»Was soll das heißen, dass du das ›bereits erledigt‹ hast?«
Selma war so schnell zu Einar Falsens Wohnung in der Toftes gate gelaufen, dass sie in Schweiß gebadet war. Nun saß sie mit einem einigermaßen sauberen Glas Wasser in seinem Sessel. Es war nicht besonders kalt, denn Einar fehlte die Geduld, das Wasser lange genug durch das vermutlich durchgerostete Leitungssystem der verfallenen Mietskaserne laufen zu lassen. Sie schob das Glas nach einem kleinen Schluck von sich.
»Du hast den Rechner vergessen, als du zuletzt hier warst«, sagte Einar zufrieden. »Und da dachte ich, ich könnte mich auch gleich nützlich machen. Das habe ich getan. Auf der Jagd nach deinem Stoooker kannst du ein bisschen Unterstützung ja wohl brauchen.«
Er sah aus wie eine Katze vor einer Sahneschüssel, wie er mit dem Laptop auf dem Schoß dasaß, beschützt von Alufolie und dem grau lackierten Star-Wars -Deckel. Seltsamerweise hatte er den Helm nicht aufgesetzt. Selma nahm an, dass er vor Aufregung das wahre Ausmaß seiner Angst vor den Strahlen vergessen hatte.
»Aber was hast du … also, wie …«
Selma schüttelte den Kopf. Als sie vor fünf Minuten gekommen war, hatte sie ihn gebeten, nach dem jungen Mann zu suchen, der sie im Sommer angesprochen hatte. Sie war joggen gewesen, es war der 26 . Juni, und der Mann war außer sich gewesen. Er sah aus wie ein Junkie, seinen Namen hatte sie vergessen, und von seinem Fall wusste sie nur noch kleine Brocken, die die Möglichkeit, ihn zu finden, verschwindend klein machten.
»Hast du wirklich herausgefunden, wer er ist?«
»Na ja …« Einar zögerte ein wenig, und sein Lächeln wirkte nicht mehr ganz so strahlend. »Seinen Namen hab ich eigentlich nicht. Aber ich habe … komm her.«
Wie immer klopfte er neben sich auf das Sofa. Wie immer versuchte Selma, den Kater auf den Boden zu schieben, was das Tier sich heute nicht gefallen ließ. Miez blieb zwischen ihr und Einar liegen und schnurrte.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es im Netz solche selbsternannten Kinderschutzgruppen gibt«, sagte Einar bemerkenswert ruhig. »Sie alle haben die norwegischen Jugendämter als ihre Feinde erlebt, halten sie für eine Bande mit einem einzigen Ziel: anderen das Leben zu ruinieren. Anständigen Menschen ihre Kinder zu stehlen. Die verwenden Wörter wie Jugendschutzindustrie, Menschenhandel und Ähnliches.«
»Ja«, murmelte Selma. »Solche Gruppen gibt es.«
»Also habe ich mir das vorgenommen, was du über diesen Mann erzählt hast. Das war ja nicht besonders viel. Aber etwas.«
Noch hatte er den Laptop nicht geöffnet. Er gestikulierte nicht so heftig wie sonst, wenn er sprach. Offenbar versuchte er, der zu sein, der er vor viel zu langer Zeit gewesen war; ein geachteter und angesehener Polizist.
»Meine Informationsgrundlage war, dass er relativ jung sein musste. Und dabei denke ich, unter dreißig. Außerdem wollte er das Ministerium verklagen. Er hat zudem behauptet, an korrupte Beamte geraten zu sein.«
»Behaupten die das nicht alle?«
»Geduld. Du hast auch erzählt, dass du ihn für einen Junkie gehalten hast, der dich um Geld anbetteln wollte. Mit anderen Worten, ich wusste vier Dinge über den Burschen.«
Selma nickte und starrte ungeduldig den Laptop an.
