SECHS


Sie schlief noch, als er bei Tagesanbruch ging. Es war ein frischer, klarer Morgen, und er beschloss, ein Stück zu Fuß zu gehen, und am Ende ging er den ganzen Weg nach Hause. Sie wohnte in einem Loft in der Etage eines umgewandelten Lagerhauses in der Crosby Street, und er wohnte schon seit Jahren in einem Vorkriegsmietshaus in der First Avenue, nur ein paar Straßen vom UN-Hauptquartier entfernt. Er ging unterwegs frühstücken und blieb eine Weile auf dem Union Square, um sich die Bäume anzusehen. Anschließend schlüpfte er in eine Buchhandlung und blätterte in einem Taschenführer für die Bäume Nordamerikas. Damit ließ sich jeder Baum bestimmen, und dann bekam man alles erzählt, was man über ihn wissen wollte. Sogar mehr, als man wissen wollte, fand Keller, weshalb er die Buchhandlung verließ, ohne das Buch zu kaufen.

Aber er achtete auf dem Heimweg weiter auf die Bäume. Midtown Manhattan war nicht gerade der Bois de Boulogne, aber in den meisten Seitenstraßen von Kips Bay und Murray Hill standen ein paar Bäume am Straßenrand, und er ertappte sich dabei, dass er sie betrachtete wie jemand, der noch nie einen Baum gesehen hatte.

Er war sich der Bäume in der Stadt immer bewusst gewesen, und das ganz besonders in den Monaten, als er einen Hund gehabt hatte. Allerdings neigen Hundebesitzer dazu, Bäume in erster Linie als einen Gebrauchsgegenstand zu betrachten. Inzwischen wieder hundelos, sah Keller Bäume als – ja, was? Kunstgegenstände, die in Hinblick auf Form, Farbe und Dichte spezielle Eigenschaften besaßen? Beweise für Gottes Wirken auf Erden? Machtvolle eigenständige Geschöpfe? Keller war sich nicht sicher, aber er konnte den Blick nicht von ihnen losreißen.

Zu Hause, in seiner ordentlichen Zweizimmerwohnung, wurde ihm plötzlich die Kahlheit der Wände bewusst. Im Schlafzimmer hingen zwei japanische Drucke in Bambusrahmen, ein Weihnachtsgeschenk einer Freundin, die schon lange verheiratet war und nicht mehr in New York lebte. Der einzige Kunstgegenstand im Wohnzimmer war ein Poster, das Keller gekauft hatte, nachdem er vor ein paar Jahren in einer Hopper-Retrospektive des Whitney gewesen war.

Auf dem Poster war eins der bekanntesten Werke des Künstlers, zwei einsame Gäste an der Theke eines Diners, und es strahlte eine unbeschreibliche Einsamkeit aus. Keller fand es aufbauend. Die Botschaft, die es ihm vermittelte, war, dass er nicht allein war in seiner Einsamkeit, dass die Stadt (und im weiteren Sinn auch die Welt) voller einsamer Kerle war, die in einem verlassenen Café auf einem Hocker saßen, Kaffee tranken und durch die Tage und Nächte zu kommen versuchten.

An den japanischen Drucken war nichts auszusetzen, aber er hatte ihnen schon Jahre keine Beachtung mehr geschenkt. Mit dem Poster war das anders. Er betrachtete es oft und gern. Aber es war nur ein Poster. Es tat nichts anderes, als seine Erinnerung an das in Öl gemalte Original aufzufrischen, das es wiedergab. Wahrscheinlich hätte ihn das Poster auch angesprochen, wenn er das Gemälde selbst nie gesehen hätte, aber es hätte nicht annähernd die gleiche Wirkung auf ihn gehabt.

Ein Original von Hopper zu erwerben, kam für Keller nicht in Frage. Seine Tätigkeit war zwar einträglich, er konnte sich ein schönes Leben machen und gleichzeitig einiges Geld in seine Briefmarkensammlung stecken, aber er war Lichtjahre davon entfernt, sich einen echten Edward Hopper an die Wand hängen zu können. Das auf seinem Poster abgebildete Gemälde war bestimmt unverkäuflich, und sollte es doch einmal auf einer Auktion angeboten werden, brachte es bestimmt eine siebenstellige Summe. Einen siebenstelligen Betrag hätte Keller nur dann für ein Kunstwerk zahlen können, wenn zwei dieser sieben Stellen hinter dem Komma standen.

