Informationen über die Führende Beraterin Alvhilde Leonardsen im Kinder- und Familienministerium gesucht hatten. Die Frau hatte jubelnd dagestanden, umgeben von drei schweißnassen Männern aus der Mannschaft, die bei der Holmenkollstafette in der Klasse Mix-Teams mit Mehrzahl Frauen den zwölften Platz geholt hatte. Sie hatten das Büro des Generalstaatsanwalts mit siebzehn Sekunden geschlagen und waren sichtlich stolz darauf gewesen. Allan Strømme hatte mit einer Flasche Gatorade in der Hand am Rand der Gruppe gestanden.
»Allan?«, fragte Emilie. »Allan ist Jurist und Soziologe. Er arbeitet im Kinder- und Familienministerium. Jonathan und Allan waren unzertrennlich. Seit dem Sommer hingen sie wie gesagt fast pausenlos zusammen.«
Sie nieste noch einmal, dann fügte sie hinzu: »Es war fast, als ob die beiden ein Geheimnis hätten.«