Freitag, 13 . September

Lunch

Ein Glückstag, das war es. Trotz des Datums.

Leon Winther hatte seine dramatische Begegnung mit dem Sattelzug überlebt. Um Haaresbreite, diesen Eindruck bekam Selma, als Lars sie an diesem Morgen um halb sechs anrief. Da sie nun endlich einmal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, hätte er durchaus bis später warten können, aber es ist bekanntlich schwer, gute Nachrichten für sich zu behalten. Er weinte am Telefon und erzählte mehr über die dramatischen Stunden, als Selma streng genommen interessierte. Da er sie nun schon einmal geweckt hatte, verband sie ihre Ohrstöpsel mit dem Handy und verließ ihr Bett, während sie redeten.

Während er redete, genauer gesagt. Denn das tat er. Er hörte nicht auf. Erzählte von einem gebrochenen Becken und einer Operation, die sieben Stunden gedauert hatte. Von einem Fast-Herzstillstand und einer Ehefrau, die am Ende in Ohnmacht gefallen war. Von fantastischen Ärzten und den Kaffeemengen, die er in sich hineingegossen hatte. Am Ende musste sie vorgeben, die Verbindung sei unterbrochen worden. Sie schickte ihm sofort eine SMS , um ihn an einem weiteren Anruf zu hindern: Lieber Lars, wunderbare Nachrichten! Widme deine Kraft deiner Familie, wir reden später. Das Beste auf der Welt dir und den Deinen, Selma.

Leon lebte, und der Besuch bei Emilie Sundet war damit keine vergeudete Zeit.

Lars würde demnächst wieder so sein wie immer. An diesem Morgen hatte Selma für einen Moment den Drang verspürt, ihn zu unterbrechen und ihm vom gestrigen Glückstreffer in der Bergensgate zu erzählen, aber das wäre vermutlich eine Zumutung gewesen. Er hatte jetzt wirklich anderes im Kopf.

Als sie um fünf vor zwölf an diesem Vormittag die Sagene Lunsjbar betrat, bereute sie fast, sich zu dem Treffen mit Fredrik Smedstuen bereit erklärt zu haben. Sie hatte den Vormittag genutzt, um sich davon zu überzeugen, dass Allan Strømme noch immer im Kinder- und Familienministerium arbeitete und dass er in Mortensrud wohnte. Selmas erster Impuls war gewesen, den Burschen anzurufen, aber sie begriff rasch, dass das eine Dummheit wäre. Alle Logik sagte, dass er Jonathans Quelle im Ministerium gewesen war. Es konnte sogar sein, dass seine Tonaufnahmen in der Zip-Datei auf Jonathans Speicherstick verewigt waren. Und wenn das so war, dann sah sie hier eine Möglichkeit, sich die Dateien zu besorgen, ohne das Passwort knacken zu müssen.

Dass der Mann sich als kooperativ erweisen würde, war dagegen alles andere als sicher. Ein Plan musste her, und den musste Selma allein entwerfen. Zuallererst aber musste sie das verabredete Mittagessen hinter sich bringen.

Sie hätte ihn fast nicht erkannt.

Der Hauptkommissar war schon vor Ort und saß an einem Fenstertisch. Das Restaurant war fast leer. Er hatte sich die Haare geschnitten. Total. Sein Schädel war glatt geschoren, nur ein vager Schatten zeichnete ein Muster, das verriet, dass es keine guten Wachstumsbedingungen für die wenigen noch vorhandenen Strähnen gegeben hatte. Die struppigen, zusammengewachsenen Augenbrauen waren zu zwei ziemlich scharfen Adlerschwingen gestutzt worden. Sein Hemd, das sonst immer hellblau und zerknittert war, war einem weißen, frisch gebügelten gewichen. Dieses Hemd passte gut zu der Chino-Hose, die Selma für einen Moment unter dem Tisch erkennen konnte. Als sie sich setzte, registrierte sie, dass er frisch geduscht roch, ohne den geringsten Hauch von Zigarettenrauch oder Fisherman’s Friend.

»Sie sehen aber gut aus!«, rief sie. »Geniale Idee, sich die Haare zu schneiden.«

»Danke«, murmelte er und winkte der Kellnerin. »Wie geht’s dem Arm?«

»Ach, der«, sagte Selma leichthin und griff sich an die Schusswunde, wo sie morgens den Verband hatte wechseln müssen. »Merke kaum noch was. Gutes Heilfleisch. Ich muss bald die Fäden ziehen lassen.«

Er schob ihr die Speisekarte hin.

