Die Geständnisse

Ewa Connert war ein bisschen beschwipst. In Selmas Wohnung befand sich seit über einem Jahr ein Vorrat aus drei teuren Flaschen Rotwein und einer Flasche Limoncello. Als Selma im vergangenen Jahr eine chaotische Beziehung zu einem jungen Sternekoch gehabt hatte, hatte der ihr untersagt, zum Essen Pepsi Max zu trinken. Mineralwasser, ob mit oder ohne Kohlensäure, ließ er durchgehen, aber wenn er selbst schon stundenlang am Herd stand, dann sollte das Essen mit der korrekten Getränkefolge genossen werden. Mit dem Limoncello machte er an heißen Tagen auf dem Balkon Spritz, und selbst Selma musste zugeben, dass das gut aussah. Als der Koch abrupt aus Selmas Dasein verbannt wurde, staubte der kleine Vorrat dann im Kleiderschrank ein.

Nun waren nur noch zwei Flaschen Rotwein übrig. Ewa hatte sich zu einem kleinen Glas überreden lassen, aber jetzt war die Flasche fast leer. Ihre Lippen hatten einen transparenten lila Belag bekommen, und ihre Augen waren ein wenig verschwommen.

»Ich habe zu viel gesagt«, sagte sie leise.

»Nein«, widersprach Selma. »Ich bin unbeschreiblich froh darüber. Danke.«

Es fiel ihr noch immer schwer, das Ganze zu verdauen. Die Geschichte war tragisch und empörend zugleich. Von beiden Seiten aus betrachtet, eigentlich.

Victoria Connert hatte sich aus zwei Gründen für diese ziemlich unorthodoxe Schwangerschaftsherbeiführung entschieden: Sie hatte wenig Zeit, und sie wollte keinen namentlich bekannten Vater für ihr Kind. Schon zum Zeitpunkt der Empfängnis war ihr klar gewesen, dass David bei anderen aufwachsen würde. Sie hatte sich für ihre Mutter und ihren Stiefvater entschieden. Obwohl sie betrunken gewesen war, war es eine geplante und, wie Selma zugeben musste, ziemlich raffiniert in die Wege geleitete Schwangerschaft.

Als Endre Cappelen im Sommer 2018 nach mehreren Jahren eines ziemlich unklaren Daseins auf Bali und in Thailand nach Norwegen zurückgekehrt war, hatte er sich freiwillig in eine Entzugsklinik begeben. Er war in elendem Zustand, und er hätte vermutlich in Südostasien sein Leben verloren, wenn er nicht eines Tages nach etwas, das an eine Überdosis grenzte, am Strand aufgelesen worden wäre. Die norwegische Rucksacktouristin hatte ihn von ihrer gemeinsamen Schulzeit her erkannt. Sie kaufte für ihn einen einfachen Flug nach Norwegen und sorgte dafür, dass ihre Mutter, die beim Blauen Kreuz tätig war, ihn unter ihre Fittiche nahm, sowie er heimatlichen Boden betreten hatte.

Sechs Wochen danach war er clean.

Das war aber auch das Einzige, was er war. Er hatte keine Ausbildung, kein Geld, und zu allem Überfluss war er HIV -infiziert. Die Mutter der norwegischen Rucksacktouristin hatte Mitleid mit ihm und versuchte, ihm zu Wohnung und Arbeit zu verhelfen. Das funktionierte so halbwegs. Er wurde rückfällig, aber als er durch Zufall im Netz auf Victorias Namen stieß, passierte etwas. Von diesem Tag an riss er sich zusammen. Er hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, dass Victoria tot war.

Und dass sie einen kleinen Jungen hinterlassen hatte.

Die Gleichung war leicht zu lösen. Er war sicher, dass der Junge sein Sohn war. Aus Gründen, die niemand so ganz begriff, hatte Endre sich damals Victorias Namen eingeprägt. Nach einem klinischen Tauschhandel in einer Mainacht des Jahres 2010  stand er deshalb acht Jahre später bei Ewa Connert und ihrer Familie vor der Tür und verlangte das, was rechtmäßig ihm gehörte.

