Kugelloch

»Es ist Sonntag. Was machst du hier?«

Fredrik Smedstuen schaute nur kurz von dem vorläufigen Obduktionsbericht über Børre Rosenhoff auf, als jemand leicht an den Türrahmen klopfte. Birger Jarl Nilsen lächelte ihn von der Türöffnung her an.

»Ich bin anderen hier im Haus behilflich«, sagte er. »Hab im dritten Stock einen Blick auf einen Fall geworfen. Wie geht’s denn hier?«

Fredrik brummte eine Antwort. Er hatte ein Foto hervorgezogen, das er jetzt sicher schon seit zehn Minuten anstarrte.

»Mir war schon klar, dass die Sache mit diesem Rosenhoff viel dramatischer ist, als die Medien es wahrhaben wollen«, sagte Birger Jarl Nilsen. »Dass ein gesunder Mann von knapp über vierzig einfach stirbt, ist an sich schon schlimm genug, aber das ist nicht alles, oder?«

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Ach, ich schnappe hier und da so einiges auf, weißt du.«

»Ein bisschen zu viel, wie sich das anhört. Die Leute hier im Haus müssen lernen, die Klappe zu halten.«

»Genau. Aber geschehen ist geschehen. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

»Nein.«

Die Antwort verschwamm in einem ausgiebigen Gähnen, und Fredrik schüttelte energisch den Kopf.

»Ich hab die Nacht durchgemacht«, sagte er. »Und das hier ist so ungefähr die elfunddreißigste Tasse ungenießbaren Kaffees, die ich mir heute einverleibe.«

Er kippte auch den Rest des Inhalts des »Bester Papa der Welt«-Bechers in sich hinein und knallte ihn auf den Tisch. Der Henkel brach ab, und Fredrik starrte das ruinierte Weihnachtsgeschenk für einen Moment ratlos an. Dann warf er Becher und Henkel in den Papierkorb.

Und überlegte sich die Sache dann wieder anders.

»Sieh dir das an«, sagte er.

Er hob das Foto hoch und reichte es Birger Jarl Nilsen.

»Was ist das?«

Der Offizier a.D. nahm das Bild, musterte es und setzte sich.

»Børre Rosenhoff?«, fragte er.

»Das brauchst du nicht zu wissen. Aber was siehst du?«

»Eine Wunde. An einem Männeroberschenkel oder vielleicht auch einer Wade. Oberarm?«

»Wade.«

»An der Millimeterskala daneben sehen wir, dass die Wunde sehr klein ist. Und bemerkenswert rund. Irgendeine Art von Stichwunde?«

Fredrik musterte den Mann auf der anderen Seite des Tisches. Wie immer sah er gepflegt aus. Fresh hätte seine Frau das genannt. Ex-Frau, er musste sich an die neuen Bezeichnungen in der Familie gewöhnen. Einen scharfen Blick hatte der Bursche, wie immer. Jetzt hatte er die Stirn gerunzelt, und Fredrik wusste nicht, ob es daran lag, dass er etwas gefragt worden war oder dass er nicht sicher war, was das Foto zeigte.

»Kann das eine Schusswunde sein?«, fragte Fredrik.

Birger Jarl Nilsen prustete los.

»Das war dann aber eine Erbsenpistole! Wie tief ist die Wunde? Einen Millimeter oder zwei? Steckte da eine Kugel, da du so fragst?«

Fredrik gab keine Antwort.

Er sah langsam ein, dass seine leichte Abneigung gegen Birger Jarl Nilsen auf Neid beruhte. Fredrik würde so ungefähr alles geben, um so auszusehen. Um so auftreten zu können. Mit einem gewissen Einsatz könnte er vielleicht sein Gewicht verringern, aber egal, was er auch täte, er würde niemals dieselbe Wirkung auf Frauen haben wie Birger Jarl. Als der Typ nach der Rekonstruktion am Mittwoch mit Selma Falck davonstolziert war, wäre er fast hinterhergelaufen, um ihn zu Boden zu schlagen. In dem Punkt hatte Fredrik immerhin die Überhand, er konnte sicher dreißig Kilo mehr in einen Fausthieb stecken als der ehemalige Offizier.

»Schluss«, murmelte er.

»Was?«

»Nichts. Und ein Luftgewehr?«

Birger Jarl Nilsen nagte an seiner Unterlippe und schüttelte den Kopf, während er sich das Bild dichter vor die Augen hielt.