»Ich lade Sie ein«, sagte er. »Nehmen Sie, was Sie wollen. Auch Bier, obwohl es noch früh am Tag ist.«

»Ich trinke nicht«, sagte Selma.

»Ach ja. Genau. Das wusste ich doch.«

»Ich hätte gern einen Geflügelsalat. Und eine Pepsi Max mit Eiswürfeln. Worüber wollen Sie mit mir sprechen?«

»Sie kommen ja gleich zur Sache!«

»Das ist wohl das Beste für uns beide.«

Die Kellnerin, eine zierliche Frau mit rosa Strähnchen in den Haaren, kam zu ihrem Tisch. Fredrik bestellte.

»Also«, sagte er, als sie wieder allein waren, »es geht, wie Sie sich sicher schon gedacht haben, um Linda Bruseth.«

Selma ließ sich nicht einmal zu einem Nicken herab.

»Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es einwandfrei sie war, die der Mörder zum Ziel hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes, sozusagen.«

Sein Lächeln wirkte fast töricht, und rasch wurde er wieder ernst.

»Wenn das unter uns bleiben kann, ist das so ungefähr das Einzige, was wir zu wissen glauben.«

»Keine Spuren?«

»Es ist noch zu früh in den Ermittlungen.«

Selma beugte sich ein klein wenig vor.

»Diese Floskel bedeutet nur eins«, sagte sie leise. »Dass ihr rein gar nichts habt. Ihr müsst euch einen neuen Spruch dafür ausdenken, dass ihr auf der Stelle tretet.«

»Sicher. Aber …«

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er schien sich in den neuen Kleidern nicht richtig wohlzufühlen. Mit der Frisur auch nicht, immer wieder fuhr er sich mit der Hand über den unerwartet glatten Schädel.

»Um es so zu sagen, wie es ist«, sagte er endlich, »wir können einfach kein Motiv für den Mord an Linda Bruseth finden. Sie war doch wirklich eine Unschuld vom Lande.«

»Na ja, das mit der Unschuld ist so eine Sache«, sagte Selma. »Aber ich verstehe, was Sie meinen. Sie konnte wirklich keiner Fliege was zuleide tun.«

»Egal, ob Sie das für eine Floskel halten, es ist noch sehr früh in der Ermittlung. Wir gehen alles in Linda Bruseths Leben durch. Finanzen, Konflikte, Freundschaften …« Er zögerte für einen Moment.

»… und Politik. Wir haben gerade erst angefangen. Aber vorläufig …«

Nun hob er die Hände.

»… scheint da alles in Ordnung zu sein«, vollendete Selma den Satz für ihn.

»Ja. Jedenfalls im privaten Bereich. Mails, SMS , soziale Medien, Telefonlisten … wir gehen alles durch. Sie scheint in einer überaus zufriedenstellenden Ehe gelebt zu haben. Die Söhne sind gut geraten und machen ihren Weg, der Älteste hat sich sogar soeben bereit erklärt, den Familienhof zu übernehmen. Genau, wie die Eltern es sich immer gewünscht haben. Linda und Ingolf haben bescheiden gelebt, an ihrer Finanzlage gibt es nichts auszusetzen. Im Gegenteil, sie haben Geld gespart. Nicht gerade ein Vermögen, aber genug, um ihr Altenteil zu renovieren, wenn es so weit ist, und um dann noch einen ganzen Batzen übrig zu haben. In ihrem Heimatdorf ist sie nicht nur beliebt, ich würde sagen, sie wurde …«

Er schnalzte mit der Zunge, wie um das Wort auszukosten. »… geliebt. Geschätzt. Sie war sehr populär.«

»Das galt aber nicht für das Parlament.«

»Tja. Ich glaube nicht, dass irgendwer da sie nicht leiden konnte. Nicht nach allem, was wir bisher herausgefunden haben. Es ist eher so, dass sie da einfach nicht hingehört hat. Das Parlament war zu groß für sie. Ich habe mit zweien ihrer Kollegen aus Vestfold gesprochen, und beide sagen, sie wäre nicht wieder nominiert worden.«

Die Kellnerin brachte Pepsi und Wasser. Selma und Fredrik warteten schweigend, bis sie die Gläser gefüllt hatte und verschwunden war.

