DREI


Keller wurde vom leisen Klingeln eines Telefons in der Wohnung nebenan wach. Komisch, dachte er, weil er normalerweise nichts von nebenan hörte. Er wohnte in einem Vorkriegsbau mit dicken, massiven Wänden und …

Er setzte sich auf, schüttelte den Überwurf aus Schlaf ab und merkte, dass er nicht in seiner Wohnung war und das ganz leise klingelnde Telefon auf dem Nachttisch lag und bei jedem Läuten rot blinkte. Wofür, fragte er sich, sollte das gut sein? Damit auch taube Gäste merkten, dass das Telefon läutete? Aber was nützte ihnen das? Was würden sie dann tun, abnehmen und in die Sprechmuschel winken?

Er nahm ab und hörte absolut nichts. »Hallo«, sagte er, »ist da jemand?« Dann merkte er, dass er kleine Klopapierkügelchen in den Ohren hatte. »Oh, Augenblick bitte.« Er legte den Hörer neben die Pistole und puhlte die Papierkügelchen aus seinen Ohren. Sie waren inzwischen getrocknet und so fest wie Pappmaschee. Entsprechend brauchte er eine Weile, um sie herauszubekommen. Er vermutete, dass der Anrufer inzwischen aufgelegt hatte, aber er war noch dran.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte eine Frauenstimme, »aber wir haben Sie für einen Zimmerwechsel vorgemerkt. Im ersten Stock. Das Zimmermädchen hat Ihr neues Zimmer gerade fertig gemacht, und deshalb dachte ich, Sie wollen sich vielleicht den Schlüssel holen und Ihr Gepäck dorthin bringen.«

Er schaute auf die Uhr und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es schon nach zehn war. Wegen des Lärms hatte er lange wach gelegen und dann wegen der dem Toilettenpapier geschuldeten Stille lange geschlafen. Er duschte und rasierte sich, und bis er gepackt hatte und in Zimmer 210 umgezogen war, war es elf Uhr.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sich das neue Zimmer nicht von dem unterscheiden, das er gerade geräumt hatte. Das gleiche Doppelbett, der gleiche Schreibtisch und die gleiche Kommode, an den gleichen Betonsteinwänden die gleichen zwei Drucke – ein in einem Fluss stehender Angler und ein Schafe hütender Junge. Im Gegensatz zu seinem alten Zimmer lag es im ersten Stock und nach vorne raus.

Vor Jahren hatte ihm einmal ein Kubaner geraten, sich für den Fall, dass er aus dem Fenster springen musste, immer im Erdgeschoss einzuquartieren. Wie sich herausstellte, hatte den Kubaner jedoch weniger lange Erfahrung dazu veranlasst als akute Höhenangst, weshalb Keller seinen Rat nicht mehr berücksichtigte. Weil alte Gewohnheiten aber nicht so leicht abzulegen sind, entschied er sich meistens fürs Erdgeschoss, wenn er die Wahl hatte.

Bei der Glückssträhne, die er gerade hatte, würde er bestimmt ausgerechnet dieses Mal aus dem Fenster springen müssen.

 
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Nach dem Frühstück fuhr er in die Innenstadt von Louisville und stellte den Wagen mit der im Handschuhfach eingeschlossenen Pistole in einem Parkhaus ab. Im Foyer von Hirschhorns Bürogebäude gab es einen Security-Schreibtisch. Keller sah darin kein großes Problem, verstand aber auch den Sinn der Sache nicht. In Hirschhorns Büro waren bestimmt auch andere Leute, und hinterher müsste er mit dem Lift nach unten fahren und den Wagen im Parkhaus holen. Er verließ das Foyer und ging zwanzig Minuten lang herum, dann holte er seinen Wagen und fuhr über die Brücke nach Indiana. Er fuhr lang genug herum, um die Orientierung zu verlieren und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dann hielt er an einem Supermarkt, um zu tanken und zu telefonieren.

