Schlaues Manöver

»Das war Selma Falck«, sagte Fredrik Smedstuen, wie um sich zu entschuldigen, und steckte das Handy in die Jackentasche.

»Was wollte sie?«, fragte Sylvi Mobakk.

»Irgendwas. Ich hab das nicht ganz verstanden. Wo waren wir?«

Sie standen auf der kleinen Lichtung, wo die Richterin Kajsa Breien vier Tage zuvor an einem Birkenast hängend aufgefunden worden war. An diesem Morgen waren die schwarz-gelben Absperrbänder der Polizei entfernt worden. Hier und da waren Bäume und Gebüsch mit oranger Sprühfarbe markiert. Die war im Regen bereits verblasst und würde in einer oder zwei Wochen verschwunden sein.

»Der hat uns total an der Nase herumgeführt«, sagte Sylvi, nicht ohne eine Spur von Bewunderung in der Stimme.

»Du bist noch immer sicher, dass wir es mit einem Mann zu tun haben?«, fragte Fredrik.

»Jetzt auf jeden Fall«, sagte Sylvi und wieherte kurz. »Der hat die Frau ja den ganzen Weg vom Sognsvann hergeschleppt.«

Auch Fredrik war ein bisschen beeindruckt. Mehr als vier Tage lang hatte die Polizei die Umgebung der Birke durchkämmt. Sie waren alles durchgegangen, was Verkehrskameras und andere Überwachungsgeräte in den nach Grinda führenden Straßen aufgenommen hatten. Die Tatorttechniker hatten sich bisher nur auf den Waldbereich zwischen Birke und Straße konzentriert. Besser wäre es gewesen, sie wären ins Waldesinnere gegangen. Fort von der Straße.

Um sechs Uhr an diesem Morgen war nämlich die Meldung eingelaufen, dass auf dem Parkplatz beim Sognsvann ein Wagen in Flammen stand. Das Auto stand dicht beim Waldrand, und als die Feuerwehr dort eintraf, war nicht mehr viel übrig außer einer ausgebrannten Karosserie. Die Möglichkeit, hier DNA zu sichern, war absolut minimal. Was dennoch bei der Polizei ein besonderes Interesse an diesem Auto erweckte, war eine stählerne Knieschiene im Kofferraum. Sie war verrußt und schwarz, und Teile der elastischen Textilien waren verschwunden. Ein geistesgegenwärtiger Kollege hatte die Schiene entdeckt und festgestellt, dass es sich um eine Spezialanfertigung handelte. Er konnte eine Seriennummer und eine Typenbezeichnung herauspolieren, und zwei Stunden später stand fest, dass diese Schiene Kajsa Breien gehört hatte. Der Wagen, eine BMW 3 er Limousine, war aus einer Garage im Løchenveien auf Bygdøy gestohlen worden, nur zweihundert Meter von Kajsa Breiens Haus entfernt. Die Besitzer waren verreist gewesen und hatten von dem Diebstahl erst erfahren, als die Polizei sie am Vormittag auf den Bahamas angerufen hatte. Da ihr Sohn den Wagen vom kommenden Freitag an hatte ausleihen wollen, hatte der Schlüssel auf dem Reifen im rechten Radkasten gelegen.

»Also ist er mit ihr hierhergefahren«, sagte Fredrik nachdenklich. »Und hat die Leiche danach durch den Wald nach Grinda getragen. In einem Rucksack, oder wie?«

»Vermutlich. Sie hat achtunddreißig Kilo gewogen, die Kleine. Schwer, aber nicht für eine durchtrainierte Person. Und schon gar nicht für ein durchtrainiertes Mannsbild. Durch den Wald ist es ja bloß ein Kilometer.«

»Anderthalb vielleicht?«

»So ungefähr. Der Täter war also nirgendwo zwischen der Birke und der Straße da unten.«

Sie zeigte in Richtung Süden.

»Das liefert uns eine Erklärung, warum er sie hier aufgehängt hat und nicht da, wo sie gewohnt hat. Bygdøy ist eine Halbinsel mit nur einer Zufahrt für Autos. Da wäre es schwer für ihn gewesen, Kameras und so was zu entkommen. Hier dagegen hast du den Waldrand um die ganze Stadt, um dich zu verstecken. So gesehen hätte er überall zwischen Bærum und Nittedal parken können. Wenn er so weit hätte laufen wollen.«

Sie ließ den langen Pferdeschwanz langsam durch die eine Hand gleiten.

