Lars Winther war so wütend, dass er kaum klar denken konnte. Dass Selma bisweilen schwer zu erreichen war, war eine Tatsache, mit der er nach und nach zu leben gelernt hatte. Ihr Verhalten jetzt dagegen war absolut inakzeptabel. An diesem Tag hatte er sechs Mal versucht, sie anzurufen. Und war jedes Mal sofort auf der Mailbox gelandet. Sie hatte auch die vier SMS nicht beantwortet, die er ihr geschickt hatte.
Am Ende hatte er es mit einer Mitteilung auf Messenger versucht, dort würde er jedenfalls sehen können, ob Selma sich die Nachrichten überhaupt anschaute. Immer, wenn er nachsah, war noch immer das verdammte Häkchen zu sehen. Die Mitteilung war noch nicht gelesen worden.
Sie hatte Dinge, die ihm gehörten. Einen Ordner mit Papieren und einen Speicherstick mit einer Tondatei, von der er noch immer nicht wusste, ob sie sich öffnen lassen würde. Es war zwar sein Fehler gewesen, dass er die Sachen bei Selma vergessen hatte, aber das bedeutete nicht, dass sie alles behalten und sich in totale Funkstille verziehen konnte. Wenn er nicht allein bei seinem Sohn in Ullevål gewesen wäre, wäre er direkt nach Sagene gefahren und hätte die sofortige Herausgabe seines Eigentums verlangt.
Und schließlich könnte sie ja auch ein wenig Interesse daran zeigen, wie es Leon ging.
Bei diesem Gedanken wurde er noch wütender.
Klar, ihre Beziehung war eher eine Partnerschaft als eine Freundschaft. Dennoch hatten sie gemeinsam so viel erlebt, dass sie eine gewisse Empathie zeigen könnte. Selma hatte seltsamerweise nie besonders große Liebe zu ihren eigenen Kindern an den Tag gelegt, aber nach ihrem kleinen Enkel war sie richtig verrückt. Da musste sie doch verstehen, was Lars jetzt durchmachte.
Das Display seines Handys leuchtete auf.
Ein Kollege von Aftenavisen wollte mit ihm sprechen, wie Lars sah. Er griff nach dem Handy, nahm den Anruf an und flüsterte ein Hallo, während er zur Tür lief.
»Hallo. Du, was treibt deine Freundin an einem Sonntagabend denn bei der Bullerei?«
»Was meinst du?«
»Selma Falck. Ich weiß zufällig, dass sie soeben über eine halbe Stunde bei Kjersti Spang gesessen hat.«
»Bei der Polizeichefin?«
»Jepp. Der Kriminalchef war auch dabei, und zwei Hauptkommissare. Der, der für das Løkka-Attentat zuständig ist, war der eine. Die Gerüchteküche kocht gerade über. Dieser Selbstmord von Breien soll offenbar Mord sein. Und oben im Rikshospital wurde heute Nacht umfassender Virusalarm geschlagen. Jetzt haben sie sich wieder beruhigt, glaube ich, aber das alles soll irgendwas mit dem Tod von Børre Rosenhoff zu tun haben. Es hagelt nur so Tipps und weitere Informationen. Drei prominente Persönlichkeiten aus Politik und Rechtswesen in weniger als zwei Wochen umgebracht. Verdammt seltsam, das musst du zugeben.«
»Äh … vielleicht.«
»Aber niemand kann uns sagen, was Selma Falck bei der Polizei wollte.«
Lars versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
»Das hat sicher mit dem Mord an Linda Bruseth zu tun«, sagte er wie auf Autopilot. »Eine Vernehmung oder so was.«
»Nimmt die Polizeichefin neuerdings Zeugenvernehmungen persönlich vor? Oder der Kriminalchef? Das wäre ja mal ganz was Neues.«
»Äh … vielleicht. Oder … ich habe ehrlich keine Ahnung. Ich versuche jetzt seit zwei Tagen, Selma zu erreichen, aber ohne Erfolg.«
»Hör doch auf. Mir ist ja klar, dass du gerade nicht arbeiten kannst, jetzt, wo dein Kleiner … Geht es gut, übrigens? Deinem Sohn?«
»Ja. Viel besser.«
»Schön. Und du musst jetzt natürlich bei ihm sein. Aber wenn du etwas weißt, das ein Aufmacher sein könnte, kannst du nicht einfach darauf sitzen bleiben, bis …«
»Ich weiß nichts«, fiel Lars ihm mit scharfer Stimme ins Wort. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Wenn du hier irgendwas zum Leben erwecken willst, dann kannst du eine kleine Meldung darüber posten, dass Selma bei so einem Treffen war. Wenn deine Quellen gut genug sind. Wenn du noch dazu irgendeine qualifizierte Person im Polizeigebäude fragst, worum es da eigentlich geht, kriegst du vielleicht ein ›Kein Kommentar‹ als Antwort. Das bedeutet, dass da etwas vor sich geht. Was schon ein Aufmacher wäre. Und so ein Artikel kann leicht zu weiteren Tipps führen. Das Polizeigebäude ist doch löchrig wie ein Sieb.«
Es kratzte in der Leitung. Ein Zischen verriet, dass der Kollege soeben eine Dose mit einem kohlensäurehaltigen Getränk geöffnet hatte.
»Und du weißt nichts?«, fragte er und schlürfte irgendetwas.
»Nichts«, sagte Lars. »Das kannst du mir glauben.«
»Okay. Ich muss wieder an die Arbeit. Gute Besserung für den Kleinen.«
»Danke.«
Das Gespräch wurde abgebrochen. Lars war dermaßen außer sich, dass er jetzt im Zimmer im Kreis lief. Um das Bett mit den vielen Geräten war nicht besonders viel Platz, aber er konnte einfach nicht still sitzen.
Leon war schon längst eingeschlafen.
Vermutlich würde er noch lange nicht aufwachen. Lars konnte sich also eine Stunde freinehmen und in Sagene vorbeischauen. Es war inzwischen zehn Uhr am Sonntagabend; Selma war ziemlich sicher zu Hause.
Er sah den Jungen im Bett an.
Er war so klein. So unvorstellbar verletzlich, wenn man sich das richtig überlegte. Er konnte jetzt selbst atmen und essen, und die Medikamente hielten die schlimmsten Schmerzen in Schach. Dennoch hätte Lars alles gegeben, was er hatte, um mit dem armen Wicht den Platz zu tauschen. Langsam setzte er sich wieder und strich dem Jungen behutsam mit dem Zeigefinger den Pony aus den Augen.
Wenn Leon zu sich kam, musste ein Elternteil anwesend sein.
Morgen Abend dagegen würde seine Frau die Bettwache übernehmen. Selma würde also einen Tag Frist bekommen. Wenn sie sich bis dahin nicht gemeldet hätte, würde er ihr die Hölle heiß machen.
Bis dahin würde er nerven und nerven. Und noch mehr nerven.