»Das wollte sie doch auch nicht«, sagte Selma leise. »Darüber haben wir am Donnerstag gesprochen. Unmittelbar vor ihrem Tod. Sie hat furchtbar bereut, dass ein sicherer Listenplatz sie damals verführt hat.«

Fredrik nickte.

»Das ist auch mein Eindruck. Das Allerseltsamste ist, dass … na ja, Sie wissen schon, Politikerinnen und Politiker hierzulande sind allerlei Hetze und Mist ausgesetzt. In sozialen Medien, über Mail, SMS , überall.«

»Aber Linda nicht.«

»Doch.«

Selma fühlte sich ein wenig verwirrt.

»Nein … Wir haben einige Male darüber gesprochen, und sie hat gesagt, dass sie von niemandem schikaniert wurde.«

»Aber das wurde sie. Nicht sehr, und was ihr geschrieben wurde, gehört nicht zu dem Schlimmsten, was ich gesehen habe. Aber trotzdem.«

»Worum ging es dabei?«

»Sie war Federführende für einen Dokument-8 -Vorschlag.«

Er griff nach seinem Glas und leerte es zur Hälfte, ehe er weitersprach: »Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich nicht so ganz, was ein Dokument-8 -Vorschlag überhaupt ist, aber …«

»Eigentlich heißt das Abgeordnetenvorschlag«, sagte Selma. »Es kann sich um den Haushalt handeln, um Gesetzesvorschläge und andere Dinge, und so ein Antrag wird von Abgeordneten eingebracht. Nicht von der Regierung, wie es sonst üblich ist. Genau wie die großen Vorschläge werden solche Anträge an den zuständigen Ausschuss weitergereicht, der dann dem Parlament seine Einschätzung mitteilt. Das ist wie … ach, vergessen Sie es.«

Sie merkte schon, dass dieses Treffen sich bezahlt machte. Dass Linda federführend für einen Antrag gewesen war, den Zugang zu Eilentscheidungen in Sachen Jugendschutz zu erleichtern, hatte sie bereits am vergangenen Montag herausgefunden. Diese Entdeckung zeigte ihr nun eine haarfeine Verbindung zwischen Jonathan Herses unvollendetem journalistischen Projekt und ihrer toten Freundin. Sie hatte das vorerst als Zufall verbucht. Jetzt war sie nicht mehr so sicher.

»Jedenfalls«, sagte Fredrik, »ist in diesem Zusammenhang das hier bei ihr eingelaufen.«

Er wischte einige Sekunden lang auf seinem Handy herum und reichte es dann Selma. Sie griff danach und sah ein Word-Dokument, das sieben Textnachrichten wiedergab: Wir vergeben dir nicht, denn du weißt, was du tust , lautete die erste.

Nicht so schlimm, dachte Selma und las weiter.

Satan wird dich holen. Wir wissen, wo du wohnst.

Platt und komisch, dachte sie.

Dieser Vorschlag wird zu einer weiteren Verschärfung einer Politik führen, die bereits den Menschenrechten und der Kinderrechtskonvention widerspricht. Hüte dich.

»Das kann eigentlich nicht als Bedrohung betrachtet werden.«

Sie hielt das Handy so, dass er sehen konnte, worauf sie zeigte, ehe sie die restlichen Mitteilungen überflog.

»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte sie und reichte ihm das Handy zurück. »Sehr viel Schlimmeres.«

Er nickte.

»Das weiß ich auch, wie gesagt. Das können Sie mir glauben. Aber …«

Er drückte sich Daumen und Zeigefinger auf die Augen und rieb heftig. Es sah aus, als ob er verzweifelt versuchte, wach zu werden. Als er endlich aufblickte, waren seine Augen rot.

»Sie haben gehört, dass die Richterin Kajsa Breien vom Obersten Gericht tot ist?«

»Äh … ja! Yesterday’s news , Fredrik. In doppelter Hinsicht.«

»Sie soll sich das Leben genommen haben.«

»Davon glaube ich kein Wort.«

Sein Blick traf ihren.

»Sie auch nicht?«

Die Frau mit den rosa Strähnchen war wieder da. Sie stellte Selma den Salat und Fredrik den Hamburger mit Roquefortcreme hin, wünschte guten Appetit und verschwand.

Ihre Blicke hafteten noch immer aneinander.