»Dieser Typ, mit dem ich mich treffen soll«, sagte er. »Was wissen wir über ihn?«

»Wir wissen, wie sein Hund heißt«, sagte Dot. »Wie viel mehr muss man über jemand schon wissen?«

»Ich habe nach seinem Büro gesucht«, sagte er, »aber ich habe nicht gewusst, nach welchem Namen ich auf dem Lageplan suchen sollte.«

»Stand denn sein Name nicht drauf?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich habe ihn mir nicht näher angesehen, weil ich nicht wusste, wonach ich suchen sollte. Außer seinem eigenen Namen natürlich. Wenn zum Beispiel der Firmenname auf dem Plan gestanden hätte, hätte ich nicht gewusst, welche Firma es ist.«

»Außer es ist die Hirschhorn Company.«

»Genau.«

»Spielt das denn eine Rolle, Keller?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Sonst hätte ich mir was einfallen lassen, um herauszubekommen, was ich wissen muss. Abgesehen davon habe ich beschlossen, es nicht im Büro zu machen.«

»Warum rufst du dann an, Keller?«

»Ich weiß auch nicht.«

»Nicht, dass ich mich nicht freue, deine Stimme zu hören, aber steckt da mehr dahinter?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich konnte gestern Nacht nicht einschlafen. Über mir haben ein paar Hell’s Angels eine Party gefeiert.«

»Wo bist du denn abgestiegen, Keller?«

»Inzwischen haben sie mir ein anderes Zimmer gegeben. Dot, wissen wir was über den Typ?«

»Wenn ich es weiß, dann auch du. Wo er wohnt, wo er arbeitet …«

»Es ist nur, dass er so normal und spießig rüberkommt. Und trotzdem hat er Feinde, die einem ein Auto mit einer Knarre im Handschuhfach zur Verfügung stellen – und einem Ersatzmagazin.«

»Damit du ihn immer wieder erschießen kannst. Ich weiß es nicht, Keller, und ich bin nicht mal sicher, ob es die Person weiß, die mich angerufen hat, aber wenn ich es mit einem einzigen Wort erklären müsste, würde ich sagen: Glücksspiel.«

»Du meinst, er hat Spielschulden? Und deswegen lässt jemand einen Killer einfliegen?«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Gibt es dort Casinos?«

»Nur eine Pferderennbahn.«

»Klar, Keller. Das Kentucky Derby, di-da-di-da-di-da, aber das ist im Frühling. Die Stadt liegt an einem Fluss, oder? Gibt es dort vielleicht eins von diesen Riverboat-Casinos?«

»Schon möglich. Warum?«

»Na ja, vielleicht sind dort Spielcasinos erlaubt, und er will sie verbieten lassen, oder sie wollen welche aufmachen, und er ist jemand im Weg.«

»Ach so.«

»Oder es ist was völlig anderes, weil sie uns so was normalerweise sagen müssen, ich aber nichts davon weiß.« Sie seufzte. »Und du offensichtlich auch nicht.«

»Du hast völlig recht, Dot. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, woran es liegt. An der Sache ist irgendwas faul.«

»Wie das?«

»Es ging schon los, als ich aus dem Flugzeug gestiegen und auf den falschen Typen zugesteuert bin. Oder kannst du mir das vielleicht erklären? Warum holt mich jemand mit einem unleserlichen Schild am Flughafen ab?«

»Vielleicht haben sie ihm gesagt, er soll einen Legastheniker abholen.«

»Es ist wie mit dem roten Lämpchen am Telefon.«

»Da kann ich dir nicht folgen, Keller. Welches rote Lämpchen am Telefon?«

»Ach, nichts. Weißt du, was ich gerade beschlossen habe? Ich spare mir diesen ganzen Scheiß und ziehe die Sache durch und komme nach Hause.«

»Das hört sich gleich ganz anders an, Keller. Super Idee.«

 
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Die Supermarktangestellte war sicher, dass sie Ohrenstöpsel hatten. »Sie müssen hier irgendwo sein«, sagte sie. Ihre Nase zuckte wie die eines Kaninchens. Eigentlich wollte ihr Keller sagen, sie solle sich die Mühe sparen, aber er spürte, dass sie bereits Feuer gefangen hatte. Und sie fand sie auch. Sterile Schaumstoffohrenstöpsel, zwei Paar pro Päckchen. $ 1.19 plus Mehrwertsteuer.

