Als Selma Falck ihr Wohnhaus in Sagene verließ, standen vor dem Eingang einige junge Paare und warteten auf etwas. Sie nahm jedenfalls an, dass es sich um Paare handelte, immer zwei und zwei standen dort, ein wenig auseinander, vier Heterosexuelle und zwei Frauen, die einander an der Hand hielten. Ein Mann in Selmas eigenem Alter, förmlich gekleidet und mit kurz geschnittenen, gepflegten Haaren, brachte gerade ein Hinweisschild zum Besichtigungstermin an. Als sie vorbeiging, schaute er auf und lächelte.
»Hallo«, sagte Selma automatisch, dann fiel ihr zum Glück ein, dass dieser Makler ihr auch ihre eigene Wohnung verkauft hatte.
Er hielt den Gruß leider für eine Aufforderung zum Gespräch.
»Zufrieden mit der Wohnung?«, fragte er und richtete sich auf.
»Unbedingt. Sie haben noch immer hier in der Gegend zu tun?«
Sie war zum Glück nicht ganz stehen geblieben, und in einigen Sekunden würde sie außer Reichweite sein.
»Ja. Makler mit Ortskundschaft sind eben begehrt. Ich habe eine sehr gute Statistik.«
»Wie schön. Ist elf Uhr nicht ein bisschen früh für eine Besichtigung?«
Nun war sie an ihm vorbei, und er redete mit ihrem Rücken, als er fast rief: »Nicht doch! Beliebt, diese Gegend! Die Leute würden auch nachts kommen, wenn ich sie dazu aufforderte. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Lust haben, zu verkaufen, ja?«
Selma gab keine Antwort.
Sie wäre fast ein weiteres Mal stehen geblieben, da sah sie Fredriks verbeulten Kia am Straßenrand stehen. Fredrik sah sie offenbar im Rückspiegel, denn sein Arm kam aus dem Fenster und winkte sie zu sich. Sie ging auf den Wagen zu, obwohl sie auf dem Weg zu Einar war und in die Gegenrichtung musste.
»Hallo«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte, und beugte sich zu ihm hinein.
»Steig ein«, sagte er.
Selma zögerte für einen Moment und schaute auf die Uhr.
»Warum hast du nicht angerufen? Ich bin auf dem Weg zu …«
»Bitte, steig ein.«
Sie schüttelte kurz den Kopf, ging um das Auto herum und tat ihm den Gefallen. Diesmal war der Sitz immerhin für sie frei geräumt.
Fredrik sah aus, als ob er gerade einem Wäschetrockner entsprungen wäre.
»Hast du überhaupt geschlafen, seit du mich gestern nach Hause gefahren hast?«, fragte sie und schnupperte ein wenig demonstrativ in der Luft.
Er hatte offenbar die Zigaretten aufgeben können, aber nun stank er nach Schweiß.
»Nein. Ich habe gearbeitet. Als ich dich gestern Abend abgesetzt hatte, konnte ich nicht nach Hause fahren. Also war ich im Büro. Und da war ja einiges passiert, um es vorsichtig auszudrücken.«
»So spät am Samstagabend bist du noch ins Büro gefahren?«
»Verbrecher achten weder auf die Uhr noch auf den Kalender.«
Selma musste lächeln.
»Was hast du also herausgefunden?«
»Dass Børre Rosenhoff möglicherweise umgebracht worden ist.«
»Ach … ja? Möglicherweise? Das hätten wir doch auch gestern schon sagen können? Dass er möglicherweise umgebracht worden ist?«
»Wir können es jetzt mit viel größerer Sicherheit sagen. Es war mutmaßlich Mord. Oder … ich weiß nicht so recht. Der Todesfall war jedenfalls viel dramatischer, als wir anfangs geglaubt haben.«
Er ließ das Lenkrad los, schlug die Hände vors Gesicht, rieb sich lange die Augen und schniefte einige Male laut, eher er heftig den Kopf schüttelte und die Augen aufriss.
