Lieber Papa,
sie hat mir gehört, sowie ich sie gesehen hatte. Und ich ihr, auch wenn es noch Stunden dauern sollte, bis sie mich sah und das begriff.
Es war eine der Nächte im Frühling, in denen alles gut ist.
So verdammt gut, Papa.
Victoria stand da, ein bisschen verlegen, sie hatte einen zu viel getrunken, und sie hatte ihre Freunde aus den Augen verloren. Ich hatte sie schon den ganzen Abend aus der Ferne beobachtet. Du weißt ja, wie ich damals war, Papa. Eine Enttäuschung. Für dich und mich und sicher auch für Mama, wenn sie noch gelebt hätte. Sieben Jahre hatte ich gebraucht, um ins Chaos zu geraten. Sieben Jahre lang hatte ich Mama vermisst und war vor dir weggelaufen und hatte geglaubt, dass ich niemals erwachsen werden würde. An diesem Abend kam die große Wende. Wenn du mich nur hättest sehen können. Uns sehen können. Und wenn Mama immer noch da gewesen wäre.
Sie hatten Ähnlichkeit miteinander. Mama und Victoria. Die gleichen rotblonden Haare, der helle Blick. Victoria hatte hohe Absätze, wartete auf ein Taxi und war traurig. Ich hatte das schon früher an dem Abend gesehen, als sie in Frogner Flieder gepflückt und sich eine Knospe hinters Ohr gesteckt hatte. Der Flieder hat in dem Jahr so früh geblüht. Die Büsche dufteten in der ganzen Stadt um die Wette, als wir losgingen, sie vorweg, ich hinterher. Ich folgte ihr, ich sah sie, als sie die anderen traf, die Mädchen, die sie dann im Stich ließen, und den Mann, der sie nicht wollte.
Victoria war der Frühling, den ich gesucht hatte.
Ein Glas zu viel hatte sie getrunken. Das war alles. Sie weinte ein bisschen vor sich hin und wollte nach Hause. Als eine Ratte aus dem Gebüsch gerannt kam und sie fast zu Tode erschreckte, musste ich mich bemerkbar machen. Sie fiel mir sozusagen in die Arme, Papa, in jeder Hinsicht. Sie packte mich und drückte sich an mich und hatte Angst und war angetrunken und so reizend, wie ich noch nie ein Mädchen erlebt hatte. Ich war nicht mehr dieser Homo. Ich war Victorias Mann. Mein Herz barst. Es zersprang da und dort in Sternenhimmelstücke, ich war verliebt und wusste, dass das von Dauer sein würde. Sie war zu gut für mich, zu sehr Mama und zu sehr alles, vor dem ich schon mit vierzehn weggelaufen war. Aber sie gehörte mir. Das schwöre ich dir, Papa. Victoria und ich gehörten wirklich einander.
Wir gingen den ganzen Weg nach Manglerud.
Ihr ganzes Leben wurde mir geschenkt. Sie wurde unterwegs nüchtern, und wir sprachen uns gegenseitig in unser Leben hinein. Ich hatte in Einsamkeit früher an dem Abend einen Joint geraucht, und als die Wirkung verflog, wurden Leben und Luft um mich herum schärfer. Wir gingen durch die Stadt und durch die Straßen, die verschlungenen Wege hoch nach Ekebergåsen.
In dieser Nacht ist David entstanden, Papa.
All unsere Träume wurden in einer Nacht im Mai erschaffen.
Ihre Wohnung war groß genug für uns beide. Für uns alle drei, wenn es dann so weit wäre. Wir waren zwei Tage dort und standen nur auf, um Wasser und Essen zu holen, das Victoria an die Tür liefern ließ. Wir hatten Pläne. Wir hatten ein Leben. Vor allem hatten wir den Traum von David.
Am zweiten Tag wurde Victoria krank.
Zuerst erbrach sie sich nur, und wir lachten und meinten, das sei ein verspäteter Kater. Wir hatten seit Freitagabend keinen Alkohol mehr angerührt. Und am Sonntagnachmittag schliefen wir ein, wie uns das manchmal passierte, obwohl wir die Zeit, die wir zusammen hatten, doch nicht verschwenden wollten. Als ich aufwachte, war sie im Badezimmer. Sogar dort, nackt auf den Knien vor der Kloschüssel, war sie wunderbar. Meine Hände passten perfekt in die leichte Mulde über ihrem Po, als ich in die Hocke ging und ihr half. Ich hielt ihre Haare nach hinten und streichelte ihren Rücken, sie erbrach sich, bis nichts mehr kam. Victoria war bleich, und ihr war ein bisschen schwindlig, aber sie lächelte, als ich ihr vorsichtig beim Aufstehen half und sie ins Bett brachte.
Dicht, dicht aneinander lagen wir da, solange es möglich war, einander noch näher zu kommen.
Sie war wirklich krank. Ein Krankenwagen kam. Eine Mutter kam. Eine miese Kuh. Die Wohnung gehörte nicht mir, und ich musste gehen. Victoria ging es sehr schlecht, etwas Gefährliches, das in der Frühlingsnacht vergessen worden war, als wir durch Oslo wanderten und verliebt waren.
David wurde neun Monate später geboren.
Ich habe dir das schon einmal erzählt, Papa. Wenn ich nicht mehr bei dir bin, sollst du das nicht vergessen. Es war so wichtig für mich, dass du alles verstehst. Dass du weißt, dass Victoria die Eine war, die Einzige, und alles, was ich falsch gemacht habe, vorher und nachher, kann mir nicht nehmen, dass ich ein wirkliches Leben gelebt habe. Nur zwei Tage lang, das war alles, was ich nach Mamas Tod bekommen habe, aber für mich war es genug. Wir haben David erschaffen, er gehört Victoria und mir, und als Victoria starb, gehörte er uns. Mir und dir, Papa. Wir hätten ihn haben sollen, und ich habe so gekämpft, um alle Träume und Hoffnungen zu erfüllen, die an dem Wochenende bei Victoria geboren wurden. Sie haben über mich gelogen. Sie haben kleine Fehler aufgeblasen und Dinge behauptet, die ich nie im Leben getan hätte. Sogar mein Anwalt war gegen mich. Das Schlimmste bei allem ist aber, dass sie mir mein Leben weggenommen haben. Unsere Tage, Victorias und meine. Sie haben eine Monstererzählung über Zufälle und Gemeinheit erfunden, als ob David auf andere Weise entstanden sein könnte als eben aus Liebe.
Die Lügen haben mir das Leben genommen. Egal, wie sehr ich auch kämpfe, es hat ja doch keinen Zweck. Ich habe es nicht geschafft, mich zu erschießen. Oder mich zu erhängen. Wenn du mich findest, habe ich den sichersten Ausweg gewählt, dieses Gift in einer Dosis, die niemand überlebt.
Danke, Papa, für diese drei Wochen. Und dafür, dass wenigstens du meine Geschichte glaubst. Du bist der Einzige.
Dein Sohn Endre