Wie sollte er ihr, nachdem sie sich so viel Mühe gemacht hatte, sagen, dass er das Zimmer gewechselt hatte und keine mehr brauchte, dass er nur aus Neugier gefragt hatte? Er überlegte, ob er sagen sollte: Oh, die sind aber aus Schaumstoff, eigentlich wollte ich welche aus Titan. Aber dann hätte sie sich auf eine 20-minütige Suche nach Titan-Ohrenstöpseln gemacht und vielleicht sogar welche gefunden.

Er zahlte und sagte, dass er keine Tüte bräuchte. »Nur gut, dass sie steril sind«, sagte er und deutete auf die Abbildung auf der Packung. »Wenn sie sich fortpflanzen würden, kämen sie uns irgendwann aus den Ohren.«

Sie wich seinem Blick aus, als sie ihm das Wechselgeld gab.

 
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Er fuhr nach Kentucky zurück und zum Winding Acres Drive in Norbourne Estates hinaus. Als er an Hirschhorns Haus vorbeikam, war nicht zu erkennen, ob jemand zu Hause war. Er fuhr einmal um den Block und parkte an einer Stelle, von der er das Haus beobachten konnte.

Auf dem Weg dorthin hatte er mehrere Schulbusse auf ihrer Nachmittagsrunde gesehen, und kurz nachdem er geparkt und den Motor abgestellt hatte, hatte offensichtlich einer in der Nähe angehalten, weil auf dem Winding Acres Drive Kinder allein und in Zweier- und Dreiergruppen auftauchten und nach und nach in Seitenstraßen bogen oder in Häusern verschwanden. Zwei Jungen blieben an der Hirschhorn-Einfahrt stehen, und der kleinere von beiden ging in die Garage und kam wenig später mit einem Basketball dribbelnd wieder heraus. Die beiden legten ihre Schultaschen an der Seite der Einfahrt ab, zogen ihre Jacken aus und begannen ein Spiel, bei dem es darauf anzukommen schien, abwechselnd von verschiedenen Stellen der Einfahrt zu werfen. Keller war nicht ganz klar, wie das Spiel ging, aber ihm entging nicht, dass sie nicht besonders gut darin waren.

Aber solange sie dablieben, konnte er nicht in die Garage. Er wusste nicht, ob der Jeep dort stand oder Betsy Hirschhorn im Safeway einkaufen war, aber im Moment war das ohnehin egal. Außerdem konnte er nicht bleiben, wo er war, jedenfalls nicht mehr lang, sonst rief jemand bei der Polizei an, um einen verdächtigen Mann zu melden, der in einer Straße, in der jede Menge Kinder wohnten, in seinem Auto auf der Lauer lag.

Er fuhr weg. Die Wohnsiedlung war von jemandem geplant worden, der eine tiefe Abneigung gegen gerade Linien und rechte Winkel und zugleich eine ausgeprägte Vorliebe für Sackgassen gehabt zu haben schien. Obwohl es schwer war, sich in diesem Labyrinth zu orientieren, fand Keller den Weg nach draußen und genehmigte sich in einem Vorstadtäquivalent zu Starbucks einen Kaffee. Die anderen Gäste waren hauptsächlich Frauen, und alle wirkten ungeheuer aufgedreht. Wenn man eine koffeingeputschte, permanent gereizte Hausfrau abschleppen wollte, war man hier genau richtig.

Er fand den Weg zum Winding Acres Drive zurück, wo die zwei Jungs immer noch Basketball spielten. Allerdings war es jetzt ein anderes Spiel, eine »Weiße Jungs bringen’s nicht«-Version von Korblegern. Er parkte an einer anderen Stelle und entschied, dass er dort zehn Minuten bleiben konnte.

Als die zehn Minuten um waren, beschloss er, fünf Minuten dranzuhängen, und kurz bevor sie abliefen, kam Betsy Hirschhorn nach Hause und scheuchte die Jungs mit der Hupe des Cherokee von der Einfahrt. Das Garagentor ging hoch, die Jungen machten Platz, und sie fuhr hinein. Bevor das Tor wieder zuging, war Keller an der Einfahrt vorbeigefahren. Rechnete man den Motorrasenmäher nicht dazu, war der Jeep das einzige Fahrzeug in der Garage. Walter Hirschhorns Subaru-Kombi war nirgendwo zu sehen.

