Er war wieder auf dem Friedhof.
Die Besuche waren jetzt häufiger geworden, er hatte mehr zu erzählen als sonst. Grethe hatte sich nie besonders für seine Arbeit interessiert. Auf diese Weise hatte sie wohl gelernt, damit zu leben. Wenn er zu Hause war, sprachen sie über ihren Sohn und die Verwandtschaft und Gott und die Welt, über Urlaubsreisen, die vor ihnen lagen, und Gartenprojekte, mit denen sie in Gang kommen mussten. Niemals über das, womit er sich beschäftigte. Nach ihrem Tod hatte er versucht, das zu respektieren. In seinen Gesprächen mit ihr auf dem Friedhof behielt er seine Angelegenheiten weiterhin für sich. Deshalb gab es nicht so viel zu sagen, aber das machte nichts. Das Wichtigste bei diesen Besuchen war, Ruhe zu finden. Das war nicht leicht, und in den letzten Jahren war er oft noch niedergeschlagener von dort weggegangen, als er gekommen war.
Jetzt sehnte er sich dorthin zurück.
Grethe war seine Kampfgenossin. Die Einzige, die wüsste, und die Einzige, die ihn wirklich verstanden hätte, wenn sie noch am Leben wäre. Nun war er besserer Laune, fast froh. Es war kalt und frisch, und der Südwind trieb eine leichte Wolkendecke in raschem Tempo nach Norden. Totes Laub umwirbelte den Mann auf dem Weg zum Grab. Hier unten in der Friedhofsecke war es jedoch ziemlich geschützt. Der Grabstein befand sich unter einer großen Ulme, und er stellte seinen Jagdstuhl so, dass er den Rücken gegen den groben Stamm lehnen konnte.
»Es läuft, wie es soll«, sagte er und setzte sich ein wenig behaglicher hin.
Er hatte einen kleinen Topf mit Heidekraut mitgebracht. Grethe hatte diese Farbe so geliebt, sie hatte sie Flieder genannt, auch wenn es in seinen Augen nun wirklich Rosa war. Sie hatte so viele Namen für die Farben gehabt, seine Grethe. Für sie war Lila niemals nur Lila, es war Violett oder Indigo, Rotblau oder Blaurot. Der Topf stand ein bisschen schief, und um ihn geradezurücken, musste er sich so weit vorbeugen, dass er fast von seinem Jagdstuhl gefallen wäre.
»So«, sagte er, fand das Gleichgewicht wieder und rieb die Hände aneinander. »So ist es besser.«
Alles war so seltsam glattgegangen. Eigentlich hätte ihn das verwundern müssen. Ein langes Leben hindurch hatte er die Erfahrung gemacht, dass man nichts zu sorgfältig planen kann. Der Teufel steckte im Detail. Er hatte versucht, das auch dem Jungen klarzumachen, als der noch zu Hause gewohnt hatte. Wieder und wieder hatte er ihm das eingehämmert, hatte versucht, ihm das für immer einzuprägen: »Wenn man gründlich vorbereitet ist, hat man nie Grund, nervös zu sein. Nervosität ist etwas für die Achtlosen. Die ohne Plan, Sinn und Ziel.«
»Es ist besser gegangen, als ich es mir hätte erträumen können«, sagte er. »Und ich fühle mich nicht einmal leer.«
Auch dafür hatte er Pläne gemacht. Für das Vakuum. Die Ruhelosigkeit nach einem ausgeführten Auftrag, das Bedürfnis nach neuen, sofortigen Herausforderungen. Da das hier das Riskanteste war, was er jemals durchgeführt hatte, hatte er erwartet, dass auch die darauf folgende Tristesse heftiger ausfallen würde als sonst.
Aber so war es nicht.
Ganz im Gegenteil. Als er die Aufgabe ausgeführt hatte, wurde er von etwas erfüllt, das vor allem Euphorie ähnelte. Gestern Abend hatte er sich mit einem Fotoalbum in den Wintergarten gesetzt. Dem dritten, aus der Zeit, als ihr Sohn ein Baby gewesen war. Er hatte zunächst mit dem Gedanken gespielt, eine Flasche Hennessy Paradis zu öffnen, einen Cognac, den er zum Fünfzigsten von den Kollegen bekommen hatte. Die Flasche stand jetzt seit elf Jahren ungeöffnet im Schrank. Zum Glück hatte er sich die Sache anders überlegt und sich mit einer Tasse Tee mit Honig begnügt. Der Abend war so schön gewesen. Die Dunkelheit packte sich dort um die Glaswände, wo er saß, warm und gemütlich, und gegen Mitternacht hatte er eine Runde durch den Garten gedreht.
»Deine Riesenverbene blüht noch immer«, flüsterte er und richtete dabei den Blick auf Grethes Namen auf der Bronzeplakette. »Obwohl es schon Mitte September ist. Sie ist so schön. Rosa. Oder lila. Oder flieder, wenn du willst.«
Er lächelte. Grethe gab wie üblich keine Antwort. Das spielte keine Rolle. Sie war trotzdem hier. Ihr Garten war ein Märchen, zusammengesetzt aus Pflanzen, die von Ostern bis tief in den Herbst hinein blühten. Das Grundstück war wie eine lebende Decke, mit Farben und Blumen, die sich unmerklich durch drei Jahreszeiten bewegten. So gut er konnte, hatte er alles bewahrt, ohne dass es ihm ganz gelungen wäre.
Aber das machte nichts.
Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war. Hier, in der Ecke eines viel zu großen und fast menschenleeren Friedhofs, war das Einzige, was etwas bedeutete, dass er seinen Plan durchgeführt hatte.
Nur ein Detail stand noch aus.
Sie mussten begreifen, was geschehen war und warum. Wenn sie es nicht von selbst durchschauten, würde er ihnen helfen müssen. Ihnen klarzumachen, was wirklich geschehen war, ohne dass sie begriffen, wer er war, würde eine Herausforderung sein.
»Sieh an«, er lächelte Grethe zu, »schon eine neue Aufgabe. Kein Wunder, dass ich zufrieden bin, mein Schatz.«
Er erhob sich und wusste, dass bald das andere Schild am Grabstein angebracht werden könnte. Das, was der Steinmetz festschrauben würde, sobald die Urne in der Erde wäre, womit er aber warten wollte, bis alles vollbracht wäre.
Jetzt war vielleicht nur noch die Rede von Tagen.