Obwohl es erst sieben Uhr morgens war, hatten ihr auf Facebook bereits mehr als sechshundert Menschen gratuliert. Die Götter mochten wissen, wie sie es schaffen sollte, jeden Glückwunsch mit einem Herzen zu markieren. Die meisten mit vielen Followern schrieben am selben Abend oder am nächsten Morgen einen gemeinsamen Dank, aber Selma Falck war nicht wie die meisten. Jedes Jahr reservierte sie zwei Stunden, um allen Gratulanten persönlich zu danken, mit einigen zusätzlichen Worten für die, die ihr irgendwann persönlich begegnet waren.
Seit sie angeschossen worden war, hatte sie die sozialen Medien kaum noch genutzt. Am Donnerstag wäre das zwei Wochen her. Einige ihrer echten Freundinnen und Freunde fragten nun auch schon nach ihrem Verbleib. Zuerst mit einigen Scherzworten auf ihrem Profil, danach mit ernsthafteren SMS . Vanja Vegge allein hatte ihr sicher in der vergangenen Woche fünf Mitteilungen geschickt, dazu eine Mail, in der es um die Weihnachtsfeier ging.
Selma würde bald antworten müssen.
Aber nicht heute.
Als sie Sweatshirt und Jogginghose angezogen hatte, wanderte sie hinüber in die Küche. Im Kühlschrank stand noch immer eine Dose echte Cola, aber die öffnete sie nicht. Obwohl es ihr guttun würde und obwohl sie in genau fünf Stunden dreiundfünfzig wurde.
Ihr Vater hatte immer ein großes Gewese darum gemacht, dass sie um Punkt zwölf Uhr mittags geboren worden war. Er hielt das für einen Glückstreffer, für etwas, das das Leben für sie einfacher machen würde. Er war Physiker gewesen, über Astrologie hatte er nur gelacht, und er hatte auch von anderen obskuren Glaubensrichtungen nichts gehalten. Trotz seiner fünf Jahre als Hippie in den USA . Warum er von allen Besonderheiten Selmas ausgerechnet den Zeitpunkt ihrer Geburt für so wichtig hielt, begriff sie nicht. Als sie mit dreizehn Jahren zum ersten Mal in einem Spiel der Handball-Kreisliga angetreten war, war er dagegen zu beschäftigt gewesen, um zuzusehen. Selma war die Einzige in der ganzen Mannschaft, deren Eltern nicht auf der Tribüne saßen. Nur ihr Bruder kam, eine Stunde vor Spielbeginn, und er wartete zudem geduldig auf sie, um danach zusammen mit ihr nach Hause gehen zu können.
Selma hatte damals das beste Spiel in ihrem bisherigen Leben gemacht.
Die anderen Mädchen wurden von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt. Herman und Selma nahmen in Lillestrøm die Bahn und vom Osloer Ostbahnhof die Straßenbahn. Sie bezahlten die Bahnfahrkarten von ihrem eigenen Geld und fuhren in der Straßenbahn schwarz.
Selma verdrängte den Gedanken an ihren Bruder. Solche Gedanken brachten nichts Gutes. Das Handy klingelte.
Niemand durfte sie vor halb neun Uhr morgens anrufen, das wussten alle, die sie kannten. Nicht weil sie dann noch schlief, sondern weil sie Zeit brauchte, um richtig wach zu werden. Sicher war es ein Journalist. Oder ein Telefonverkäufer, dachte sie gereizt und griff nach dem Handy, das mit dem Display nach unten auf dem Küchentisch lag.
Lars Winther.
Nein. Mit dem mochte sie jetzt nicht reden. Beim bloßen Gedanken an Lars Winther verspürte sie einen Stich von schlechtem Gewissen. Er hatte sie in den letzten Tagen tausendmal angerufen. Wenn sie ehrlich sein sollte, dann hatte sie seine Unterlagen einfach mit Beschlag belegt. Er hatte zudem keine Ahnung, dass sie nun Zugang zu den Tonaufnahmen hatte. Da sie aber gerade eine Spur verfolgte, von der er ebenfalls keine Ahnung hatte, fand sie es sinnvoll, das mit den Tondateien geheim zu halten.
Sie ließ das Handy liegen und ging ins Badezimmer.