»Tja. Eine Luftgewehrkugel hat eine Ausgangsgeschwindigkeit von … sagen wir … von einigem unter hundert Metern pro Sekunde bis zu knapp fünfhundert. Die Kugel kann alles sein, von Pellets bis zu avancierter Munition. Das Gewicht liegt zwischen vielleicht einem halben Gramm oder noch weniger und …« Er richtete sich ein wenig auf und wühlte in seiner Hosentasche. »… so was. Das ist eine Exact Jumbo Beast von JBC

Er hielt eine Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger, die an einen gedrungenen kleinen Atompilz erinnerte.

»Die wiegt über zwei Gramm. Aber es gibt auch noch schwerere. Das erfordert natürlich eine kräftige Waffe und braucht eine Anschlagskraft von vierzig Joule oder mehr.«

Vermutlich sah Fredrik leicht verwirrt aus, denn der andere fügte hinzu: »Ich trainiere im Moment mit dem Nachbarjungen an meinem Schießstand im Garten. Und wenn das hier ein Luftgewehr gewesen wäre …« Er steckte die Kugel wieder in die Tasche und sah abermals das Foto an. »… dann müsste es eine kleine, schwache Waffe sein.«

»Aber ist es möglich? Dass hier die Rede von einem Schuss ist?«

Birger Jarl Nilsen schob das Foto zurück über den Tisch.

»Warum fragst du? Der Mann kann doch unmöglich an dieser Wunde gestorben sein? Das hat ja kaum geblutet.«

Fredrik seufzte tief.

»Kannst du bitte meine Frage beantworten? Kann diese Wunde von einem abgefeuerten Luftgewehr stammen?«

Birger Jarl Nilsen verschränkte die Arme vor der Brust. Er kniff die Augen zusammen, dann schniefte er leicht, fuhr sich mit dem Finger über die Oberlippe und sagte schließlich: »Ja. Schwache Waffe, leichte Munition, gewisse Entfernung. Und ein ausreichend guter Schütze, um mit den Herausforderungen fertigzuwerden, die darin liegen. Die Kugel kann da getroffen haben …«

»In der Wade.«

»In dieser Wade, vielleicht sogar durch eine Hose. Dabei ist diese Wunde entstanden, und die Kugel ist vermutlich heruntergefallen oder hat noch eine Weile dringesteckt. Ich nehme an, dass ein solcher Treffer bestenfalls als Insektenstich aufgefasst werden könnte.«

»Bestenfalls?«

»Ja, für den Schützen, meine ich. Nicht für das Opfer. Ich gehe davon aus, dass das Opfer den Schmerz nicht besonders wichtig nehmen sollte? Ich verstehe ja nicht, weshalb, und wie gesagt wäre sehr viel Wissen nötig, um das zu berechnen. Der Schaden ist, wie gesagt …« Er nickte zu dem Foto von Børre Rosenhoffs Wade hinüber. »… ja wohl kaum der Rede wert.«

Glaubst du, dachte Fredrik.

Der Schütze konnte eine Spezialkugel verschossen haben. Eine mit Rizin bestrichene. Oder, noch besser, mit dem Gift gefüllt, wie es bei der Ampulle der Fall gewesen war, die damals in London den bulgarischen Journalisten getötet hatte. Ebenso klein, ebenso unmerklich. Damals ein Stich mit einem Regenschirm, diesmal ein Schuss aus einer kleinen Luftfeuerwaffe.

Während das Opfer joggen war, zum Beispiel. Wie Børre Rosenhoff jeden Mittwoch und jeden Samstagmorgen, man hätte die Uhr danach stellen können. Wie am letzten Mittwoch, wenige Stunden, bevor er erkrankt war. Der Stich hatte vermutlich ein wenig gebrannt. Die Kugel wurde vielleicht achtlos weggewischt. Während der Mann lief, oder beim Duschen.

Der Schaden war schon passiert, Sekunden, nachdem der Minister getroffen worden war.

»Danke«, murmelte Fredrik. »Ich muss nach Hause.«

»Du siehst aus, als ob ein paar Stunden Schlaf dir guttun würden, ja.«

Was er mehr brauchte als Schlaf, war eine Unterredung mit Selma Falck, überlegte Fredrik Smedstuen und sagte nicht einmal Auf Wiedersehen, als Birger Jarl Nilsen sich erhob und ging.