Keller fuhr weg, kam zurück, fuhr weg, kam zurück und fuhr in Abständen von fünf bis zehn Minuten am Hirschhorn-Haus vorbei. An sich wollte er sich in der Garage auf die Lauer legen, bis Hirschhorn nach Hause kam, aber zuerst mussten die Jungen mit ihrem Spiel aufhören. Herrgott nochmal, wie hielten zwei unsportliche Kids das so lange durch? Warum waren sie nicht im Haus und spielten Computerspiele oder schauten im Internet Pornos? Warum ging Jason nicht mit dem Familienhund Gassi? Warum trollte sich sein Freund nicht nach Hause?

Dann ging die Haustür auf, und Jasons Schwester kam mit Powhatan an der Leine nach draußen. (Tiffany? Nein, so hieß sie nicht. Tamara!) Wie war sie nach Hause gekommen? Im selben Bus wie ihr Bruder? Oder war sie gerade mit ihrer Mutter im Jeep nach Hause gekommen? Aber war das nicht völlig egal?

Trotzdem, da war sie und führte den Hund aus, und die Jungs waren weiter mit ihrem blöden Basketball zugange. Waren Kids heutzutage keine Couch-Potatos? Konnte den beiden niemand klarmachen, dass sie nicht im Trend lagen.

Als er das nächste Mal am Haus vorbeifuhr, waren sie immer noch voll bei der Sache, und langsam begann die Zeit gegen ihn zu arbeiten. Es war kurz nach fünf. Hirschhorn konnte schon Feierabend gemacht haben und jede Minute auftauchen. Angenommen, er kam nach Hause, bevor die Jungen ihr Spiel beendet hatten? Vielleicht war das für sie das Zeichen, damit Schluss zu machen. Wenn Daddy nach Hause kommt, geht Jason zum Abendessen nach drinnen, und sein Freund Zachary nach Hause.

Als Keller diesmal den Wagen startete und aus der Wohnsiedlung fuhr, bog er kein einziges Mal falsch ab. Inzwischen hatte er den Dreh raus und kannte sich so gut aus, als würde er selbst hier wohnen. Er stellte den Wagen in einem Einkaufszentrum vor einem Schuh-Discounter ab und machte sich mit der 22er in der Tasche zu Fuß auf den Weg.

Als er losgefahren war, hatte er die Häuser gezählt, und jetzt ging er um den Block und versuchte abzuschätzen, welches Haus an die Rückseite des Hirschhorn-Grundstücks grenzte. Er engte es auf zwei Häuser ein und entschied sich für das, in dem kein Licht brannte. Dann ging er die Einfahrt hinauf und um die Garage herum und blieb hinter dem Haus stehen, um sich zu orientieren. Das Haus direkt dahinter hatte nur ein Geschoss und eine integrierte Garage. Es konnte also nicht das der Hirschhorns sein, aber ihm war klar, dass es ganz in der Nähe sein musste. Er ging durch die Gärten – hier hatten sie, Gott sei’s gedankt, keine Zäune – und wusste wegen des Basketballgedribbels sofort Bescheid, als er zum richtigen Haus kam.

Zusätzlich zu dem großen Garagentor, das sich per Fernbedienung öffnen ließ, gab es eine Tür, durch die man die Garage betreten konnte. Sie war von der Straße aus nicht zu sehen, aber weil Keller mitbekommen hatte, wie der Junge mit dem Basketball durch sie nach draußen gekommen war, wusste er, dass es sie gab. Sie befand sich, sah er jetzt, ein Stück nach hinten versetzt in der linken Garagenwand. Dank eines überdachten Gangs konnte man sie vom Haus auch bei Regen erreichen, ohne nass zu werden.

Weil es nicht regnete, spielte das im Moment jedoch keine Rolle. Was nicht hieß, dass Keller sich nicht wünschte, es würde regnen, damit die Jungs endlich aufhörten, Basketball zu spielen, und er in die Garage käme.