»Wir hätten dieses Interview niemals geben dürfen«, hatte Ewa wieder und wieder gesagt, als sie an diesem Punkt der Geschichte angekommen war. »Niemals.«

Gunnar und sie waren in dem Sommer, in dem Endre nach Hause gekommen war, in einer Artikelserie der Zeitschrift Wir über sechzig vorgestellt worden. Es ging dabei um ungewöhnliche Familienkonstellationen, und was moderne Großeltern für ihre Enkelkinder bedeuten können.

Endre Cappelen gehörte nicht gerade zur angepeilten Leserschaft dieser Zeitschrift, aber er konnte immerhin googeln. Connert war ein ungewöhnlicher Nachname, und es war kein Problem gewesen, den Artikel zu finden. Mit einem Bild von David, lachend auf dem Rasen, wo er mit seinem alternden Adoptivvater Crockett spielte.

Anfangs waren Ewa und Gunnar ganz gelassen geblieben.

Natürlich würde ein junger Mann mit schweren Problemen, ohne Netzwerk und kaum einer Wohnung nicht die Verantwortung für einen Sohn übernehmen dürfen, der ihm noch nie begegnet war. Ewa wies ihn an Ort und Stelle ab und riet ihm, sich ans Jugendamt zu wenden.

Und dann kam Bewegung in die Sache.

Dieser Vorschlag schien Endre nämlich neue Kraft zu geben. Als durch einen DNA -Test die Vaterschaft endlich nachgewiesen war, hatten Ewa und Gunnar die ersten Befürchtungen. Vor allem Gunnar, der nachts nicht mehr gut schlafen konnte. Ewa versuchte noch immer, ruhig Blut zu bewahren, sie hatte schließlich früher selbst für Jugendämter gearbeitet.

Das Kindeswohl stand im Zentrum der norwegischen Jugendschutzgesetzgebung.

David aus einem geborgenen Dasein bei Angehörigen zu reißen, die er liebte und die er sein Leben lang kannte, wäre nicht zu seinem Besten. Das wusste Ewa Connert, und sie versuchte wirklich, sich damit zu beruhigen.

Was aber nicht möglich war.

Endre Cappelen gab sich nämlich nicht geschlagen. Er fand Arbeit bei der Osloer Müllabfuhr, gab alle Drogen auf, mietete eine Zweizimmerwohnung in Romsås und meldete sich zu einem Abendkurs an, um das Abitur nachzuholen.

Das Jugendamt, das bisher Ewas und Gunnars zuverlässiger und dankbarer Helfer gewesen war, teilte nun mit, dass das Adoptionsverfahren doch nicht so einfach werden würde, wie alle bisher erwartet hatten. Endre war bei einer juristischen Beratungsstelle gewesen und von dort an einen Spezialisten für Familienrecht verwiesen worden, der die Angestellten der Osloer Jugendämter immer wieder zur Verzweiflung trieb.

Noch immer hatten das Jugendamt und Davids Großeltern Trümpfe in der Hand. Endre Cappelen war ganz ohne Familie oder andere Netzwerke. Seine Mutter war tot. Seinen Vater hatte er nicht mehr gesehen, seit er, wie er behauptete, mit siebzehn Jahren vor die Tür gesetzt worden war. Er weigerte sich, seinen Vater in diese Sache hineinzuziehen. Das hier wollte er allein schaffen.

Der Anwalt war von der hitzigen Sorte und tat zwei Dinge gleichzeitig. Er verklagte das Jugendamt und beantragte zugleich das Sorgerecht und die elterliche Verantwortung für David beim zuständigen Bezirksausschuss.

Kinder sollen im Prinzip schließlich bei ihren biologischen Eltern aufwachsen.