 
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Keller aß in einem vietnamesischen Restaurant in der Third Avenue zu Mittag und schaute anschließend in einem Blumenladen vorbei. Von dort ging er zur Fifty-seventh Street hoch, wo er ein Haus fand, das ihm einmal im Vorbeigehen aufgefallen war, weil es in jeder seiner zehn Etagen eine oder mehrere Kunstgalerien gab. Bis auf zwei hatten alle geöffnet, und er suchte sie der Reihe nach auf und sah sich die ausgestellten Arbeiten an. Zuerst fürchtete er noch, dass ihm die Galeristen etwas aufzuschwatzen versuchten oder er sich wie ein Fremdkörper fühlen würde, der sich Kunstwerke ansah, die er nicht zu kaufen beabsichtigte. Aber niemand nickte ihm auch nur zu oder gab zu erkennen, dass er sich dafür interessierte, was er sich ansah oder wie lang er es ansah, und nachdem er in drei Galerien gewesen war, fühlte er sich in dieser Szene wie zu Hause.

Es war, als ginge man in ein Museum, merkte er. Es war sogar genau wie ein Museumsbesuch, mit zwei Ausnahmen. Man musste keinen Eintritt zahlen, und es gab keine Gruppen hektischer Schulkinder, denen ihre Lehrer verzweifelt etwas über die ausgestellten Kunstwerke zu erzählen versuchten.

Woher wusste man, wie viel die einzelnen Bilder kosteten? Neben jedem Gemälde klebte eine Nummer an der Wand, aber es waren keine Dollarzeichen darauf, und die Nummer waren der Reihe nach, 1-2-3-4-5-6-7, angebracht und hatte nur zu offensichtlich nichts mit dem Preis zu tun. Anscheinend galt es als geschmacklos, den Preis offen anzuschreiben, aber wollten sie die Sachen denn nicht verkaufen? Was sollte man tun? Bei jedem Bild, das einem ins Auge stach, nach dem Preis fragen?

Dann fiel ihm in einer Galerie eine Besucherin auf, die beim Betrachten der einzelnen Arbeiten gelegentlich ein laminiertes Blatt Papier zu Rate zog, das sie auf einen Tisch neben der Tür legte, als sie ging. Keller holte sich den Zettel und stellte fest, dass es sich dabei um eine nummerierte Liste aller ausgestellten Werke handelte, auf der Titel, Abmessungen, Material (Öl, Aquarell, Acryl und Gouache, was immer das war) und Entstehungsjahr angegeben waren.

Bei einem Bild stand statt eines Preises nur UV, was vermutlich Unverkäuflich heißen sollte. Bei zwei anderen waren kleine rote Punkte neben dem Preis, und er erinnerte sich, dass bei einigen Bildern ähnliche rote Punkte neben ihren Nummern geklebt hatten. Aber natürlich! Die roten Punkte bedeuteten, dass die Gemälde verkauft waren. Sie packten es nicht einfach ein und gaben es einem nach Hause mit. Nein, die Bilder blieben für die gesamte Dauer der Ausstellung hängen, und deshalb nahmen sie ein verkauftes Werk nicht ab, sondern versahen es mit einem roten Punkt.

Er beglückwünschte sich dafür, das alles herausgefunden zu haben, stellte dann aber bestürzt fest, dass es alle anderen bereits gewusst hatten. In allen Galerien New Yorks war er wahrscheinlich der Einzige, dem das nicht bekannt gewesen war. Aber wenigstens war er von allein darauf gekommen. Er hatte nicht gefragt, was die roten Punkte bedeuteten, und sich zum Narren gemacht.

 
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Als Keller zu Hause eintraf, war die Post bereits gekommen. Früher hatte ihn die Post nie groß interessiert. Er hatte sie aus dem Briefkasten genommen und durchgesehen, die Werbesendungen weggeworfen und die Rechnungen bezahlt. Seit er jedoch angefangen hatte, Briefmarken zu sammeln, barg die Post jeden Tag neue Überraschungen.

Händler aus dem ganzen Land – und manchmal sogar aus dem Ausland – schickten ihm Marken, die er bei ihnen bestellt oder bei einer Auktion ersteigert hatte. Andere schickten ihm Marken zur Ansicht zu, damit er sie sich in Ruhe ansehen und diejenigen, die ihm gefielen, behalten konnte. Und dann waren da noch die monatlich erscheinenden philatelistischen Zeitschriften, eine Wochenzeitung und jede Menge Auktionskataloge und Preislisten und Sonderangebote.