»Was ich danach gedacht habe«, sagte Einar immer eifriger, »war, wenn er Eier genug hatte, dich so einfach am helllichten Tag anzusprechen, und außerdem dermaßen außer sich war, hat er sicher alles Mögliche versucht? Und sich vielleicht auch bei einer von diesen Gruppen gemeldet? Die sammeln sich doch im Netz, das ist klar. Die meisten von ihnen haben geschlossene Facebook-Gruppen eingerichtet, aber viele haben auch eigene solche … Websites. Ich hab es außerdem geschafft, Mitglied bei einigen von den geschlossenen Gruppen zu werden.«
Er grinste wieder. Selma hatte ihn im Frühling endlich zum Zahnarzt schaffen können, was nicht so einfach gewesen war. Am Ende hatte sie einen in Sandefjord nehmen müssen, der sich auf Menschen mit Angst vor Zahnbehandlungen spezialisiert hatte. Einar machten nicht die Schmerzen Angst, sondern die Instrumente. Nach zwei Stunden versuchter Therapie wurde Einar unter Narkose gesetzt. Nach drei Besuchen und fünfzigtausend Kronen weniger auf Selmas Konto konnte er wieder lächeln.
»Die im Internet zu finden«, sagte Einar nun, »ist einfach. Du googelst einfach ›Jugendamt‹ zusammen mit ein paar negativ besetzten Wörtern wie ›Übergriff‹ und ›Kindesraub‹, dann schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Ich habe mindestens zwanzig Websites gefunden. Die eine verschwurbelter als die andere. Scheinbar.«
»Nicht nur scheinbar.«
»Das Bild ist nicht nur schwarz-weiß, wenn man mit großem Wohlwollen liest. Und das soll man doch.«
Endlich klappte er den Rechner auf seinem Schoß auf.
»Ich habe mich auf drei Gruppen konzentriert«, sagte er, bückte sich und griff nach seinem Helm. »Die größten sozusagen. Und die professionellsten.«
Er zog den Kinnriemen straff.
»Nun wollen wir mal sehen. Diese Website in Sachen Kinderschutz, barnevern.no , macht den seriösesten Eindruck. Sie sieht aus wie eine Onlinezeitung. Sie gibt Links zu Berichten aus normalen Medien, überschlägt sich dann aber in den Kommentarspalten. Das sind nicht einmal normale Kommentarspalten, es ist eher eine Einladung, eigene Artikel zu schreiben. Und da gibt es viel Seltsames. Viel Wut. Und unglaublich viele Schreibfehler. Da war eine Frau, aus Stavanger, glaube ich …« Er prustete los und sah aus, als ob er den Rechner schon wieder zuklappen wollte.
»Jetzt verzettel dich nicht«, sagte Selma energisch und drehte den Bildschirm wieder richtig.
»Nicht doch. Nicht doch. Ich verzettel mich nicht. Nie.«
Er presste sich den Helm noch fester auf den Kopf.
»Ich habe mich auf die Tage um den 26 . Juni konzentriert.«
»Und?«, fragte Selma, als er nicht weitersprach.
»Ich habe nichts von Interesse gefunden.«
Selma seufzte tief und schluckte. Vorsichtig legte sie die Hand auf seine.
»Wollen wir die Websites überspringen, auf denen du nichts gefunden hast? Und uns lieber das vornehmen, was du gefunden hast?«
»Gute Idee. Gute Idee.«
Mit den beiden Zeigefingern tastete er sich zu einer Seite mit dem Titel »Kindesraub« vor. Auch die sah seriös aus. Oben gab es einen Link zu dem Artikel eines prominenten Menschenrechtsanwalts. Gleich danach kam ein Interview mit dem Osloer Kinderschutzbeauftragten.
»Und jetzt schau her«, sagte Einar, die Begeisterung war in seine Stimme zurückgekehrt.
Er hieb so energisch auf die Tastatur ein, dass das Gerät zitterte.
»Hier!«
Nun tippte er mit den Fingern sehr heftig gegen den Bildschirm, und Selma hatte für einen Moment Angst, der Bildschirm könnte zerbrechen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Das Interview mit einem anonymisierten jungen Mann. Der jedenfalls große Ähnlichkeit mit dem von dir beschriebenen hat. Es wurde am 21 . Juni veröffentlicht, also fünf Tage, ehe du beim Joggen angesprochen worden bist. Ich glaube, ich habe hundert Texte dieser Art gelesen. Das hier ist der einzige, bei dem alle vier Kennzeichen vorhanden sind.«
Selma hob den Laptop auf ihre eigenen Knie. Das hier war fast nicht zu glauben. Sie war zu Einar gekommen, um ihm eine Aufgabe zu stellen, die mehr oder weniger zum Scheitern verurteilt war; den namenlosen Mann zu finden, der sie vor fast drei Monaten an einem Sommertag angesprochen hatte und dem sie bis vor wenigen Tagen nicht einen Gedanken geopfert hatte.