»O verdammt, was bin ich müde. Aber ich musste mit dir reden. Und nicht am Telefon. Diese ganze Geschichte macht mich richtig paranoid.«
Selma legte zum zweiten Mal innerhalb eines halben Tages die Hand auf seinen Oberschenkel.
»Was ist passiert?«, fragte sie ruhig und nahm ihre Hand wieder weg.
Fredrik griff nach einem Pappbecher voll Kaffee aus der Halterung zwischen den Sitzen, schlürfte den Inhalt und schluckte dabei laut hörbar.
»Rosenhoff hatte sich schon zwei Tage vorher elend gefühlt, wie sich herausgestellt hat.«
Fredrik streckte die Hand zur Rückbank aus und griff nach einer Thermoskanne. Der Inhalt war nicht mehr besonders heiß, es dampfte kein bisschen, als er den Plastikdeckel herunterdrehte und seinen Becher noch einmal füllte.
»Der Bursche war bis Mittwochmorgen kerngesund. Dann stand er zu seiner normalen Zeit auf, um halb sechs, lief seine übliche Runde, fünf Kilometer. Danach machte er das übliche Frühstück für sich, seine Frau und die Kinder: Haferbrei. Und wurde danach von seinem täglichen Transportmittel abgeholt, dem Fahrdienst der Regierung. Etwas später an dem Tag fühlte er sich dann nicht mehr so gut. Es wurde immer schlimmer, und am Donnerstag fuhr er früher von der Arbeit nach Hause, weil er sich fast nicht mehr auf den Beinen halten konnte.«
»Warum ist ihm nicht geholfen worden?«
»Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt verreist. Sie sagt, sie habe ihn am Telefon bedrängt, einen Arzt zu rufen, aber er wollte nicht. Er hielt es für eine Grippe oder so was. Gliederschmerzen, Durchfall. Allgemeines Unwohlsein. Sein ganzes Image war doch so frisch und sportlich. Männer in seinem Alter haben eine seltsame Vorstellung von ihrer eigenen Unsterblichkeit.«
»Aber … was ist passiert?«
»Das wissen die Götter. Jedenfalls, seine Frau war am Donnerstagmorgen mit den Kindern zu ihren Eltern nach Hemsedal gefahren. Er bestand darauf, dass sie fahren sollten. Dann hätte er seine Ruhe, und die Gefahr, Frau und Kinder anzustecken, wäre geringer. Er hat am Freitag mit seiner Frau und seinem Büro telefoniert, später war er nicht mehr zu erreichen. Im Laufe der Nacht hat die Frau dann Alarm geschlagen. Dem Arzt wurde erklärt, wo der Reserveschlüssel lag, aber er nahm sicherheitshalber eine Polizeistreife mit. Der Minister war tot. Alle dachten in Richtung Herz, natürlich, und diskutierten ein bisschen. Unsere Jungs ließen den Leichnam zur Obduktion abholen. Sicherheitshalber.«
»Wäre das nicht sowieso passiert?«
»Scheiß drauf«, sagte Fredrik irritiert. »Es geht um was anderes: Als die Leiche in der Pathologie ausgezogen wurde, hatte er eine Unterhose unter der Schlafanzughose an. Und in der Unterhose hatte er doch echt …« Selma sah, dass er versuchte, ein unangebrachtes Lächeln zu unterdrücken. »In der Unterhose hatte der Kerl drei Damenbinden aufeinandergepappt. Nebeneinander oder … egal. Er blutete aus dem Arsch.«
»Was?«
»Aus seinem Anus kam Blut! Das war ihm wahrscheinlich peinlich gewesen. Zu peinlich, um es irgendjemandem zu sagen.«
»Du machst Witze«, flüsterte Selma. »Jetzt verarschst du mich doch.«