An diesem Tag erhielt Keller neben den üblichen Listen und Katalogen von einer Händlerin in Maine seine monatliche Auswahl. »Lieber John«, stand in dem beiliegenden Schreiben, »anbei schicke ich Dir zur Ansicht ein paar interessante Exemplare aus den ehemaligen deutschen Kolonien sowie verschiedene andere Raritäten. Beigefügt sind 26 Glassinumschläge für insgesamt $ 149,43. Hoffentlich ist etwas dabei, was Dir gefällt. Mit freundlichen Grüßen, Beatrice.«

Keller kaufte seit fast zwei Jahren Briefmarken bei Beatrice. Sie fügte jeder Lieferung ein ähnliches Schreiben bei, und er antwortete immer im selben Stil: »Liebe Beatrice, danke für die schöne Auswahl, von der hier in der First Avenue einiges ein Zuhause gefunden hat. Ich lege einen Scheck über $ 83,75 bei und freue mich schon auf die nächste Auswahl. Herzliche Grüße, John.« Mehr als ein Jahr war es mit Lieber Mr. Keller und Liebe Ms. Rundstadt hin und her gegangen, aber inzwischen waren sie John und Beatrice, was ihrer Korrespondenz eine netten Anschein von Vertrautheit verlieh.

Aber nur einen Anschein. Er wusste nicht, ob Beatrice Rundstadt verheiratet oder ledig war, alt oder jung, dick oder dünn, und ebenso wenig wusste er, ob sie selbst Briefmarken sammelte (wie das viele Händler taten) oder Briefmarkensammeln (wie ebenfalls viele Händler) für vergebliche Liebesmüh hielt. Umgekehrt wusste sie über ihn nur, dass er Briefmarken sammelte.

Und so sollte es auch bleiben. Natürlich konnte er sich eine gelegentliche Fantasie nicht verkneifen, dass sich Bea Rundstadt (oder eine andere Philatelistin) als eine Seelenverwandte mit dem Gesicht eines Engels und der Figur einer Barbiepuppe entpuppte. Solange man Fantasien unter Kontrolle hatte, waren sie harmlos. Seine Begleitschreiben waren so unerschütterlich oberflächlich wie ihre. Sie schickte ihm Briefmarken, er schickte ihr Schecks. Warum an etwas herumpfuschen, das funktionierte?

 
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In der Regel konnte man eine Auswahl von Marken, die einen interessierten, bis zu einem Monat lang behalten, aber Keller schickte sie normalerweise schon nach ein, zwei Tagen zurück. Diesmal brauchte er nur eine Stunde, um die Marken auszusuchen, die er haben wollte. Einordnen konnte er sie später; erst einmal stellte er einen Scheck aus, schrieb eine dreizeilige Nachricht und ging nach unten zum Briefkasten. Dann nahm er einen Bus zur Fourteenth Street und fuhr mit dem L Train unter dem East River durch zur Bedford Avenue.

In Manhattan kannte sich Keller relativ gut aus, aber seine Kenntnisse über die anderen New Yorker Boroughs war etwa auf dem Stand einer mittelalterlichen Weltkarte. Es gab kleine schwimmende Einsprengsel bekannten Lands und riesige Flächen, für die »Hic sunt dragones« galt. Mit Teilen Brooklyns war er halbwegs vertraut – mit Cobble Hill zum Beispiel, weil er dort einmal eine Freundin gehabt hatte, und mit Marine Park, weil er vor langer, langer Zeit vereinsmäßig Bowling gespielt hatte und dort draußen gelegentlich zu Ligaspielen angetreten war. Williamsburg kannte er so gut wie gar nicht, aber er wusste, dass im südlichen Teil die vorherrschenden ethnischen Gruppen Puertoricaner und chassidische Juden waren und weiter im Norden Polen und Italiener. In den letzten Jahren hatten sich dort auch Künstler auf der Suche nach günstigen Ateliers niedergelassen. (»Das ist das Ende des Viertels«, konnte man die Leute auf Spanisch, Jiddisch, Polnisch und Italienisch jammern hören.)

Declan Niswander wohnte in der Berry Street im Nordteil von Williamsburg, zu Fuß nur zehn Minuten von der U-Bahnstation entfernt. Keller fand die Adresse in einer Reihe bescheidener dreistöckiger Ziegelhäuser auf der Ostseite der Straße. Neben der Haustür waren drei Klingelknöpfe, was darauf schließen ließ, dass in jeder Etage eine Wohnung war. Ob sie geräumig oder klein waren, hing davon ab, wie weit das Niswander-Haus nach hinten reichte, aber das war von der Straße nicht zu sehen.