»So lautet das Gesetz«, flüsterte Ewa an das leere Rotweinglas gerichtet. »Wir hatten solche Angst, unseren Jungen zu verlieren.«

Selma goss ihr den letzten Rest Wein ins Glas.

»Der Fall wäre geklärt worden«, sagte sie ruhig. »Sie hätten David behalten dürfen, aber es wäre eine Belastung gewesen, dass es für Endre irgendeine Art Besuchsregelung gegeben hätte. Mir ist klar, dass das eine Herausforderung gewesen wäre, aber doch keine Katastrophe. Oder?«

Nun ließ Ewa das Glas stehen.

»Vermutlich wäre es so gekommen. Ganz anders, als wir uns das vorgestellt hatten, aber natürlich hätten wir damit leben können. Das Problem ist, dass man so unsicher wird.«

Sie verstummte. Ihr Blick ging in die Ferne, und sie spielte lange an ihrem Trauring herum, ehe sie sich wieder konzentrierte.

»Der norwegische Jugendschutz hat sehr viel Gutes. Aber Gott weiß, es liegt auch etliches im Argen. Das haben wir ja auch gerade erst erfahren müssen, durch die Vorwürfe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.«

Selma kniff die Augen zusammen.

»Sie haben ein Menschenalter lang in diesem System gearbeitet und meinen trotzdem, dass es nicht gut genug ist?«

»Es kann niemals gut genug werden. Aber wir müssen uns das Ziel setzen, immer am Ball zu bleiben. Vieles sollte geändert werden, nicht zuletzt müssen wir mehr können. Mehr wissen. Besser sein, ganz einfach, wenn es um echten Kinderschutz geht.«

Ein müdes Lächeln hob ihre Mundwinkel, als sie nun wieder Selmas Blick erwiderte.

»Der norwegische Kinder- und Jugendschutz baut weitgehend auf Realismus auf. Was durchaus sein Gutes hat, aber das darf niemals in Zynismus umkippen. Was uns der Europäische Gerichtshof erzählt, ist, dass wir auch auf Hoffnung aufbauen müssen. Dass der Wert des Familienlebens an sich so groß ist, dass wir niemals davon absehen dürfen, dass Menschen sich zum Besseren verändern können. Ich bin in vielerlei Hinsicht froh, dass ich aus dem Ganzen raus bin. Große Veränderungen müssen kommen, und ich werde alt. Ich kenne das System, aber es ändert sich nun. Was mich betrifft, und auch, was David angeht, hat mir das viel größere Angst gemacht, als eigentlich begründet gewesen wäre. Es ist so seltsam …« Sie schluckte und sah sich um. »Ich habe nicht mehr darüber gesprochen, seit alles sich geklärt hat«, sagte sie endlich. »Nicht mit Gunnar. Nicht mit Freunden. Und schon gar nicht mit David. Den haben wir beschützt, so gut wir konnten.«

»Aber Sie sprechen mit mir«, sagte Selma.

»Ja. Ich verstehe wirklich nicht, wieso.«

»Ich bin eine Fremde. Aber trotzdem eine, die Sie in gewisser Weise kennen. Ich habe manchmal diese Wirkung auf andere.«

Ewa zog ein Taschentuch hervor, leckte sich die Lippen mit einer dünnen hellroten Zunge und rieb vorsichtig darüber. Das half ein wenig.

»Wir haben unseren Anwalt gebeten, alles zu tun, was überhaupt in seiner Macht stand. Streng genommen war er aber gar nicht unser Anwalt. Sondern der des Jugendamtes. Als Pflegeeltern hat man kaum Rechte, das war ja auch einer der Gründe, warum wir David adoptieren wollten.«

Sie schnaubte kurz, als ob sie versuchte, wütend zu werden, aber nicht richtig die Kraft dazu aufbringen könnte.