»Nein. Er wurde dann genauer untersucht, irgendwann später, gestern. In der Pathologie. Ich hab ja keine Ahnung, was in diesen Ärzten vorgeht, wenn sie plötzliche und völlig unerwartete Todesfälle geliefert kriegen. Aber ich nehme an, die denken in Richtung Herzstillstand oder Hirnschlag, genau wie wir anderen alle. Davon war also nicht die Rede. Wenn jemand aus dem Enddarm blutet, kann das natürlich jede Menge Ursachen haben, von Morbus Crohn über Colitis ulcerosa bis zu … Krebs, von mir aus. Aber als sie ihn aufgeschnitten hatten, kam die Überraschung. Die inneren Organe waren in völliger Auflösung. Das Gedärm blutete. Die Leber hatte fast schon das Handtuch geworfen. Die Nieren waren ruiniert. Der Pathologe hat Großalarm gegeben. Lange, ehe er fertig war.«
»Weshalb denn?«
»Er hatte Angst, hier könnte von einem Virus die Rede sein. Oder möglicherweise von Gift. Bakterien, von mir aus. Jedenfalls mussten besondere Vorkehrungen getroffen werden.«
»Hatte er denn schon den Verdacht, dass der Minister ermordet worden sein könnte?«
»Na ja, ich glaube, Ärzte sind in solchen Situationen ziemlich deduktiv. Sie versuchen es zuerst mit den nächstliegenden Hypothesen, also Krankheiten. Wenn sich das nicht nachweisen lässt, gehen sie weiter. Jedenfalls kamen die zu dem Schluss, dass mit dieser armen Leiche etwas sehr Dramatisches passiert sein musste. Als sie noch lebte, natürlich. Als ich sie gestern am späten Abend kontaktierte, hatten sie gemäß dem Protokoll, das sie für solche Fälle haben, erst vor wenigen Minuten die Polizei alarmiert.«
»Tauchst du in diesem Protokoll auf?«
»Nein. Aber ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um meinen Vorgesetzten gegenüber teilweise zu bluffen und teilweise zu dramatisieren, und hab dann grünes Licht bekommen, um hinzufahren und mit den Ärzten zu sprechen. In solchen Fällen ist Vorsicht geboten. Es hätte doch zum Beispiel ein virales hämorrhagisches Fieber sein können. Das kann gefährlich sein und außerdem ansteckend.«
»Hämora-«
»Hämorrhagisch. Ebola, zum Beispiel.«
»Ebola?«
»Ja. Da Rosenhoff aber nie in Afrika gewesen war und in den letzten beiden Monaten überhaupt nicht im Ausland, abgesehen von einer Spritztour nach Schweden, war Nephropathia epidemica wahrscheinlicher. Das ist ein fieses Virus, das du dir in einer ganz normalen norwegischen Hütte einfangen kannst. Es wird unter anderem durch Mäusekacke übertragen.«
Für einen Mann mit einer begrenzten Fähigkeit, sich Personennamen zu merken, war Fredrik beeindruckend sicher, wenn es um Viren ging. Selma musste ihn bitten, alles noch einmal von Anfang an zu erzählen. Das war alles so überraschend, dass sie nicht alles mitbekommen hatte.
»Inzwischen hatten sie in der Pathologie mit umfassender Schadensbegrenzung angefangen. Oder …« Er kratzte sich wütend zwischen den Bartstoppeln, die jetzt schon fast aussahen wie ein ungepflegter Bart. »Potenzielle Schadensbegrenzung, sollte ich wohl sagen. Sie wussten ja noch nicht, was sie da vor sich hatten. Aber in solchen Fällen muss ja die Umgebung abgesperrt werden, Personen müssen isoliert werden … alles in allem ein Heidenaufstand.«
»Aber wie in aller Welt könnte Børre Rosenhoff so ein Virus erwischt haben?«
Fredrik stöhnte und hämmerte mit beiden Fäusten auf das Lenkrad.
»Das wissen wir doch nicht! Geht es nicht gerade darum, Selma? Es kann sich um eine Vergiftung handeln, um Bakterien, um alles Mögliche andere!«
Nun legte er den Kopf in den Nacken und starrte die Wagendecke an.