Er versuchte, möglichst im Schatten zu bleiben, als er sich, an die Garagenwand gedrückt, rasch auf die Tür zubewegte. Dabei kamen die dribbelnden und werfenden Jungen immer wieder kurz in sein Gesichtsfeld, und ihm war sehr deutlich bewusst, dass sie, wenn er sie sehen konnte, umgekehrt auch ihn sehen konnten.

Aber dazu kam es nicht. Er erreichte die Tür und blieb, eine Hand am Türgriff, stehen, bis die Jungen zu einer Stelle dribbelten, an der ihnen die Garage die Sicht auf ihn versperrte. Er wartete, bis sie in heftigen Streit gerieten. Das hatte nie lang gedauert. Sie stritten mindestens so viel wie sie dribbelten und deutlich mehr, als sie sprangen. Bestimmt würden sie bessere Anwälte als NBA-Profis, aber die Streitereien wurden nie so heftig, dass einer ins Haus ging und der andere zum Abendessen nach Hause. Jedenfalls öffnete Keller zu ihrem lauten Hab ich nicht! Hast du wohl! Hab ich nicht! Hast du wohl! die Tür und schlüpfte in die Garage.

Dort war es stockdunkel, als er die Tür wieder schloss, und abgesehen von dem Gedribble und Gezanke totenstill. Bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, stand Keller vollkommen reglos da. Aber es dauerte nicht lang, und er konnte grobe Umrisse erkennen und sich bewegen, ohne gegen etwas zu stoßen. Der Jeep Cherokee stand da, wo Betsy Hirschhorn ihn abgestellt hatte, und der Subaru war zu seiner Zufriedenheit nicht da. Er war fast zwanzig Minuten weg gewesen, als er einen Parkplatz für seinen Wagen gesucht hatte und zu Fuß zurückgekommen war, und es war nicht auszuschließen gewesen, dass Hirschhorn nach Hause gekommen war, während er durch die Nachbargärten geschlichen war. In diesem Fall hätte er die Garage entweder heimlich wieder verlassen und nach Hause fahren oder auf dem Autositz zusammengerollt auf den Morgen warten müssen.

Und wie es gerade aussah, musste er das möglicherweise in jedem Fall tun. Was war, wenn Hirschhorn nach Hause kam und die Jungs immer noch Basketball spielten? Sie würden brav Platz machen, das Garagentor ginge hoch, der Subaru nähme seinen Platz neben dem Cherokee ein, und sein Fahrer stiege aus und ginge nach draußen, um seinen Sohn zu begrüßen. Die Kids blieben, und bevor sie sich nicht schlafen gelegt hatten, konnte Keller nichts tun.

Und wenn er wirklich die ganze Nacht in der Garage verbringen musste? Wenn Hirschhorn am nächsten Morgen ins Auto stieg, hätte er die blöden Jungs dabei, um sie in die Schule zu bringen. Warum konnten die kleinen Hosenscheißer nicht den Bus nehmen? Wenn sie ihn auf dem Heimweg von der Schule nehmen konnten, warum nicht auch auf dem Hinweg?

Nicht, dass das eine Rolle spielte, dachte er finster. Nach einer Nacht in der Garage war er wahrscheinlich so weit, dass er nicht nur den Vater umbrachte, sondern die beiden Jungs gleich mit dazu – und die Frau auch, sollte sie sich blicken lassen. Dann wäre niemand mehr vor ihm sicher, auch nicht der blöde Köter.

Aber jetzt mal ernsthaft, dachte er. Angenommen, die Jungs spielten tatsächlich immer noch Basketball, wenn Hirschhorn nach Hause kam. Im Beisein der Jungen konnte er nichts tun, und schon gar nicht konnte er es wie einen Unfall aussehen lassen. Und in der Garage zu übernachten, hatte er auch keine Lust.

Welche Möglichkeiten hatte er dann noch? Ins Haus einbrechen, wenn alle schliefen? Oder Hirschhorn erledigen, wenn er am Morgen mit dem Hund rausging?

