Endlich war Karstein Braatens Mutter beigesetzt worden.
Es war eine Trauerfeier gewesen, wie die alte Dame sie sich gewünscht hätte, wenn sie noch bei Verstand gewesen wäre. Es war über vier Jahre her, dass sie ihren einzigen Sohn zuletzt erkannt hatte, und in der Todesanzeige hatte Karstein Braaten mitgeteilt, dass die Beisetzung in aller Stille vor sich gehen würde. Was bedeutete, dass er allein war. Mit dem Geistlichen, natürlich, und zwei anderen Kirchenvertretern, aber ganz ohne Freunde und Bekannte.
Der Abteilungsleiter in der Abteilung für Analyse und Datenverarbeitung im Büro für Gesellschaftliche Sicherheit und Zivilschutz war nach der Zeremonie zu einer Circle-K-Tankstelle gefahren und hatte dort eine Wurst mit Brot verspeist. Danach war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte mit seinem Arbeitstag weitergemacht.
Er hatte nun schon viele Jahre um seine Mutter getrauert. Nun verspürte er vor allem eine Art wehmütige Erleichterung.
Freiheit, vielleicht, davon, an sie denken zu müssen, und genau das zu tun, was er wollte. Vor langer Zeit hatte er zwei Cousinen gehabt, aber die waren bei einem Flugzeugabsturz in Nigeria ums Leben gekommen, ehe sie die Möglichkeit gehabt hatten, eine Familie zu gründen.
Karstein Braaten war nun familienlos, und in gewisser Hinsicht fand er das durchaus angebracht, wenn er an seine Arbeit dachte. Nichts durfte für ihn persönlich sein. Alles musste mit kühler, professioneller und ruhiger Distanz betrachtet werden.
Ein Kurier hatte ihm einen Brief gebracht. Das machte ihn nervös.
Karstein Braaten konnte Unregelmäßigkeiten nicht vertragen. Vieles von dem, mit dem er sich beschäftigte, war allerdings alles andere als regulär, in der Hinsicht, dass es geheim war. Böse Zungen hätten wohl den Ausdruck »der demokratischen Kontrolle entzogen« verwendet, aber seiner Ansicht nach wäre das unzutreffend. Er schrieb seine Berichte und hielt den Justizminister auf dem Laufenden. Dass das Ministerium kreative Lösungen gefunden hatte, um die Gesetze über den Informationsauftrag der Öffentlichkeit zu umgehen, war ein Kunstgriff, zu dem alle Demokratien ab und zu greifen mussten, um Frieden, Freiheit und eben Demokratie zu sichern.
Leider, meinten Karstein Braaten und auch noch andere, war seine Aufgabe zu wichtig, um moderner Transparenz unterworfen zu werden. Jedenfalls nicht vollständig.
Der Brief, den er jetzt las, war dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen. Es war eine Notiz aus dem Büro des Generalstaatsanwalts, mit einer Kopie für das Büro des Ministerpräsidenten. Es handelte sich um eine kurze, aber präzise Darstellung der Herausforderungen in den Fällen, die bald vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zur Verhandlung kommen würden.
Die juristischen Seiten dieser Angelegenheiten machten Karstein weniger Sorgen. Er war kein Jurist, auch wenn er sich in diesen vielen Jahren Kenntnisse in diesem Fach angeeignet hatte, die weit über den Durchschnitt hinausragten. Er verließ sich darauf, dass der Generalstaatsanwalt den vollständigen Überblick hatte. Dass die beklagten Urteile mit dem norwegischen Recht übereinstimmten, war über jeden Zweifel erhaben. Dass die Urteile rein substanziell gut waren, also dass es den Kindern, von denen hier die Rede war, als Folge der für sie getroffenen Beschlüsse besser ging, ebenfalls. Ob diese Auslegung der Gesetze aber zu hundert Prozent mit Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, nämlich dem Schutz von Privat- und Familienleben, übereinstimmte, würde sich noch herausstellen müssen. Im Büro des Generalstaatsanwaltes rechneten sie mit Freisprüchen. Und meinten, dass man im entgegengesetzten Fall eben mit einer oder mehreren negativen Entscheidungen leben müsste; es gab praktische Regeln dafür, wie sich das Oberste Gericht und danach die Gesetzgeber zu verhalten hätten.
Außerdem gab es Grenzen dafür, wer sich wirklich für Jugendschutz interessierte. Die ganze Behörde war doch etwas, um das die meisten Leute einen großen Bogen machten.
Öl auf die Wogen, dachte Karstein, als er den Brief zum vierten Mal gelesen hatte. Das war das hier: eine trockene und beruhigende Darstellung eines juristischen Problems, über das man die volle Kontrolle zu haben glaubte. Es war deshalb auch nicht dieser Brief, der ihm Sorgen machte.
Der Folgebrief, über den weder der Generalstaatsanwalt noch der Justizminister oder das Büro des Ministerpräsidenten informiert war, war viel besorgniserregender. Er war kodiert und mit der normalen Post zu ihm gelangt, scheinbar total unschuldig. An seine Privatadresse, in einem anonymen Umschlag ohne Absender. Das Schriftstück stammte von einer Abteilung beim Polizeilichen Sicherheitsdienst, dem PST . Auch die hatte eine neutrale Bezeichnung, genau wie die Abteilung des Büros für Sicherheit und Zivilschutz, der Karstein selbst vorstand. Der Unterschied war, dass, während Karsteins Untergebene allesamt nicht so ganz wussten, womit er sich beschäftigte, diese kleine Unterabteilung des PST eine Gruppe von Machern war.