Selma hatte die Pepsi Max ausnahmsweise in ein Glas mit Eiswürfeln gegossen. Die waren geschmolzen, und die hellbraune Flüssigkeit schmeckte inzwischen nach fast gar nichts mehr. Dennoch trank sie; es war wichtig, Ewa natürliche Pausen zu gestatten, die sie offenbar brauchte, um weiterzukommen.

»Endre wurde total auseinandergenommen«, flüsterte Ewa, »vor dem Bezirksausschuss, als der Fall behandelt wurde. Im Mai. Gunnar und ich saßen in einem Café in der Nähe. Wir durften nicht einmal anwesend sein. Aber wir wurden in jeder Pause von unserem Sachbearbeiter auf den neuesten Stand gebracht. Der Anwalt des Jugendamtes hat Endre schon am ersten Tag umgebracht. Hat allen Schmutz ausgekippt, der überhaupt vorhanden war. Endres Anwalt versuchte es mit Abwehr und Gegenangriffen, aber er hatte nur sehr wenig Munition. Als sie nach der Mittagspause zurückkamen, hatte Endre irgendetwas genommen. Das konnten offenbar alle sehen. Der Richter verkürzte die Verhandlung und bat die Beteiligten, für den nächsten Tag zum Ausgleich mehr Zeit einzuplanen. Er nahm Endre beiseite, als die anderen gingen. Ich nehme an, er wollte ihn energisch verwarnen.«

»Ach ja? Und was passierte dann?«

»Endre Cappelen kam am nächsten Morgen vierzig Minuten zu spät und war dermaßen high, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Sogar sein eigener Anwalt war außer sich vor Wut. Der Fall wurde bis nach dem Sommer vertagt. Doch ehe es so weit war, war Endre Cappelen tot.«

Sie griff nach dem Wasserglas, trank aber nicht.

»Das ist so eine Belastung«, flüsterte sie. »Wir haben ihn in den Tod getrieben. So, wie der Anwalt des Jugendamtes ihn in die Mangel genommen hat, hatte er keine Chance.«

»Aber stimmte das alles? Was über Endre gesagt wurde?«

Nun schaute Ewa auf.

»Ob das stimmte? Ich gehe doch davon aus, dass der Anwalt nicht gelogen hat. Der Junge war ein Wrack. Ich habe alle Unterlagen lesen dürfen, und die sehen wirklich nicht gut aus. Es ist einfach unvorstellbar, dass Endre Cappelen sich um ein Kind hätte kümmern können. Das waren Träumereien. Er hatte die Fantasie, dass er und Victoria verliebt gewesen waren. Dass sie David gemeinsam gewollt hatten. Dass sie eine Familie werden wollten, diese drei, und dass sie ein wunderbares, schönes Wochenende gehabt hatten, an dem all diese Pläne geschmiedet wurden. Luftschlösser! Allesamt! Lügen!«

»Vielleicht keine Lügen«, sagte Selma, viel ruhiger, als sie sich fühlte. »Es ist möglich, dass er seine Geschichte selbst geglaubt hat. Dass nur eine solche Erzählung es für ihn möglich machte, mit allem zu leben.«

Ewa starrte sie skeptisch an.

»Eine solche falsche Erinnerung wie die, über die ich gelesen habe?«, fragte sie mit drei deutlichen Runzeln über der Nasenwurzel.

»Vielleicht. Oder eine andere Art von Verdrängung einer Geschichte, die die Seele nicht hinnehmen will. Wir schmücken doch alle unser Leben aus, oder nicht?«

»Sicher, aber es muss schließlich Grenzen geben. Und selbst wenn er sich im Winter zusammengerissen hatte, fiel er doch nach einem halben Tag vor dem Bezirksausschuss wie ein Kartenhaus in sich zusammen.«

Endlich trank sie ihr Wasser, leerte das ganze Glas. Abermals hielt sie sich behutsam das Taschentuch an den Mund und sah auf.

»Es stimmt übrigens nicht ganz, dass ich nach Endres Tod mit niemandem über das alles gesprochen habe«, sagte sie.