»Nein«, sagte Selma endlich. »Das glaube ich nicht.«

»Ich auch nicht. Sowie der Fall bei uns ein Dossier bekommen hat, wird er als Mord untersucht werden. Es ist so offenkundig, dass man darüber lachen könnte. Wenn es nicht so ernst wäre.«

Sie rührten beide ihr Essen nicht an, griffen nicht einmal zum Besteck.

»Haben Sie sie gekannt?«, fragte Fredrik. »Richterin Breien?«

Selma deutete ein Schulterzucken an. Sie griff sich an die Schusswunde, ließ aber fast sogleich wieder los.

»Nach der heutigen Verwendung der Redensart ›jemanden kennen‹, ja. Unbedingt. Und auch wenn überraschende Selbstmorde durchaus kein unbekanntes Phänomen sind, so wurde ich gelinde gesagt extrem skeptisch, als ich die … Gerüchte hörte.«

»Ich bin der Frau nie begegnet«, sagte Fredrik. »Aber zum Ausgleich habe ich den Tatort gesehen.«

Er schaute auf seinen Teller, hob Messer und Gabel und schnitt vorsichtig ein kleines Stück von seinem Burger ab. Er erwischte nur ein bisschen Brot. Selma setzte die Ellbogen auf beide Seiten ihres Tellers und legte das Kinn auf eine Faust.

»Darf ich fragen, warum Sie Kajsa Breien in diesem Zusammenhang erwähnen?«

Er schnitt sich ein größeres Stück ab und steckte es in den Mund, kaute sorgfältig und lange, schob noch ein Stück nach und kaute noch energischer, ehe er das Besteck hinlegte und sich mit einer Serviette den Mund wischte.

»Sie dürfen fragen, ja. Die Antwort ist eher so …«

Er hob seine rechte Hand auf Gesichtshöhe und bewegte die fleischige Pranke in einer flachen Kurve eilig hin und her.

»Weiß nicht so ganz, was ich sagen soll«, sagte er. »Aber ich habe so ein Gefühl.«

»Das ist ein bisschen vage, finde ich.«

»Ja.«

Selma wusste genau, womit er sich abmühte. Als sie sich mit Hauptkommissar Fredrik Smedstuen in der Besenkammer des Ullevål-Krankenhauses getroffen hatte, an einem Tag, der unglaublicherweise erst eine Woche her war, war er ein Fremder gewesen. Dennoch kannte sie seinen Typ. Sie hatte während ihrer gesamten Karriere als Anwältin Erfahrungen mit Leuten wie ihm gemacht.

An solchen Polizisten war nichts auszusetzen. Im Gegenteil, Selma hatte bessere Erfahrungen mit ihnen gemacht als mit den blitzgescheiten, eifrigen Strebern. Die ihrerseits waren oft jünger als Fredrik und sahen in der Regel eine so strahlende Zukunft vor sich, dass sie weder Zeit noch Lust hatten, sich mit langweiligen Fällen zu beschäftigen.

Sehr viele Fälle bei der Polizei waren langweilig.

Sie mussten aber trotzdem bearbeitet werden.

Hinter Fassaden wie der von Fredrik Smedstuen verbarg sich ein seltenes Mal reines Gold. Die zähe Geduld und der Wille, die Zeit zu nutzen, konnten zu einem ziemlich einzigartigen Schatz an Erfahrungen führen. Der Mann war offenbar nicht faul. Er war neugierig, auch wenn er viel Kraft aufgewandt hatte, um dieses Bedürfnis zu töten. Als sie ihm im Krankenhaus begegnet war, hatte sie ihn fast sofort nicht leiden können. Jetzt war sie sich da nicht so sicher. Da war etwas Neues in seinem Blick, etwas Scharfes, Rasches und Abschätzendes. Er hatte sich ermannt, sie einzuladen, aber er hatte noch nicht entschieden, ob er ihr vertrauen konnte. So, wie er da saß, das Besteck abwechselnd in den Händen und auf dem Tisch, sah sie auch eine Nervosität, die nicht nur fallbezogen war.

Fredrik begriff offenbar ein wenig zu spät, dass es peinlich war, einen riesigen Hamburger zu bestellen, wenn Selma sich mit einem kleinen Salat zufriedengab. Nun war er nicht ganz sicher, wie er den Hamburger verzehren sollte, ohne zu betonen, dass er übergewichtig war. Er nahm noch ein Stück und bohrte die Gabel vorsichtig in eine Bratkartoffel.