Wahrscheinlich war es das Beste, ins Motel zurückzufahren und einen Plan B zu schmieden. Der möglicherweise nicht besser war als Plan A, aber auch nicht nennenswert schlechter. Und wenn auch der nicht klappte, hatte er noch das ganze restliche Alphabet und …

Plötzlich war kein Dribbeln mehr zu hören.

Und sie hatten auch aufgehört, Körbe zu werfen. Und zu quatschen. Während er morsche Luftschlösser gebaut hatte, hatten die Jungs endlich aufgegeben.

Zurück zu Plan A.

 
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Das Warten war nicht gerade leicht, ob nun mit oder ohne lautliche Untermalung seitens des Basketballs. Zuerst stand er bloß im Dunkeln, aber dann fand er eine Möglichkeit, es sich bequemer zu machen. An einer Wand war ein Pegboard, an dem neben allem möglichem anderem Werkzeug auch eine Taschenlampe hing. Er machte sie rasch an und aus und entdeckte andere Dinge, die er möglicherweise brauchen konnte, darunter ein Paar dünner Baumwollhandschuhe. So würde er keine Fingerabdrücke hinterlassen. Klebeband, Gartenschere, Wasserschlauch – Hirschhorn hatte alles, nicht zuletzt zwei Klappliegestühle mit Alugestell und Nylonbespannung. Einen davon stellte Keller auf und setzte sich hinein.

Er war nervös und langweilte sich. Irgendetwas an dem Job kam ihm eigenartig vor, schon von dem Augenblick an, als er aus dem Flieger gestiegen war. Aber jetzt saß er wenigstens bequem. Das war schon mal etwas.

Ob tagsüber oder abends, im Winding Acres Drive herrschte nicht viel Verkehr. In den seltenen Fällen, in denen ein Auto zu hören war, spitzte er sofort die Ohren. Dann fuhr es vorbei, und seine Ohren taten, was sie in so einem Fall eben taten. Sich entspitzen? Egal.

Hin und wieder schaute er auf die Uhr. Um 19:20 Uhr gelangte er zu der Überzeugung, dass es Hirschhorn nicht zum Abendessen schaffen würde. Um 20:14 Uhr begann er sich zu fragen, ob der gute Mann auf einer Geschäftsreise war. Während er noch über diese Möglichkeit nachdachte, hörte er ein Auto näher kommen. Er hielt den Atem an. Das Auto fuhr weiter, und er ließ ihn wieder entweichen.

Er dachte an die Briefmarken, die er am Tag zuvor gekauft hatte. Wenn er irgendwann wieder nach New York zurückkam, konnte er sich zumindest schon auf die Stunden an seinem Schreibtisch freuen, wenn er sie in seine Alben einordnete. Es hatte etwas seltsam Befriedigendes, die erste Marke auf einer bis dahin leeren Seite anzubringen und dann mitzuerleben, wie sich die freien Stellen im Lauf der Monate füllten. Schaffners Bestand war sehr uneinheitlich gewesen, in manchen Bereichen fast komplett, in anderen äußerst lückenhaft, aber Keller war vor allem an Portugal interessiert gewesen, das hatte er als Erstes sehen wollen, und er wurde nicht enttäuscht. Seltsam, wie man sich zu manchen Ländern hingezogen fühlte und zu anderen nicht. Das hatte nichts mit den Nationen als politischen oder geographischen Einheiten zu tun. Es hatte nur etwas mit ihren Briefmarken zu tun und wie gut sie einem gefielen.

Ein Auto. Er spitzte die Ohren und machte sich darauf gefasst, sie rasch wieder zu entspitzen. Doch nein, es bog in die Einfahrt, und das Garagentor ging hoch.

Bis die Frontscheinwerfer die Garage mit Licht überfluteten, war Keller hinter dem Jeep in Deckung gegangen. Der Subaru fuhr in die Garage. Hirschhorn war allein im Auto. Er stellte den Motor ab und machte die Scheinwerfer aus. In der Garage wurde es dunkel. Dann öffnete Hirschhorn die Autotür, und die Innenbeleuchtung ging an.

Als er ausstieg, wartete Keller auf ihn.