»Verdammt noch mal, kein Wunder, dass wir nix gefunden haben! Aber dass der Typ den Nerv hat, die Karre einfach da hinten beim Sognsvann stehen zu lassen und dann heute Nacht zurückzukommen, um sie abzufackeln …« Sylvi Mobakk schüttelte den Kopf. »Erst macht er was ganz Schlaues und bringt uns dazu, wertvolle Zeit zu vergeuden. Danach sichert er sich dadurch ab, dass er das Auto Tage später anzündet. Und danach ist er wahrscheinlich wieder in den Wald gegangen und hatte da irgendwo ein Transportmittel, so weit weg von hier, dass wir das nie im Leben herausfinden können. Scheißclever, muss ich schon sagen.«

»Aber einen Patzer hat er sich geleistet: das mit der Schiene. Die hätte er ja wohl irgendwo wegwerfen müssen.«

»Glaub ich nicht, nein.« Sylvi lächelte düster, was ihr langes Kinn breiter aussehen ließ. »Er wollte, dass wir sie finden. Er spielt mit uns, genau, wie du und diese Selma Falck das gestern Kjersti Spang erklären wolltet. Darin liegt eine Botschaft, Fredrik. Da habt ihr recht. Ich kapier bloß nicht, was sie verdammt noch mal bedeuten soll.«

Sie blieben einige Sekunden stehen und schauten den Baum an, dann rief Sylvi Mobakk: »Was für ein scheußliches Ende! Ich will hier ja nicht vorgreifen, aber das mit dem Auto und allem wirkt doch so, als ob der Arsch sich nur … an der Frau vergriffen hat. Ich meine …«

Sie seufzte und schlug nach einem aufdringlichen Schmetterling. Einer Vanessa atalanta , wie Fredrik sah, einem richtig großen und prachtvollen Exemplar dieser Art. Er packte Sylvi am Arm, um sie aufzuhalten, und nun setzte sich das Insekt auf seinen Zeigefinger. Da blieb es für einen Moment sitzen, um dann abzuheben und weiterzutanzen.

Sylvi war nicht beeindruckt und redete nur weiter.

»Ich meine, der muss doch vorher verdammt gut beobachtet haben«, sagte sie. »Nicht zuletzt, um das mit dem Auto zu wissen. Und wenn wir wissen, dass die Frau so ungefähr jeden Tag dieselben Abendgewohnheiten hatte, dann wurde die geheime Fluppe doch der Zeitpunkt, den er nutzen musste. Und sie war so klein, wahrscheinlich konnte er ihr einfach nur den Mund zuhalten und sie ins Auto packen. Das ist doch, wie ein Kind hochzuheben. Er hat sie sicher im Auto erwürgt, stell ich mir vor. Kleinigkeit für einen erwachsenen Mann. Lautlos und schnell.«

Fredrik kam ein Gedanke, der aber sofort wieder verschwunden war.

»Er hatte Glück, weil der Nachbar gekommen ist, als sie das erste Mal aus dem Haus kam«, sagte er stattdessen, halbwegs fragend. »Wenn Kajsa Breien zusammen mit dem Hund geraucht hätte, wäre es viel schwieriger gewesen, sie zu entführen.«

»Tja. Ja. Schwein. Oder der Kerl hatte auch damit einen Plan. Wir reden hier ja nicht gerade über einen Amateur, Fredrik.«

Sie seufzte tief und schüttelte sich. »Was ist mit dem armen Teufel da oben im Rikshospital? Irgendwas Neues?«

»Chemische Analysen verschlingen nervig viel Zeit, aber sie beeilen sich so sehr sie können. Sie suchen nach Metallspuren in dem kleinen Stich in der Wade. Die Arbeitshypothese steht fest: Er wurde auf irgendeine Weise von einem Geschoss getroffen, das nicht besonders wehtat. Also ist er einfach weitergelaufen. Das Geschoss ist dann abgefallen, wo, wissen wir nicht, aber es hat jedenfalls lange genug im Bein gesteckt, um ihn mit ausreichend viel Rizin zu versorgen.«

»Schlimm, echt!« Sylvi murmelte einige Verwünschungen und ging dann auf das am Weg abgestellte zivile Einsatzfahrzeug zu.

»Schauen wir mal am Sognsvann vorbei und werfen einen Blick auf das Wrack?«, rief sie. Fredrik war bereits zehn Meter in Rückstand geraten.

Eigentlich wartete er auf einen Haufen technischer Analysen; also steigerte er sein Tempo und beschloss, mitzukommen.