»Machen Sie schon«, sagte Selma. »Das bleibt unter uns. Was also sagt Ihr … Gefühl? Bezogen auf den Fall, meine ich.«

»Auf diese Fälle«, korrigierte er, als er fertig gekaut hatte. »Sie erinnern sich doch an Birger Jarl Nilsen?«

»Natürlich. Ich bin ihm zweimal begegnet.«

Sie lächelte und fügte hinzu: »Übrigens zusammen mit Ihnen. Beide Male.«

Der Polizist schob seinen Teller zur Seite.

»Er meint, dass der Mord an Linda Bruseth etwas Seltsames an sich hat«, sagte er und faltete seine Serviette zusammen. »Etwas anderes, unabhängig von der Tatsache, dass er unbegreiflich ist. Etwas Demonstratives, als sei es darum gegangen …« Er feuchtete sich die Lippen an, sein Schädel war noch blanker, er schwitzte.

»Man könnte meinen, als sei der Tod an sich eine Botschaft«, sagte Selma.

Jetzt schaute er ihr verdutzt ins Gesicht. Seine Augen saßen ein wenig zu eng beieinander und waren fast pissgelb, eine trübe, hellbraune Farbe.

»Ich habe mit Birger Jarl darüber gesprochen«, sagte sie. »Gleich nach der Rekonstruktion des Tathergangs. Ich kenne seine Theorie.«

»Glauben Sie daran?«

»Sie vielleicht?«

»Na ja. Ich hätte sie vielleicht als hochtrabenden Unfug abgetan, wenn das mit Kajsa Breien nicht passiert wäre. Denn so wie ich das sehe, lässt sich Birger Jarls Theorie auch auf sie übertragen.«

Selma wurde es plötzlich heiß. Sie hatte ihren Salat noch nicht angerührt. Nun setzte sie sich aufrecht hin und legte beide Handflächen auf den Tisch.

Genau das hatte sie ja auch gedacht, das fiel ihr jetzt ein. Gestern, ehe Lars diese schreckliche Nachricht über Leon erhalten hatte und während sie selbst auf dem Weg zum Duschen war. Ein Engel war durch den Raum gegangen, aber sie hatte nicht so ganz begriffen, was der ihr zu sagen versuchte.

»Ist alles in Ordnung?«, hörte sie Fredrik Smedstuens Stimme, die von weit her zu kommen schien.

»Ja«, antwortete sie und rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin selbst auch schon auf einen solchen Gedanken gekommen. Ohne ihn richtig zu fassen zu kriegen. Aber Sie haben recht. Wenn es bei Kajsa Breiens Tod wirklich um ein Verbrechen geht, hat der Täter, indem er es als Selbstmord inszeniert hat, wirklich …« Sie erstarrte für einen Moment, dann schob sie ihren unberührten Teller noch weiter weg und zog ihr eigenes Handy hervor. Sie wollte gerade etwas googeln, da streckte Fredrik die Hand aus und legte sie auf ihre. Sie sah überrascht und fast geschockt auf.

»Du brauchst nicht zu googeln«, sagte er leise.

Seine Hand war seltsamerweise warm und trocken. Er ließ ihre los, als ob er sich verbrannt hätte. Danach beugte er sich zu ihr vor und sagte: »Norwegen ist vom Gerichtshof für Menschenrechte im vergangenen Jahr drei Mal schuldig gesprochen worden«, sagte er so leise, dass er genauso gut hätte flüstern können. »Das ist verdammt ernst, auch wenn es hier zu Hause keine besonders große Aufmerksamkeit erregt hat. Und ähnliche Fälle stehen derzeit Schlange. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird der norwegische Generalstaatsanwalt wohl die meisten verlieren. Norwegen, Selma! Norwegens selbsternannter Leuchtturm, wenn es um Kinderrechte geht, ist dabei, international voll auf die Fresse zu fallen! Und du kannst wohl raten, wer zuerst eine Meinung abgegeben hat, als die beiden meistumstrittenen Fälle vom Obersten Gericht entschieden worden sind?«

Zu raten war gar nicht nötig.

»Holy shit« , sagte Selma. »Das wollte ich doch gerade googeln. Ob sie bei einer wichtigen Jugendschutzsache Richterin gewesen ist.«

»Das war mir klar.«

»Es geht hier also auf irgendeine Weise um … Jugendschutz?«

Nun war er es, der lächelte, ohne deshalb aber besonders glücklich auszusehen.