Im Moment hatte sie das Gefühl, auf Schritt und Tritt über Jugendschutzangelegenheiten zu stolpern. Streng genommen beschäftigte sie sich mit drei Fällen. Der erste war der, den Lars von Jonathan Herse geerbt hatte und von dem weder Selma noch Lars sonderlich viel verstanden. Der zweite war der, in den Fredrik Smedstuen sie hineingezogen hatte; das Mysterium des Motivs für den Mord an der herzensguten Linda Bruseth. Der dritte, und ihrer Meinung nach der weitaus wichtigste, Fall war die Frage, wer sich ungebeten in ihr Revier einschlich und sie mit neckischen kleinen Hinweisen darauf quälte, dass er sie schon das ganze Leben lang kannte.
Sie hätte auf Lars und Fredrik pfeifen können.
Die waren erwachsene Menschen mit ihren eigenen Aufgaben, und irgendeine Belohnung für ihre Mühe war auch nicht in Sicht. Normalerweise hätte sie Fredrik einfach stehen lassen. Es war nicht ihre Aufgabe, der Polizei zu helfen. Mit Lars warf sie sich in der Regel gern Bälle zu, so, wie sie einander hier und da schon früher geholfen hatten. Sie hatte ihn mehr unterstützt als umgekehrt, also hätte sie auch diesen Ordner zuklappen können, wenn sie das wirklich gewollt hätte. Was der Fall war, im tiefsten Herzen.
Aber hier gab es ein seltsames Muster.
»Willst du einfach nur dasitzen?«, fragte Einar plötzlich.
»Ja. Noch ein bisschen. Gib mir noch einen Moment.«
Einar erhob sich und stapfte in die Küche. Miez sprang vom Sofa und lief hinterher. Selma versuchte energisch, eine Gedankenreihe zu verfolgen, die ihr immer wieder entglitt. Es ging um einen potenziellen Klienten, verzweifelt über das Jugendamt, aber offenbar auch wütend auf das für das Jugendamt zuständige Ministerium. Dort arbeiteten allem Anschein nach auch die Hauptpersonen, deren Namen in einem seltsamen, gesperrten Dokument vorkamen, das ein toter Journalist hinterlassen hatte. Linda ihrerseits, getötet bei einem scheinbar motivlosen Attentat, hatte einem Parlamentsausschuss angehört, der für Anträge der Jugendämter an das norwegische Parlament zuständig war.
Das alles drehte sich einfach nur in ihrem Kopf.
»Toter Journalist«, sagte Selma vor sich hin.
»Was?«, fragte Einar und blieb mitten im Zimmer stehen.
Er brachte eine Schüssel Käseflips für sich und eine Flasche Pepsi Max für Selma mit.
»Nichts«, sagte Selma und schüttelte den Kopf, eher, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, als um Einar abzuweisen.
Der Fund von Kajsa Breien am Vortag hatte das Bild, das Selma freizulegen versuchte, noch weiter verkompliziert. Es kam ihr vor wie so eine Zeichnung, bei der man mit dem Bleistift die Punkte verbinden musste, um zu sehen, was sich in dem Muster verbarg, wo die Punkte aber nicht nummeriert worden waren. Auch die Richterin beim Obersten Gericht hatte mit Jugendschutz zu tun gehabt, auch sie war allem Anschein nach ermordet worden. Auf eine gelinde gesagt auffällige Weise.
»Ehrlich gesagt«, sagte Einar fast schroff, »da hab ich mich wie ein Esel abgeplagt, und jetzt sitzt du hier nur so.«
»Entschuldigung.«
Selma las das Interview.
Der Mann trug den fiktiven Namen »Ola«, er war dreißig Jahre alt. Vor über acht Jahren hatten er und seine Freundin ein Kind bekommen. Die Beziehung war dann nur von kurzer Dauer gewesen. Aus nicht ganz eindeutigen Gründen, offenbar war die Freundin krank, verschwand Ola von der Bildfläche. Die junge Mutter stand scheinbar fester im Leben, wohingegen Ola offenbar eine Ausbildung im Ausland machen wollte. Als das Kind drei Jahre alt war, starb die Mutter an der Krankheit, an der sie die ganze Zeit gelitten hatte. Ola wurde im Ausland nicht einmal darüber informiert. Als er 2018 nach Norwegen zurückkehrte, erfuhr er vom tragischen Ende seiner Ex-Freundin und wollte natürlich das Sorgerecht für sein leibliches Kind erhalten.