»Ach ja?« Selma merkte, dass sich ihre Aufmerksamkeit unwillkürlich steigerte, obwohl ihr nicht ganz klar war, weshalb.

»Endres Vater hat mich aufgesucht. Während ich einen Spaziergang machte. Allein. Keine Ahnung, woher er wusste, dass ich oft diese Strecke gehe, und ich habe mich ein bisschen erschreckt.«

»Äh … Endres Vater?«

»Ja. Er heißt Birger Nilsen. Birger irgendwas Nilsen. Den Namen Cappelen hatte Endre von seiner Mutter. Die ist, wie gesagt, längst tot.«

»Was wollte er?«

Ewa Connert betrachtete ihr leeres Wasserglas. Selma sprang auf.

»Mineralwasser?«

»Nein, danke. Leitungswasser reicht.«

Selma füllte eine Karaffe mit Eis und Wasser. Während das Wasser lief, bemerkte sie, dass ihre Hände ein wenig zitterten. Was sie während der letzten vierundzwanzig Stunden erfahren hatte, war dermaßen schockierend und beängstigend, dass ihr nicht viel anderes übrig blieb, als mit dem Strom zu schwimmen. So viel wie möglich aufzunehmen, um dann in Ruhe zu entscheiden, was sie mit all diesen Informationen anfangen wollte.

Sie füllte Ewas Glas und setzte sich wieder.

»Fescher Bursche«, sagte die ältere Frau. »Gepflegt. Nicht so groß wie der Sohn, aber man konnte die Familienähnlichkeit gut sehen. Was bei David übrigens nicht der Fall ist.«

Selma glaubte ein gemurmeltes »Gott sei Dank« zu hören, war sich aber nicht sicher.

»Was wollte er?«

»Gute Frage …«

Ewa starrte ins Leere. Sie kniff die Augen zusammen.

»Man könnte ja glauben, er wäre wütend gewesen. Das war er nicht. Er war wohl ziemlich aufgebracht, aber er wirkte doch wie ein Mann, der sich beherrschen kann. Vor allem wollte er wissen, ob ich über Endres Tod informiert sei. Das konnte ich bestätigen. Dann sagte er, er wolle gern seinen Enkel treffen. Da bekam ich es mit der Angst zu tun.«

Ihr Blick war endlich wieder konzentriert und blieb an Selmas haften.

»Sollten wir das alles nun noch einmal durchmachen müssen? Ich meine, dieser Nilsen hätte doch absolut keinen Anspruch auf das Sorgerecht für David gehabt, aber sollten wir noch einen Kampf ausfechten müssen, um einen weiteren unbefugten Menschen aus Davids Leben herauszuhalten? Was doch Victorias glasklarer Wunsch gewesen war?«

»Sie haben also Nein gesagt?«

»Das habe ich nicht gewagt. Ich habe gesagt, er müsse sich ans Jugendamt wenden. So sei das System, sagte ich. Es gebe Vorschriften für diese Vorgänge. Das Parlament erlasse Gesetze, die Regierung setze diese in die Tat um. Wenn er sich ungerecht behandelt fühle, müsse er uns vor Gericht zerren. So ist die Dreiteilung der Macht, so ist die Demokratie. Gesetz und Ordnung. So funktioniert das hierzulande.«

Selma verspürte ein heftiges Bedürfnis danach, die Balkontür zu öffnen. Es war jetzt viel zu warm in der Wohnung, als ob jemand sämtliche Heizkörper im ganzen Block hochgedreht hätte.