»Genau. Vielleicht. Und wenn es so ist … diese Leute, Selma, die, denen ihre Kinder weggenommen worden sind und die jetzt einen Kreuzzug gegen das System führen, die sind durch und durch …« Er tippte sich mit einem gekrümmten Zeigefinger an die Stirn und verdrehte die Augen.

»Meinst du, sie können …«

»Ich meine nichts. Noch nicht. Aber es gibt hier irgendeinen Zusammenhang. Vielleicht. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang. Ich weiß nicht. Es ist trotzdem …«

»Pst.«

»Was?«

»Pst«, wiederholte Selma mit scharfer Stimme und schloss die Augen. »Moment.«

Vor ihren Augen tanzten patinagrüne Punkte. Sie versuchte, sich zu entspannen, ihre Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Sie durfte sich nicht anstrengen, nicht versuchen, logisch zu sein. Sie verzog die Lippen ein wenig und atmete tief durch die Nase ein.

»Die drei Staatsmächte«, sagte sie endlich und riss die Augen auf.

»Was meinst du?«

»Linda war federführend für einen Dokument-8 -Vorschlag, der den Jugendämtern größere Vollmachten geben sollte. Sie selbst wollte diese Veränderung, aber die Einschätzung des Ausschusses war abschlägig. Der Vorschlag wurde niemals angenommen. Linda hat mit anderen Worten nicht viel zu verantworten, wenn es um Jugendschutz geht. Sie kann eher ein … Symbol gewesen sein.«

»Wofür denn?«

Die Kellnerin stand neben ihnen, ohne dass sie bemerkt hatten, dass sie sich näherte.

»Hat es nicht geschmeckt?«, fragte sie besorgt.

»Doch«, murmelte Fredrik, ohne sie anzusehen. »Lassen Sie einfach alles stehen.«

Die Kellnerin zog sich verstimmt zurück, und Fredrik fragte noch einmal: »Wofür hätte sie ein Symbol sein sollen?«

»Das Parlament. Die erste Staatsmacht.«

Es wurde ganz still. Selma griff zu ihrem Pepsi-Max-Glas und hob es an den Mund. Ihr Hals war trocken, aber ihr Arm fühlte sich kraftlos an. Sie musste das Glas wieder wegstellen.

Fredrik legte beide Hände an den Kopf und ließ sie dort liegen.

»Das Gericht, bei dem Kajsa Breien war, ist die …«

»Die dritte«, sagte Selma. »Die Gerichte sind die dritte Staatsmacht. Wenn Kajsa ermordet worden ist, und das aus demselben Grund wie Linda, dann braucht das nicht daran zu liegen, dass sie Fälle vertreten hat, die in Straßburg krachend durchgefallen sind. Auch sie kann ein Symbol sein. Für die dritte Staatsmacht.«

Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Bedeutet das … bedeutet das …«

»Die Regierung ist übrigens die zweite, wie du weißt.«

Fredrik kam nicht weiter. Selma nickte trotzdem.

»Ja«, sagte sie. »Das bedeutet, wenn wir hier auch nur einen Hauch von Substanz haben, dann ist es derzeit ziemlich riskant, als Regierungsmitglied durch die Gegend zu laufen. Wenn wir an den symbolischen Wert denken, um den es dem Mörder geht, falls wir also auf der richtigen Spur sind, würde ich behaupten, dass der Familienminister am gefährlichsten lebt.«

Fredrik war erblasst. Er hielt noch immer seinen Kopf fest, und während der letzten Minuten waren auf seinem Hemd unter den Armen dunkle Ringe gewachsen. Seine Lippen waren feucht, und seine Stimme zitterte ein wenig, als er endlich die Hände sinken ließ und rief:

»Aber was zum Teufel machen wir jetzt, Selma? Was zur schwärzesten Hölle machen wir, wenn das wirklich stimmt?«

»Nichts. Rein gar nichts. Das ist doch alles nur Gedankenspinnerei. Wir raten, Fredrik, wir wissen nichts. Ich fürchte, wir können rein gar nichts machen.«

Sie wusste genau, was sie tun würde, aber es musste doch Grenzen dafür geben, was sie mit einem Polizisten teilen würde.

Vor allem mit einem, den sie kaum kannte.

Außerdem hatte sie es eilig.