 
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In dem Einkaufszentrum, in dem er seinen Wagen geparkt hatte, gab es eine Telefonzelle, aber die Geschäfte hatten alle geschlossen, und sein Olds war das einzige Auto, das dort noch stand. Er fühlte sich zu exponiert und zu nahe am Winding Acres Drive. Deshalb stieg er ein und fuhr auf den Interstate und auf eine Exxon-Tankstelle, um Dot anzurufen.

»Alles erledigt«, sagte er.

»Das ging aber schnell.«

»Mir kam es nicht so vor, aber wahrscheinlich hast du recht. Jedenfalls bin ich hier jetzt fertig. Am liebsten würde ich sofort nach Hause fliegen.«

»Dann mach das doch.«

»Dafür ist es zu spät«, sagte er. »Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die letzte Maschine schon gestartet. Außerdem muss ich ins Motel zurück, meine Sachen holen. Und das Zimmer ist schon bezahlt.«

»Und die Hell’s Angels sind heute nicht so in Feierlaune.«

»Wahrscheinlich sind sie sogar schon in einer anderen Zeitzone«, sagte er. »Außerdem haben sie mir ein anderes Zimmer gegeben. Im Obergeschoss. Es dürfte also eine ruhige Nacht werden.«

»Und wenn sich unter dir ein paar Satan’s Slaves einquartiert haben?«

»Dann müssten sie sich eine Möglichkeit einfallen lassen, an der Decke zu tanzen. Nein, Dot, ich sehe da kein Problem. Außerdem habe ich Ohrenstöpsel. Im Seven-Eleven haben sie übrigens welche.«

»Was ist das doch für ein tolles Land, in dem wir leben.«

»Allerdings.«

»Keller? Hat es irgendwelche Probleme gegeben?«

»Nein, alles glatt gelaufen, und ich werde morgen früh den ersten Flug nehmen. Die Stadt ist übrigens gar nicht so übel …«

»Das sagst du immer, Keller. Auch über Roseburg, Ohio.«

»… aber ich bin heilfroh, endlich von hier wegzukommen«, sprach er den Satz zu Ende. »Und das hast du mich über Roseburg nicht sagen hören. Ich kann es nicht erwarten, von hier wegzukommen.«

 
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Er hatte den Olds bereits an der üblichen Stelle auf der Rückseite des Super Eight abgestellt, als ihm einfiel, dass sein neues Zimmer nach vorne rausging. Er ließ ihn stehen. Es suchte zwar niemand nach ihm, aber dort hinten war er von der Straße nicht zu sehen. Auch wegen der Pistole brauchte er sich jetzt keine Gedanken mehr zu machen, ebenso wenig wie wegen Walter Hirschhorn.

Er legte sich in die Badewanne, dann sah er eine Weile fern, unter anderem auch eine halbe Stunde Lokalnachrichten. Die Sprecher waren eine schwarze Frau und ein weißer Mann, aber es fiel ihm schwer, sie auseinanderzuhalten. Irgendwie spielten Hautfarbe und Geschlecht keine Rolle mehr, und alles, was er wahrnahm, waren ihre aufgekratzten Stimmen und ihre großen weißen Zähne.

Deshalb hatte er auch Mühe, darauf zu achten, was sie sagten, aber Hirschhorn kam in keiner ihrer Meldungen vor. Damit hatte Keller auch nicht gerechnet.

Er legte sich schlafen. Der Verkehrslärm hielt sich in Grenzen, und als New Yorker ließ sich Keller selten von Hupen oder Sirenen oder quietschenden Bremsen stören. Solche Geräusche bekam er meistens nicht einmal unterschwellig mit. Trotzdem steckte er sich die Ohrenstöpsel rein. Er wollte einfach sehen, wie sie sich anfühlten. Aber bevor er dazu kam, sie wieder herauszunehmen, war er bereits eingeschlafen.

Gegen halb elf wurde er, sehr abrupt, wach und setzte sich mit klopfendem Herzen auf. Er konnte natürlich nichts hören, kam aber erst nach einer Weile auf den Grund dafür. In der Erwartung, das rote Lämpchen blinken zu sehen, schaute er zum Telefon. Aber es leuchtete nicht auf. Er schaute auf die Uhr und stellte erstaunt fest, wie lang er geschlafen hatte. Man brauchte nur seine Ohren zuzustöpseln, und schon ratzte man wie ein Murmeltier.