»Die Familie ist bis auf Weiteres in Quarantäne«, sagte er. »Und im Ministerium ist offenbar die Hölle los. Sie müssen sich gegen ein eventuelles Virus sichern, ohne Panik auszulösen. Jetzt stehen sie wahrscheinlich in solchen Raumanzügen in der Pathologie und fragen sich, was um Teufel da über sie hereingebrochen ist.«
Dann schwiegen sie beide.
»Es kann also eine Vergiftung vorliegen?«, fragte Selma, als das Schweigen peinlich lange andauerte. »Es muss nicht unbedingt ein Virus sein?«
»Ja! Es kann tausend Gründe geben!«
»Vergiftung kann Mord sein.«
»Oder ein Unfall.«
»Oder ein Mord«, sagte Selma.
Eine erschossen, dachte sie. Eine erhängt. Einer vergiftet.
Vielleicht vergiftet.
Sie griff sich mit beiden Händen an die Schläfen. Ein stechender Schmerz pulsierte hinter ihren Augen. Sie riss sie auf und bewegte den Kopf hin und her. Im Rückspiegel auf ihrer Seite konnte sie immer weitere Menschen zur Besichtigung der Zweizimmerwohnung im ersten Stock strömen sehen.
»Du musst heute Abend zu einem Meeting kommen«, sagte Fredrik und gähnte ausgiebig.
Er kippte den restlichen Kaffee aus.
»Im Büro der Polizeichefin. Es ist in Ordnung, dass du dabei bist. Es ist schwer, die Überlegungen anderer darzustellen. Und schließlich hast du in diese … Richtung gedacht.«
Er machte eine Handbewegung.
»Welche?«
»Das mit den Staatsmächten. Wenn irgendwer Rosenhoff umgelegt hat, ob mit Gift oder Virus oder anderem Teufelszeug, von dem wir keine Ahnung haben, dann …« Jetzt massierte er sich den schweißnassen Schädel mit den Fingerspitzen beider Hände. »Wir brauchen einen Vorsprung. Alles passiert so verdammt schnell. Du wirst um halb sieben von einem zivilen Einsatzwagen abgeholt und durch den Hintereingang ins Polizeigebäude gebracht. Zum Glück glaubt die Presse noch immer, dass Kajsa Breien sich umgebracht hat und dass Børre Rosenhoff an einer akuten Krankheit verstorben ist.«
»Das wird nicht lange so bleiben.«
»Nein. Deshalb ist es wichtig, dass …«
Selma hörte nicht mehr zu. Ihr Blick war auf eine alte Pride-Flagge gerichtet. Die hing seit vielen Jahren aus einem Fenster in dem alten Mietshaus auf der anderen Straßenseite. Die hellen Regenbogenfarben waren fast verwaschen. Sie waren rosa geworden. Es ist nicht immer alles so, wie es aussieht.
Die drei Staatsmächte. Und vielleicht die vierte.
»Weißt du schon mehr über Jonathan Herses Fall?«, riss sie ihn mitten aus seiner Argumentation.
»Was?«
»Jonathan Herse, der Journalist. Der scheinbar bei einem Verkehrsunfall in Bislett ums Leben gekommen ist. Hattest du schon Zeit, dir den Fall anzusehen?«
»Nein«, sagte Fredrik irritiert. »Wann zum Teufel hätte ich dafür Zeit haben sollen?«
Erschossen. Erhängt. Vergiftet.
Und dann ein Verkehrsunfall, dachte Selma. Ein tragisches, aber alltägliches Geschehnis. Zuerst ein Verkehrsunfall, der absolut keinen Zusammenhang zu den anderen zu haben schien.
Nein. Vielleicht doch.
Erschossen, erhängt und vergiftet. Da war etwas. Selma bekam nur nicht zu fassen, was in aller Welt das sein könnte. In der letzten Viertelstunde waren ganz einfach so viele Informationen und Überraschungen über sie hereingebrochen, dass nichts in ihrem Kopf ein richtiges Bild ergeben wollte.
»Bis nachher«, sagte sie kurz und stieg aus, um sich auf den Weg zu Einar Falsen zu machen.