Eigentlich hätte sie an diesem Tag ins Krankenhaus gemusst, um die Fäden ziehen zu lassen. Das aber wäre Zeitverschwendung und barg zudem eine kleine Gefahr, Lars Winther über den Weg zu laufen. Als sie geduscht hatte, wie immer mit Plastikfolie um den Arm, sah sie, dass die Wunde trocken und gut verheilt aussah. Kein bisschen rot, nur sah die angehende Narbe eben noch ziemlich frisch aus. Die Drainage, ein Plastikröhrchen mitten in der fünf Zentimeter langen Operationsnarbe, war schon von selbst locker geworden. Nachdem Selma ein Feuerzeug ausreichend lange unter eine Pinzette und eine Nagelschere gehalten hatte, brauchte sie nur zwei Minuten, um Fäden und Drainage zu entfernen. Sie tupfte die Wunde mit einem Antiseptikum ab und legte einen neuen sterilen Druckverband auf.
Als sie sich angezogen hatte und zurück ins Wohnzimmer kam, stellte sie fest, dass DG , Dagbladet und NRK angerufen hatten. Ein wenig beunruhigt setzte sie sich an den Laptop und loggte sich ein.
Die Kriegsgefahr im Mittleren Osten war weiterhin vorhanden und wuchs nach neuen Drohnenangriffen auf saudi-arabische Ölanlagen weiter an. Der Ölpreis schoss gen Himmel, und Donald Trump trampelte wie ein wild gewordenes Nilpferd herum und machte alles noch schlimmer. Zudem war bei einem Schiffsunglück vor Averøy ein Lette umgekommen, konnte Aftenavisen berichten.
Selma Falck bei geheimer Polizeibesprechung.
»Shit«, fauchte Selma. »Shit, shit, shit!«
Dieser verdammte Lars Winther.
Sein Name stand nicht über der Meldung, aber niemand hätte in Aftenavisen über Selma geschrieben, ohne sich zuerst bei Lars zu erkundigen. Sie las den Artikel zwei Mal. Er war nicht lang, und streng genommen stand nicht viel darin. Es wurde darüber spekuliert, ob Selma zu einer Art Sonderberaterin der Polizeichefin ernannt worden sei, vor allem im Hinblick auf die beiden hoch profilierten Mordfälle, die es zu lösen galt. Zum Glück wurde Børre Rosenhoffs Tod nicht erwähnt. Die Polizei hätte sich aus der Sache leicht herausreden können. Die Polizeisprecherin hatte jedoch den bekannten Kardinalfehler begangen: Sie hatte den Kommentar verweigert.
Und damit hatte sie die Presse geradezu zum Weitergraben aufgefordert.
Die Leute sollten lernen, mehr zu lügen, dachte Selma wütend. Viel mehr. Das Leben wurde dann unvorstellbar viel leichter. Genervt schnappte sie sich das Handy und suchte Lars’ Nummer. Er meldete sich nach einem Klingeln, und ehe Selma überhaupt etwas sagen konnte, hörte sie ihn bereits rufen: »Endlich! Wo zum Teufel hast du dich rumgetrieben? Ich habe angerufen und SMS geschickt und …«
»Wo ich mich rumgetrieben habe?«, fiel Selma ihm mit scharfer Stimme ins Wort. »Da hätte ich ja wohl viel mehr Grund, dich zu fragen. Was in aller Welt soll diese Meldung in Aftenavisen bedeuten? Seit wann schreibst du über mich, ohne erst mit mir zu sprechen?«
»Ich? Ich bin verdammt noch mal im Krankenhaus, mit einem Sohn, der gerade erst einen schweren Unfall überlebt hat. Ich hab ja wohl rein gar nichts geschrieben!«
»Wir haben eine Abmachung, Lars.«
Selma musste sich zusammenreißen, um nicht zu fauchen.
»Du und ich, wir arbeiten mit gegenseitiger Hilfeleistung. Im vorigen Jahr hast du ein dickes Geschenk von mir gekriegt. Das hat dir SKUP -Preise und andere Ehren und Lobesworte eingetragen. Du gehst mir zur Hand, wenn ich das brauche, und …«
»Ich gehe dir zur Hand? Was zum Teufel ist das für eine Sprache? Ich bin ja wohl nicht dein Scheißdiener!«
Selmas Zorn legte sich ein wenig. Sie konnte nicht verstehen, warum er so wütend war. Sich füreinander unerreichbar zu machen, war keine neue Übung für sie beide. Ihre ganze Partnerschaft baute auf einer Gegenseitigkeit auf, zu der es auch gehörte, bisweilen auf Distanz zu bleiben.
»Was ist eigentlich in dich gefahren?«, fragte sie etwas weniger aggressiv.
