»Du kannst nicht bleiben«, sagte Selma Falck.
Sie hörte selbst, wie schroff das klang, aber sie war zu erschöpft, um freundlich zu sein. Nachdem sie anderthalb Stunden geschwommen war, hatte sie bei Vanja und Kristina vorbeigeschaut. Nicht weil sie das Bedürfnis gehabt hätte, die beiden zu treffen, sondern um nicht nach Hause zu müssen. Ihre Freundinnen waren sichtlich irritiert gewesen, weil sie immer wieder ihr Handy hervorgeholt hatte, und nach zwei Stunden war Selma aufgebrochen und hatte dann Einar besucht. Der wollte Karten spielen, Casino. Für ihn spielte es überhaupt keine Rolle, dass Selma unkonzentriert war und wirklich jede Runde verlor. Im Gegenteil, er war von jedem Sieg aufs Neue begeistert.
Als endlich eine SMS kam, war die von Lars.
Er erinnerte sie an ihre Verabredung, nach der er gegen neun Uhr Ordner und Speicherstick abholen würde. Es war erst halb sieben, als diese Nachricht eintraf, und sie hatte ihn gebeten, schon in einer halben Stunde zu kommen.
Sie wollte es lieber gleich hinter sich bringen. Sie konnte sein Gequengel nicht ertragen, und sie hatte sich schon einen Vorwand ausgedacht, um ihn schnell wieder loszuwerden.
Lars wartete schon vor der Tür, als sie nach Hause kam.
Seine Körpersprache war unruhig, fast aggressiv. Er hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, seine Arme waren steif. Dadurch wurden seine Schultern angehoben, wie bei einem trotzigen Bengel.
»Du kannst nicht bleiben«, sagte Selma noch einmal, als er nicht reagierte.
»Warum nicht?«, fragte er mürrisch.
»Ich habe Pläne«, erwiderte Selma und schloss auf.
Seltsamerweise mochte sie ihm jetzt keine Lügengeschichte erzählen.
»Von mir aus«, sagte er sauer. »Aber ich will meine Sachen haben. Hast du den Speicherstick öffnen können?«
»Nein. Dieses Dings ist streng genommen nicht mein Problem, Lars.«
Sie stiegen wortlos die vielen Treppen hoch. Als Selma den Schlüssel ins Türschloss stecken wollte, erstarrte sie.
»Was ist los?«, fragte Lars.
Selma machte sich am Schloss zu schaffen. Der Schlüssel ließ sich nicht hineinschieben. Sie drückte ein wenig dagegen und drehte ihn dann um. Dabei bemerkte sie eine ganz neue Trägheit, aber sie konnte hören, wie sich der Schnapper zurückbewegte. Sie zog den Schlüssel wieder heraus und bückte sich, sagte aber kein Wort.
»Was ist los?«, wiederholte Lars ungeduldig.
»Shit« , flüsterte Selma. »Der Stalker war wieder da. Diesmal hat er das Schloss aufgestochert.«
»Was?«
Lars beugte sich vor, um nachzusehen.
»Ich sehe nichts.«
»Du hast ja auch nicht aufgeschlossen«, sagte Selma wütend. »Ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und sieh her …« Sie starrte den Türspalt an, noch immer vornübergebeugt, und zeigte darauf. »Nur das eine Schloss war verriegelt. Ich weiß, dass ich beide abgeschlossen hatte. Er hat sie aufgestochert, hat sich aber nicht die Mühe gemacht, beide wieder zuzustochern.«
Sie legte die Hand auf die Klinke.
»Nicht reingehen«, rief Lars. »Was, wenn er noch immer drinnen ist?«
»Dann hätte er wohl kaum abgeschlossen«, sagte Selma und öffnete die Tür.
»Du musst die Polizei anrufen«, sagte Lars.
»Nein.«
Selma sah die Tüte, sowie sie die Wohnung betrat. Die Rema-1000 -Tüte mit Ordner und Speicherstick. Die hatte seit gestern Morgen auf der Kommode gelegen. Dort hatte sie auch gelegen, als Selma schwimmen gegangen war. Sie konnte sich genau daran erinnern, weil sie für einen Moment mit dem Gedanken gespielt hatte, auch diese Tüte im Kleiderschrank im Schlafzimmer zu verstecken. Sie hatte es aber nicht getan; die Tüte und ihr Inhalt waren für sie uninteressant geworden. Sie schaute zur Decke hoch, von der sie wusste, dass dort die kleinen Geräte des Poker-Türken angebracht waren. Jetzt waren sie verschwunden.
»Dann tu ich das«, fauchte Lars, der noch immer draußen stand.
»Das tust du nicht!«
Er fuhr zusammen und steckte sein Handy wieder in die Tasche. Als Selma weiter in die Wohnung ging, folgte er ihr vorsichtig.
»Ist jemand hier?«, fragte er kleinlaut.
»Nein. Niemand außer uns.«
Selma ging ins Wohnzimmer. Sie schaute sich um. Nichts war angerührt worden, so sah es jedenfalls aus. Mit wachsender Besorgnis ging sie ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und sah nach unten, wo der Karton mit den Trachtenschuhen stand.
Der war auch noch vorhanden, aber der Laptop, das Dokument in der gelben Plastikmappe und Allan Strømmes Speicherstick waren verschwunden.
Selma begriff überhaupt nichts mehr und brach deshalb in Tränen aus.