Die gab es. Sie wurden sogar hier und da in den jährlichen Berichten des EWR -Ausschusses erwähnt, des parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste, aber dann nur für die Aktivitäten, für die sie auf dem Papier zuständig waren. Nur elf Menschen wussten von der Arbeit, die sie außerdem selbst ausführten. Die elf hatten einen eigenen Namen für die Gruppe.
Sie nannten sie Die Feuerwehr .
Die Feuerwehr löschte Brände, die gefährliche Unruhe auslösen könnten. Dabei handelte es sich nicht um normale demokratische Debatten und Streitereien, sondern um zutiefst schädliche Skandale. Sie kümmerten sich nicht um alle, nicht einmal um die meisten, aber wenn das Vertrauensbarometer zu sehr im Sinken begriffen war und ein weiterer Tropfen das brüchige Gleichgewicht, von dem eine Gesellschaft wie die norwegische abhängig war, zum Überlaufen bringen könnte, dann besaßen sie ihre Methoden und ihre Strategien. Die allerdings nicht immer ausreichten. Der NAV -Skandal war eine Katastrophe mit Ansage gewesen, ohne dass die Feuerwehr irgendetwas hatte ausrichten können. Der Skandal war einfach zu groß geworden. Viel zu viele hatten davon gewusst. Die Konsequenzen sah man jetzt: ein Kommentatorenkorps im Aufruhr, aufschreiende Juristen und Tausende von Menschen, die nur zu gern ihre Geschichten über staatliche Übergriffe gegen ganze Familien an die Öffentlichkeit brachten. Viele dieser Fälle waren äußerst tragisch.
Dieser neue Fall, der Bestandteil des Folgebriefes war, war von geringeren Ausmaßen, konnte aber trotzdem eine zutiefst beunruhigende Wirkung haben, wenn er bekannt würde. Ein junger Mann, ein Angestellter im Familienministerium, hatte vor wenigen Monaten interne Informationen an einen Journalisten durchgestochen. Unter anderem Tonaufnahmen, die, wenn sie auf Abwege gerieten, für die Behörde von ungeheuer schädlicher Wirkung sein könnten. Karstein hatte nie genau erfahren, worum es hier ging. Dennoch hatte er sich ein gewisses Bild gemacht.
Es ging ganz einfach um Urkundenfälschung.
Von amtlicher Seite.
Der Generalstaatsanwalt ahnte offenbar nichts.
Das tat auch sonst fast niemand, aber dieser Allan Strømme hatte angeblich über Beweise verfügt. Das tat er nach dem Besuch der Feuerwehr draußen in Mortensrud zum Glück nicht mehr. Beunruhigend war die Geschichte trotzdem.
Die NAV -Angelegenheit drehte sich darum, dass kein Jurist in dem gewaltigen Staatsapparat, der Norwegen ausmachte, erkannt hatte, dass das Gesetz falsch ausgelegt wurde. Das war schlimm genug. Dass eine Einrichtung wie die Jugendämter, mit der Befugnis zu gewaltigen Eingriffen in Leben und Rechte der einzelnen Bürger, ihre Fälle manipulierten, war noch schlimmer.
Allan Strømme hätte sich natürlich auf seine Rechte als Zeuge berufen und sich an die richtigen staatlichen Stellen wenden müssen. Dann wäre vermutlich sogar die Feuerwehr machtlos gewesen. Er hatte sich für eine andere Strategie entschieden: zur vierten Staatsmacht zu laufen und zu plappern. Der Journalist hatte sich zwei Wochen danach vor einer nächtlichen Fahrradtour durch die Osloer Innenstadt volllaufen lassen. Er war mit einem Taxi zusammengestoßen und noch in derselben Nacht verstorben.
Ganz ohne Einwirkung von dritter Seite.
Tragisch für ihn und seine Familie. Ein Treffer für die Feuerwehr. Allan Strømme selbst hatte sich als umgänglich erwiesen, stand in dem Brief. Was aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutete: außer sich vor Angst. Er hatte geschworen, dass niemand eine Kopie der Tonaufnahmen besaß, er habe nur mit seinem Freund bei Aftenavisen gesprochen. Der Mann hatte seine Rechner nur zu gern im Austausch gegen neue hergegeben und war offenbar erschüttert gewesen beim Gedanken an die Konsequenzen, die ihm drohten, wenn er sich nicht genau so verhielt, wie ihm befohlen wurde.
Die Gefahr war vorüber, jedenfalls soweit man überhaupt hoffen konnte. Soweit man mit einem Regelwerk kommen konnte, das es trotz allem gab und das letztendlich in einer modernen Demokratie funktionieren sollte. Die Feuerwehr war in dieser Hinsicht nicht ungesetzlich. Die Gruppe hatte keine Ähnlichkeit mit den illegalen Kräften, die im vergangenen Herbst aufgeflogen waren, reinen Abwehrorganisationen, die sich die gröbsten Freiheiten herausnahmen, wenn sie das für notwendig hielten.
Die Feuerwehr war eher wie ein diskreter Diener: einer, der aufräumte, abwusch und Dinge unter den Teppich kehrte.
Karstein Braaten hatte noch immer den Geschmack der Wurst von der Tankstelle im Mund. Die Wurst hatte einen Stich ins Bittere gehabt, und das Ketchup schmeckte sauer. Der Senf dagegen war zu süß gewesen, auf den hätte er verzichten müssen.
Unregelmäßigkeiten, hatte die Feuerwehr das genannt.
Ein gelinde gesagt zaghaftes Wort für staatliche Urkundenfälschung, wenn Allan Strømmes Behauptungen zutrafen.
Aber das konnte Karstein Braaten nicht so genau wissen. Das würde niemals irgendwer so genau wissen.
Und das war gut so.