»In mich gefahren? In mich gefahren? Hier bin ich mit meiner Familie in einer echten Krisensituation, und du meldest dich ganz einfach ab, du musst doch …«
»Wir haben am Freitag lange miteinander gesprochen«, unterbrach sie ihn. »Und ich hab dir eine SMS geschickt, als wir dann leider unterbrochen wurden.«
»Freitag? Heute ist Montag! Mein Junge hat zwischen Leben und Tod geschwebt und …«
»Hör doch auf. Also ehrlich. Es ist gut gegangen, hast du am Freitag gesagt. Darüber habe ich mich natürlich gewaltig gefreut. Ich habe sehr viel an dich und deine Familie gedacht. Aber ich wollte euch nicht stören.«
Am anderen Ende der Leitung war etwas zu hören, das wie ein Stöhnen klang. Lars war schon früher sauer auf sie gewesen, ab und zu mit gutem Grund. Das musste Selma zugeben. Aber sein Ausbruch jetzt ging wirklich zu weit.
»Es gibt keinen Grund, miteinander zu reden, wenn du so wütend bist«, sagte sie mit so großer Ruhe, wie sie überhaupt aufbringen konnte. »Wir könnten dabei Dinge sagen, die wir nicht meinen.«
»Du hast meine Sachen, Selma! Meinen Ordner und den Speicherstick! Hast du damit etwas gemacht?«
»Nein. Die liegen hier, wo sie die ganze Zeit gelegen haben. Natürlich rühre ich deine Sachen nicht an. Rein gar nichts hab ich damit gemacht!«
Lars wirkte immerhin ein wenig verträglicher, als er sagte: »Ich will alles zurückhaben. Jetzt.«
»Jetzt geht es nicht, Lars. Ich habe anderes zu erledigen. Andere Verpflichtungen.«
Lars murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Im Krankenhaus, aber auf dem Weg nach Hause. Ich breche jetzt auf.«
»Kannst du dich nicht einfach um Leon kümmern? Deine Unterlagen sind bei mir doch in Sicherheit. Du hast ja ohnehin im Moment nicht die Möglichkeit, besonders viel zu arbeiten. Wenn ich Zeit finde, werde ich ein paar Computerfachleute, die ich kenne, um Hilfe bei der gesperrten Datei bitten. Ich habe nicht so große Erwartungen, aber ich werde es versuchen.«
Jetzt gab er keine Antwort. Sie war dabei, ihn umzustimmen.
»Können wir uns nicht treffen? Sagen wir morgen. Dienstag. Hier bei mir. Wir können ja erst mal verabreden, dass du um neun Uhr abends herkommst. Dann schläft Leon doch sicher.«
Noch immer sagte Lars kein Wort.
»Dann ist das abgemacht«, entschied Selma. »Bis dann.«
»Warte!«
»Was ist los?«
»Was hast du eigentlich gestern Abend im Polizeigebäude gemacht?«
»Ich hab bei Fredrik Smedstuen vorbeigeschaut, Lars. Ganz einfach. Es gab ein paar Unklarheiten in meiner Zeugenaussage nach dem Mord an Linda Bruseth. Die sind da drüben ziemlich gestresst, und ich hab ihm einen Gefallen damit getan, dass ich gekommen bin. Schlicht und einfach. Dieser Artikel in deiner Zeitung ist absolut ohne Grundlage. Jetzt habt ihr mir ganz Medien-Norwegen auf den Hals gehetzt. Ohne Grund. Und das noch dazu an meinem Geburtstag.«
Am anderen Ende der Leitung war ein kleinlautes »Gratuliere« zu hören.
»Ich muss los«, sagte Selma und legte auf.
Blitzschnell holte sie den Speicherstick mit den gesperrten Dateien, die sie beide nicht hatten öffnen können. Sie befestigte ihn mit Klebeband innen in dem grünen Ordner und steckte alles in eine Plastiktüte der Supermarktkette Rema 1000 .
Danach legte sie das Paket auf die Kommode in der Diele.
So. Lars war nicht mehr wütend, und bald würden sie wieder Freunde sein. Sie würde die Anrufe der anderen Medien unterwegs beantworten und ihnen genau das erzählen, was sie schon zu Lars gesagt hatte. Alles und alle würden sich beruhigen. Und jetzt wollte sie zu Einar. Sie hatte ihm gestern einen sinnlosen Auftrag erteilt: Informationen über Torstein Heimdal zu sammeln. Einar hatte sicher nur Minuten gebraucht, um die Daten zu finden, die er in einer komisch förmlichen Notiz zusammengestellt und ihr zugemailt hatte. Selma hatte beschlossen, die Nachbarn oben zu vergessen, und die Götter mochten wissen, wozu Einar den Rechner jetzt gerade benutzte.
Das mit Lars war jedenfalls bis auf Weiteres geklärt.
Selma verriegelte beide Schlösser der Wohnungstür. Wieder kam ihr dieser Gedanke: Wenn die Menschen einfach lernen könnten, ab und an zu einer Unwahrheit zu greifen, wäre die Welt wahrlich ein viel besserer Ort.
Für alle.