Das stellte sich als unmöglich heraus.
Olas Sohn lebte bei seiner Großmutter und deren neuem Mann, und die beiden hatten Ola seither das Leben zur Hölle gemacht. Sie waren gerade dabei, den kleinen »Philipp«, sicher auch ein erfundener Name, zu adoptieren. Das Jugendamt zeigte keinerlei Verständnis für die Bedeutung eines echten Vaters. Sie nahmen sein Leben auseinander, auf der Jagd nach Fehlern, Mängeln und unpassender Lebensführung.
Etwas war im Leben eines jungen Mannes ja immer zu finden, wie der Artikel vage andeutete. Es hatte eine Zeit mit leichtem Drogenkonsum gegeben. Er hatte nicht immer einen festen Wohnsitz gehabt. An Geld fehlte es ebenfalls dann und wann, gab der Artikel zu, um dann zu Olas vielen Tugenden überzugehen. Er war unter anderem freundlich und aufgeweckt. Er hatte jetzt eine feste Arbeit, jedenfalls fast, und eine eigene Wohnung.
Diese Geschichte hörte Selma nicht zum ersten Mal. Und nicht zum zwanzigsten. In der Zeit, als sie als junge Anwältin nicht wählerisch sein konnte und alle Fälle annehmen musste, hatte es zu viele davon gegeben. Eine verzweifelte Mutter, ein verzweifelter Vater, zusammen oder jeweils für sich, voller Optimismus bei der Vorstellung, sich um ein geliebtes Kind zu kümmern. In der Regel war nur ein vorsichtiges Kratzen am Lack nötig, mit dem sie ihr Dasein überzogen hatten, und schon brach das Kartenhaus in sich zusammen. Der Drogenkonsum war viel härter als behauptet, der Job, auf den sie sich beriefen, war nur vorübergehend und existierte in der Regel schon nicht mehr, wenn der Fall vor den Bezirksausschuss kam.
Ola dagegen ging weiter.
Die Großmutter des Kindes arbeite im Familienministerium, behauptete er. Sie habe die Unterlagen gefälscht. Ihn verleumdet. Auskünfte vorgelegt, die gar nicht zutrafen. Dokumente gefälscht, um zu beweisen, dass er kaum gewusst hatte, dass der kleine Philipp auch nur auf der Welt war. Das alles konnte sie, weil sie einem System angehörte, dem das Bedürfnis eines Kindes, geliebt zu werden und ein Teil seiner biologischen Familie zu sein, ganz egal war.
Selma seufzte gereizt.
»Der Junge wohnt doch bei seiner biologischen Familie. Bei seiner Großmutter. Und bei all den Scherereien, die so ein Streit um das Sorgerecht mit sich bringt, gehe ich doch davon aus, dass sie ihren Enkel mehr liebt als alles andere auf der Welt.«
»Das stimmt sicher«, sagte Einar. »Aber der Mann tut mir trotzdem leid.«
»Das ist ja auch der Sinn der Sache. Solche Geschichten werden nur mit dem einen Ziel geschrieben: nämlich bei denen, die sie lesen, die Überzeugung zu verstärken, dass die Jugendämter der verlängerte Arm des Teufels sind.«
»Aber es kann doch …«
»Warum wurde sein Anwalt nicht interviewt?«, fragte Selma rhetorisch. »Wenn wirklich ein Verdacht auf Unterlagenfälschung und Meineid an höchster Stelle bestünde, hätte doch der ›Journalist‹ …«
Die Anführungszeichen, die sie in die Luft malte, waren riesig.
»… konkret nachfragen müssen, wie sich das verhält. Und er hätte vermutlich eine ganz andere Geschichte serviert bekommen. Wenn es nicht daran liegt, dass der Anwalt unter Schweigepflicht steht, und das bringt uns dann überhaupt nicht weiter.«
»Wenn ich recht habe und dieser Typ identisch mit dem ist, der von dir Hilfe wollte, dann hat er doch keinen Anwalt. Er wollte ja dich!«
»Genau, ja. Aber bei den Streitigkeiten, von denen hier die Rede ist, muss er juristischen Beistand gehabt haben. Darauf hat er Anspruch. Ich wette ziemlich viel darauf, dass er so wenig eigene Mittel hat, dass der Anwalt vom Staat bezahlt worden ist. Und wahrscheinlich hatte der die Sache einfach satt. Er hat eingesehen, dass es nichts bringen würde, noch weiterzumachen.«
»Du sollst überhaupt nicht wetten«, sagte Einar lächelnd. »Das hast du geschworen.«
Selma stellte den Laptop auf den Tisch. Wieder versank sie in Gedanken.