»Ich wollte gehen«, sagte nun Ewa, »aber er kam hinter mir her. Schließlich war ich so irritiert, dass ich ihm die Tatsache vorhielt, dass Endre doch absolut keinen Kontakt zu seinem Vater gewollt hatte. Da wurde er kleinlaut. Wenn er eine Frau gewesen wäre, hätte er geweint.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er wurde ganz schrecklich verzweifelt. Aber mit Haltung und überhaupt nicht beängstigend für mich, eine betagte Frau von zweiundfünfzig Kilo, die von einem offenbar stark und zutiefst bewegten Mann in einem Waldgelände, weit weg von anderen Menschen, angehalten wird. Er wich sozusagen vor mir zurück, um klarzustellen, dass er nicht gefährlich war. Aber sein Mund zitterte.«

»Hat er noch mehr gesagt?«

»Jaaaa …«

Sie kniff noch einmal die Augen zusammen, als ob sie versuchte, diese Szene aus dem Sommer vor sich zu sehen.

»Er sagte, er habe nach dem Tod seiner Frau einige entsetzliche Fehler gemacht. Damals war Endre erst vierzehn, sagte er, aber das hatte ich ja schon gewusst. Aus den Fallunterlagen. Die ich natürlich nicht hätte lesen dürfen, aber lassen wir das. Er sagte, er sei ein elender Vater gewesen, der in seiner eigenen Trauer ertrank, und er habe den Jungen gar nicht mehr im Griff gehabt. Aber dass Endre nach dem ersten Selbstmordversuch Kontakt zu ihm aufgenommen habe.«

Selmas Hände waren jetzt schweißnass, und sie legte sie um das Pepsi-Glas. Die letzten Eiswürfel klirrten leise.

»Dem ersten?«, fragte sie so gelassen sie konnte.

»Ja. Das war elf Tage nach der katastrophalen Verhandlung vor dem Bezirksausschuss. Er hatte versucht, sich zu erschießen. Ich kenne keine Details. Jedenfalls ist es ihm nicht gelungen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Ullevål wurde er in irgendeine psychiatrische Klinik verlegt.«

»Aber Sie haben gesagt, ›nach dem ersten‹.«

»Ja.«

Ewa Connert schüttelte sich und fuhr sich mit der schmalen Hand durch die Haare. Sie hatte sich verändert. Ihre Haut war nicht mehr trocken und scheinbar seidenweich; in den tiefer gewordenen Furchen sammelte sich Schweiß. Ihr Mund war angespannt, und ihre Schultern wirkten womöglich noch schmaler als zuvor.

Sie holte tief Luft.

»Endre Cappelen hat drei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen, ehe es ihm beim dritten Versuch dann gelungen ist«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Und ich kann nichts daran ändern, dass er mir entsetzlich leidtut. Und auch sein Vater, der es offenbar schwer hatte. Danach ging er einfach weg, in die entgegengesetzte Richtung.«

»Aber …«

Selma konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie sprang auf, ging zur Balkontür und öffnete sie.

»Danke«, sagte die andere. »Hier ist es wirklich warm. Er hat Straßburg erwähnt.«

»Wer? Endre?«

»Nein. Birger Nilsen.«

Sie griff sich an die Schläfe, als müsse sie sich plötzlich konzentrieren.

»Birger Jarl, so war das. Birger Jarl Nilsen. Er hat gesagt, sein Sohn habe mit seinem Fall nach Straßburg gehen wollen. Zum Europäischen Gerichtshof.«

Wieder dieses leise Schnauben.

»Straßburg!«, wiederholte sie laut. »Ein junger Mann, der nicht einmal bei einem schnöden Termin vor dem Bezirksausschuss nüchtern bleiben kann! Sein Vater hatte diesen Unsinn offenbar geglaubt. Das mit der Liebe und den Verheißungen einer gemeinsamen Zukunft für Endre und Victoria. Sie war siebzehn Jahre älter als er und hatte nur wenige Stunden mit ihm verbracht. Betrunken! Außerdem war sie schwer krank.«

Ihre Ohrringe klirrten.

»Dürfte ich übrigens die Toilette benutzen?«

»Ja, natürlich.«

Selma versuchte verwirrt, sich zu erinnern, ob es dort einigermaßen akzeptabel aussah, dann zeigte sie zur Diele hinüber.

»Die Gästetoilette ist genau gegenüber der Wohnungstür«, sagte sie.

