Sjalg

Selma hatte es satt, auf eine Gnade zu warten, die niemals kam.

Als sie um die Ecke zu der kurzen Sackgasse in Tåsen bog, wo ihre Tochter Anine mit dem fünf Monate alten Sjalg wohnte, beschloss sie, diesmal bei der Wahrheit zu bleiben.

Es war besser so. Anine durchschaute sie immer, und die Medien hatten die Geschehnisse der letzten Tage dermaßen breitgetreten, dass zu lügen ohnehin unmöglich gewesen wäre. Sogar für Selma Falck.

Es knirschte unter ihren Fußsohlen, als sie das schmiedeeiserne Tor öffnete und den Kiesweg betrat. Für einen Moment sah sie Anine hinter dem Fenster im zweiten Stock. Sie hatte Sjalg auf dem Arm. Selma verspürte einen Stoß der freudigen Erwartung, eine heiße Freude bei dem Gedanken, dass alles vorüber war und das Leben wieder sicher. Nils Kristoffersen und seine belastende Geschichte wollte sie vergessen, und das war ihr auch schon fast gelungen.

So war es besser.

Jedenfalls für Selma.

Anine hatte sie gesehen, und die Tür öffnete sich, noch ehe Selma die Steintreppe hochgestiegen war.

»Hallo«, sagte Selma und blieb auf der mittleren Stufe stehen.

»Hallo«, sagte Anine, ohne zu lächeln.

Sjalg starrte seine Großmutter mit ernster Miene an. Selma glaubte, ihr Herz schlagen hören zu können. Sie griff sich an die Brust und sagte: »Es ist vorbei, Anine. Ich bin aus purem Zufall da hineingeraten. Ich musste nur einen Weg finden, um wieder herauszukommen. Irgendwann, wenn du Lust hast, kann ich dir alles erzählen. Aber im Moment …«

Sjalgs Gesicht öffnete sich zu einem strahlenden Lächeln, und er erwiderte ihren Blick. Noch immer hatte er nur zwei Zähne oben im Mund. Noch immer war er seiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten, obwohl er in den vergangenen Wochen größer geworden war. Jungenhafter, irgendwie.

Und noch schöner.

»Im Moment habe ich das dringende Bedürfnis, mit Sjalg zusammen zu sein.«

»Deine Bedürfnisse«, sagte Anine. »Selma Falcks Bedürfnisse. Wie immer.«

Abermals griff Selma sich ans Herz.

»Bitte«, flüsterte sie.

Anine schüttelte den Kopf. Lange. Ob es eine Absage an Selmas Bitte sein sollte oder ob sie einfach resignierte, war wie immer unmöglich zu sagen. Sie nahm Sjalg auf den anderen Arm. Der Kleine beugte sich vor, und seine Mutter musste ihn um den Bauch fassen, damit er nicht hinunterfiel, als er die Arme nach Selma ausstreckte.

»Er erkennt mich«, sagte Selma.

»Er hat dich seit drei Wochen nicht mehr gesehen, Mama. So weit können Kinder sich nicht erinnern. Aber …«

Ein kleiner Luftzug aus der Wohnung brachte den Duft des Jungen mit. Der war ganz eigen, ganz anders als der von Selmas eigenen Kindern damals. Er sah sie jetzt an, mit einem Ernst, der Selma davon überzeugte, dass er jedenfalls begriff, wie wichtig sie war. Wie nah sie ihm immer sein würde, egal, auf welche Sperren und Strafen Anine in den kommenden Jahren auch verfallen mochte.

Vorsichtig streckte sie ihm die Hand hin. Er griff zu.

Abermals dieses Lächeln, es war, wie Fotos von sich selbst als Baby zu sehen.

Sie schaute auf. Anine sah ihr ins Gesicht. Ihre Miene war unergründlich. Sjalg zog an Selmas Hand und ließ ein zufriedenes Gurgeln hören.

»Okay«, sagte Anine endlich und gab das Baby her. »Dann komm rein. Unter der Bedingung, dass du nie, nie, nie wieder auf dich schießen lässt. Oder dir hinterher. Oder dich überhaupt niemals wieder jemandem mit einer Schusswaffe näherst.«

»Ich verspreche, das nicht zu tun«, murmelte Selma mit dem Mund an dem seidenweichen Kinderkopf. »Tausend, tausend Dank.«

Sie gingen ins Haus. Anine ging die Treppe hoch, Selma folgte ihr, das Kind fest an sich gedrückt. Ein herbstlicher Windstoß schlug die Tür hinter ihnen zu, und eigentlich war alles gut.