In dem Straßenzug, und im ganzen Viertel, war die Gentrifizierung in vollem Gange, aber es gab noch viel Luft nach oben, und die Phase des Bäumepflanzens war noch nicht angebrochen. Das hieß, dass Declan Niswander, der Bäume so atmosphärisch malte, dass Termiten in Erwägung zogen, ihre Ernährung umzustellen, in einer Straße ohne einen einzigen Baum wohnte. Keller fragte sich, ob ihn das störte oder ob er es überhaupt merkte. Vielleicht waren Bäume für ihn nur etwas zum Malen, und sobald er den Pinsel beiseitelegte, dachte er nicht mehr an sie.

Keller wanderte eine Weile ziellos durch das Viertel, um sich einen ersten Eindruck davon zu verschaffen. Er entdeckte ein kleines polnisches Restaurant, in dem er eine Schale Borschtsch und eine große Portion Pierogi aß, ein großes Glas Trauben-Kool-Aid trank, das sie ihm ungefragt brachten, und nach einem großzügigen Trinkgeld immer noch etwas Wechselgeld von einem Zehndollarschein übrig hatte. Hier draußen zu essen war wirklich günstig, selbst wenn man die U-Bahnfahrkarte dazurechnete.

Er saß in einer Kneipe, die The Broken Clock hieß, über einem Glas dunklem Bier, als Niswander hereinkam. Er hatte nicht mit seinem Erscheinen gerechnet, war aber auch nicht sonderlich überrascht. The Broken Clock (warum nannten sie den Laden wohl so? Es war nirgendwo eine Uhr zu sehen, weder eine kaputte noch sonst eine) war die einzige Bar in der Gegend, die wie ein Künstlertreff aussah. Die anderen waren normale Arbeiterkneipen, besser geeignet für Anstreicher von Häusern als Maler von Ulmen und Ahornen. Ab und zu schaute Niswander vielleicht auch dort auf ein Glas Bier vorbei, aber wenn er im Viertel öfter was trinken ging, dann im Broken Clock.

Niswander kam mit einer Frau herein, die eindeutig seine war und in einem Tragetuch ein Baby hatte, das eindeutig ihres war. Er grüßte überall Leute. Keller hörte, wie ihm jemand zu einer Kritik gratulierte und ein anderer fragte, wie die Vernissage gewesen sei. Hier kannten sie Declan Niswander und konnten ihn offensichtlich auch ganz gut leiden.

Niswander fühlte sich in dem Laden wie zu Hause, aber Keller vermutete, dass das in jeder Kneipe des Viertels so gewesen wäre. Mit seiner Statur und seinem Aussehen hätte er überall reingepasst, und in seinem rot-schwarz karierten Hemd und der Button-fly-Levi’s sah er eher wie jemand aus, der einen Baum fällte, als wie jemand, der einen malte. Er trug absolut nichts Schwarzes, aber das tat auch keiner der anderen Gäste der Bar. Schwarz, vermutete Keller, war etwas für Lower Manhattan, wo sich ganz normale Leute wie Künstler anzogen. Auf dieser Seite des Flusses zogen sich Künstler wie ganz normale Leute an.

Keller trank sein Bier aus und ging.

 
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Als er am Abend nach Hause kam, waren keine Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter, und es rief auch niemand an, als er am nächsten Morgen um die Ecke frühstücken war. Er sah eine Nummer nach und griff nach dem Telefon.

Als sie abnahm, sagte er: »Hi, hier Keller.«

»Da bist du ja.«

»Da bin ich«, bestätigte er ihr.

»Und kein Wunder, dass dich die Leute Keller nennen. Du nennst dich ja auch selbst so.«

»Tue ich das?«

»›Hi, hier Keller.‹ Hast du gerade selbst gesagt. Deine Rosen sind sehr schön. Völlig unerwartet und höchst willkommen.«

»Ich habe mich gefragt, ob du sie auch bekommen hast.«

»Du bist nur zu zurückhaltend, um zu sagen, dass du dich gefragt hast, ob ich anrufen würde.«

»Keineswegs«, sagte er. »Ich weiß, du hast viel um die Ohren, und …«

»Und im Blumenladen könnten sie die Karte verschlampt haben, sodass ich nicht wusste, von wem sie sind.«

»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen.«

»Würde mich auch wundern, wenn nicht. Glaubst du etwa, ich hätte nicht anzurufen versucht? Bloß, weißt du eigentlich, wie viele Kellers es im Telefonbuch von Manhattan gibt?«

»An die zwei Spalten, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ganz genau, zwei Spalten. Und es gibt zwei John Kellers und zwei Jonathans, nicht zu reden von sieben oder acht J Kellers. Und keiner von ihnen warst du.«

»Ich stehe nicht im Telefonbuch.«

»Was du nicht sagst.«

»Dann hattest du wohl meine Nummer nicht«, sagte er.