Er nahm die Stöpsel aus den Ohren und steckte sie, inzwischen nicht mehr steril, zu dem unbenutzten Paar in die Packung zurück. Durfte man das? Musste man Ohrenstöpsel wegwerfen, wenn man sie einmal benutzt hatte? Oder konnte man sie wiederverwenden? Steril waren sie nicht mehr, so viel war ihm klar, aber mussten sie das sein? Es war ja nicht so, dass jemand anders mit seinem Ohrenschmalz in Berührung kam. Wie unhygienisch war es also, sie wiederzuverwenden, wenn sie sich nie woanders befunden hatten als in seinen eigenen Ohren und wenn das auch ihr einziger künftiger Anwendungsort war? War es, wie wenn man ein Wattestäbchen wieder verwendete, oder eher wie wenn man sich mit einem Einwegrasierer ein zweites Mal rasierte?

Er packte seine Sachen und trug die Reisetasche zum Auto, und als er um die Ecke bog, sah er, dass der Parkplatz voll war mit Polizei- und Rettungsfahrzeugen, von denen einige ihre Warnlichter eingeschaltet hatten. An allen möglichen Stellen war gelbes Absperrungsband gespannt, und während er dastand und schaute, kamen zwei Männer in blaugrünen Overalls mit einer Tragbahre aus einem der Zimmer. Auf der Bahre lag ein olivefarbener Leichensack, dessen Reißverschluss bis oben hin zugezogen war.

Keller ging mit seiner Reisetasche in die Rezeption, um auszuchecken. »Einfach grauenhaft!«, sagte das Mädchen am Schalter, obwohl sie sich unübersehbar geradezu daran weidete. »Das Zimmermädchen, diese Mexikanerin? An der Tür war kein Doughnut. Deshalb hat sie geklopft und …«

»Kein Doughnut?«

»Sie wissen schon, das Zeichen, auf dem DO NOT DISTURB – NICHT STÖREN steht, aber mein Freund nennt es immer Doughnut Disturb, wegen des Lochs in der Mitte, mit dem man es an den Türknauf hängt? Aber egal, wo war ich gerade?«

»Kein Doughnut an der Tür.«

»Ach ja, richtig. Sie hat also geklopft, und als niemand reagiert hat, hat sie sich mit ihrem Schlüssel aufgeschlossen und gesehen, dass sie im Bett waren, und wenn das passiert, soll man eigentlich einfach gehen und die Tür schließen, ohne was zu sagen? Damit man sie nicht noch mehr stört, als man das sowieso schon getan hat?«

Warum klang bei ihr jede stinknormale Feststellung wie eine Frage? Sie legte auch ständig Pausen ein, als wartete sie auf eine Antwort. Keller nickte, was genau das zu sein schien, was nötig war, um sie weitersprechen zu lassen.

»Aber irgendwas muss ihr komisch vorgekommen sein. Der Geruch vielleicht? Jedenfalls ist sie in das Zimmer gegangen, und als sie die beiden besser sehen konnte, hat sie zu schreien angefangen. Beide sind im Bett erschossen worden, und das Bettzeug war voller Blut und …

Er ließ sie eine Weile weiterreden. Dann sagte er: »Mein Auto steht übrigens hinten. Lassen die Cops die Gäste wegfahren?«

»Aber sicher. Es ist schon Stunden her, dass Rosalia die Leichen gefunden hat. Ist doch ein schöner Name, oder?«

»Ja, sehr schön.«

»Er bedeutet Kleine Rose. Irgendwie süß, finden Sie nicht auch? Aber jetzt stellen Sie sich mal vor, jemand heißt auf Englisch Little Rose. Das hört sich an, als wäre sie Inderin. Oder wenn auch ihre Mutter Rose hieße. Big Rose und Little Rose?«

O Mann, dachte Keller.

»Jedenfalls, die Polizei ist schon stundenlang hier, und sie lassen die Gäste kommen und gehen. Nur in das Zimmer, in dem es passiert ist, dürfen Sie nicht.«

Dort war er schon gewesen. Warum sollte er noch mal hinwollen?