Ewa nahm ihre Handtasche und erhob sich, ihre Bewegungen waren nicht ganz so geschmeidig wie vorhin im Restaurant. Sowie Selma hörte, dass die Toilettentür abgeschlossen wurde, schnappte sie sich ihr Handy, ging hinaus auf den Balkon und rief Fredrik an. Er meldete sich sofort.

»Wir müssen uns treffen«, sagte sie so leise, dass er sie bat, ihre Worte zu wiederholen. »Wir müssen uns treffen! Ich habe jede Menge Neuigkeiten, so viele, dass …«

»Tut mir leid, Selma! Wir kriegen die Sache hier langsam in den Griff. Hab heute null Möglichkeit. Und auch morgen nicht, glaube ich, wir haben …«

»Das ist wichtig! Ich hatte ein Gespräch mit …«

Sie hörte, dass er das Telefon vom Ohr genommen hatte. Seine Stimme klang weit weg, als er einige Befehle kläffte. Es waren noch andere Leute da, das konnte sie hören, und sie schaute ängstlich zur Toilettentür hinüber.

»Kann ich dich anrufen?«, fragte Fredrik. »Später. Oder morgen oder so. Wir stehen hier kurz vor dem Durchbruch. Bis dann.«

Das Gespräch wurde abgebrochen. Selma konnte das Handy gerade noch in die Tasche stecken, ehe Ewa Connert von der Toilette zurückkehrte.

Dieser Besuch hatte ihr gutgetan.

Ihre Haut war wieder trocken, und ihre Haare glänzten wie vor drei Stunden im Restaurant. Auch das Lächeln war wieder da, und der letzte Rest Rotweinfarbe war bedeckt von einer kleidsamen Schicht diskreten und gedämpften Lippenstifts.

»Ich muss wohl gehen«, sagte sie, ohne sich zu setzen. »Danke, dass Sie mir zugehört haben. Seltsam ist es ja …«

Das Engelhafte war wieder da. Sie lächelte mit den Augen und bedankte sich ein weiteres Mal.

»Das hier war fast wie eine Stunde beim Psychologen«, sagte sie. »Mir ist schon leichter zumute. Es tut gut, mit Ihnen zusammen zu sein. Sie sind ein Mensch, der Vertrauen einflößt. Nichts von dem, was ich erzählt habe, kann Ihnen wohl bei Ihrer … Untersuchung helfen, aber das war mir schon von Anfang an klar. Ich hatte nur ein solches Bedürfnis danach …« Sie verstummte mit einem Lächeln. »Wie dem auch sei: Danke.«

»Keine Ursache«, sagte Selma und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe zu danken. Aber wenn Sie mir nur noch eine Frage beantworten könnten …«

»Ja?«

Die Augen waren jetzt wieder frühlingsgrün.

»Sie haben gesagt, Endre habe drei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen, ehe es ihm dann gelungen ist.«

»Ja. Das hat sein Vater mir erzählt.«

»Wissen Sie, wie er es versucht hat?«

»Ja.«

Ewa Connert strich ihre Haare noch glatter. Ein Diamantring glitzerte im Schein der Deckenlampe.

»Zuerst hat er versucht, sich zu erschießen, wie ich gesagt habe. Irgendwas stimmte wohl nicht mit der Waffe, oder so. Sein Vater hat sich da nicht klar ausgedrückt. Danach wollte er sich erhängen, aber auch das hat nicht geklappt. Die Pfleger in der Klinik kamen dazu und konnten ihn rechtzeitig herunterschneiden. Am Ende, nachdem sie ihn aus der Klinik hatten entlassen müssen – es gab keine juristische Grundlage dafür, ihn noch länger gegen seinen Willen dortzubehalten –, hat er eine Überdosis Heroin genommen.«

»Und ist gestorben«, sagte Selma fast tonlos. »Nachdem er sich erschossen und erhängt hatte, um sich schließlich zu vergiften.«