»Toter Journalist«, murmelte sie ein weiteres Mal.
»Was faselst du da?«, fragte Einar irritiert. »Jetzt habe ich wie ein Irrer geschuftet, um deinen Stoooker zu finden, und dann …«
»Danke, Einar. Ich bin ja ganz deiner Meinung, das kann sehr wohl der junge Mann sein, den ich suche. Aber einen Namen habe ich leider noch immer nicht.«
»Nein. Aber du hast den Namen des Journalisten. Frag den.«
Einar reichte ihr einen Zettel mit einem nichtssagenden Namen, den er mit Großbuchstaben geschrieben hatte. Sogar eine Telefonnummer hatte er ausfindig gemacht. Selma warf einen Blick auf den Zettel und steckte ihn in die Tasche.
»Danke«, sagte sie. »Du bist ein Engel. Und zu einem Internetgenie bist du auch geworden.«
Sie stand auf. Die Enttäuschung stand deutlich in Einars Gesicht geschrieben, als sie ihn ansah.
»Das meine ich ernst«, sagte sie energisch. »Ich bin wahnsinnig froh darüber, dass du diesen … Ola gefunden hast. Wir wissen ja nicht, ob du recht hast, aber vielleicht sind wir auf der Suche nach meinem Quälgeist einen Schritt weiter gekommen. Wieso so ein Typ weiß, wie er auf so raffinierte Weise in Wohnungen eindringen und noch dazu Geheimnisse aus meiner Kindheit kennen kann, ist natürlich immer noch ein Rätsel, aber …«
Als er noch immer niedergeschlagen wirkte, hob sie die Hände und wurde lauter.
»Danke, Einar. Ich bin nur hergekommen, um dich um das hier zu bitten, und dann hattest du es schon erledigt. Danke, sage ich doch. Und das meine ich auch. Es ist bloß …«
Die Staatsmächte, dachte sie plötzlich.
»Die Staatsmächte«, sagte sie.
»Hä?«
»Es gibt eine vierte Staatsmacht.«
»Äh … ja. Die Presse.«
Etwas an der Reihenfolge ist wichtig, dachte Selma. Sie blieb stocksteif stehen und merkte nicht einmal, dass Miez Anstalten machte, auf ihre Handtasche zu pinkeln.
»Aber pfui«, sagte Einar streng und konnte die Katastrophe abwenden.
»Zuerst wurde Linda ermordet«, sagte Selma unangefochten. »Eine Vertreterin der ersten Staatsmacht. Danach Kajsa Breien, die dritte Staatsmacht.«
Vor einer Stunde hatte Selma in der Sagene Lunsjbar gesessen und die beängstigende Vorstellung vor Augen gehabt, dass die zweite Staatsmacht jetzt an der Reihe sein könne, ein Regierungsmitglied.
Darin liege eine Art Logik, hatte sie gedacht. Aber die Reihenfolge stimmte nicht. Zuerst die erste. Dann die dritte. Hätte es nicht die zweite sein müssen, wenn es sich bei diesem ganzen Komplex um eine Demonstration handelte? Um eine Botschaft? Erste, zweite, dritte. Das wäre deutlicher, wenn der Mörder denn wollte, dass alle es sahen. Da war etwas. Irgendetwas, das sie nicht entdecken konnte.
»Jonathan Herse ist schon am 17 . August gestorben«, sagte sie und fing Einars Blick ein. »Er hat der vierten Staatsmacht angehört.«
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr«, sagte Einar.
Selma ließ sich langsam auf die Kante des Sofas sinken. Sie starrte ins Leere, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände gefaltet, als sie langsam fortfuhr: »Vielleicht ist Jonathan Herse gar nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Vielleicht wurde er als Allererster getötet.«
Sie schaute Einar an, der sie mit offenem Mund anglotzte.
»Du bist nicht der Einzige«, sagte sie. »Du bist wahrlich nicht der Einzige, der hier rein gar nichts mehr versteht.«