»Offensichtlich nicht, aber jetzt schon, weil ich nämlich Anrufererkennung auf meinem Telefon habe, weshalb dein Geheimnis keines mehr ist. Jetzt kann ich dich immer anrufen, wenn ich will. Wie findest du das?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Deshalb ist es schwer zu sagen. Worüber ich mir allerdings Gedanken gemacht habe, ist: Wie fändest du es, wenn ich heute gegen sieben bei dir vorbeikomme und wir zusammen essen gehen?«

»Das geht nicht.«

»Oh.«

»Aber ich habe eine bessere Idee. Wie wär’s, wenn du um halb zehn vorbeikommst und wir ins Bett gehen.«

»Das ließe sich machen«, sagte er. »Aber willst du denn nichts essen?«

»Ich bin eine miserable Köchin.«

»In einem Restaurant«, sagte er. »Ich wollte mit dir ausgehen.«

»Ich habe verheerende Tischmanieren«, sagte sie. »Außerdem muss ich um fünf zu meiner Therapie.«

»Dauert das normalerweise nicht bloß eine Stunde?«

»Sogar nur fünfzig Minuten.«

»Wir könnten danach essen gehen.«

»Was ich immer mache«, sagte sie, »ist, ich kaufe mir auf dem Weg zur Therapie einen Bananensmoothie mit Weizenkeimen und Eiweißpulver und Spirulina, was auch immer das ist, und den trinke ich, während wir reden. Es ist der ideale Zeitpunkt für die Nahrungsaufnahme, weißt du? Und hinterher gehe ich sofort nach Hause und arbeite, weil ich einen Auftrag habe, den ich fertig bekommen muss, und um neun mache ich Schluss und nehme ein Bad und wasche mir die Haare und mache mich unwiderstehlich, und um halb zehn tauchst du auf, und wir haben eine einfallsreiche und äußerst befriedigende sexuelle Begegnung. Auf die ich mich, sollte ich vielleicht hinzufügen, schon den ganzen Tag lang freuen werde. Halb zehn, Keller. Bis dann.«

 
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Am frühen Nachmittag nahm Keller einen Bus nach SoHo und machte sich auf die Suche nach der Regis Buell Gallery. Es gab noch einige andere Kunstgalerien im selben Block, und er schaute sich in zweien kurz um. Im Schnitt waren die Preise niedriger als in der Galerien in der Fifty-seventh Street, aber nicht viel. Kunst konnte sehr schnell teuer werden, sobald man sich nicht mehr mit Ausstellungsplakaten und massengefertigten Drucken von Kabuki-Tänzern begnügte.

Bei der Vernissage war die Buell Gallery gerammelt voll gewesen. Jetzt war sie leer – bis auf Keller und die junge Frau am Schreibtisch, eine selbstbewusste Blondine, die vor Kurzem ihren Abschluss an einem guten College gemacht hatte und bald die Frau eines Pendlers würde. Sie bedachte Keller mit einem unterkühlten Lächeln und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Keller holte sich eine Preisliste. Sie mussten sie schon bei der Vernissage gehabt haben, aber damals hatte er noch nicht gewusst, dass es so etwas gab.

Er ging von Bild zu Bild und blieb zwei Stunden in der Galerie.

 
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Zurück in seiner Wohnung, rief er Dot an. »Ich habe noch mal darüber nachgedacht.«

»Wenn du es dir anders überlegt hast«, sagte sie, »dann lass es einfach bleiben. Ehrlich gestanden, kann ich es dir nicht verdenken.«

»Nein.«

»Nein?«

Er schüttelte den Kopf, doch dann fiel ihm ein, dass er telefonierte. »Nein«, sagte er deshalb, »das ist es nicht. Ich habe mich nur wegen des Kunden gefragt.«

»Wieso? Was soll mit ihm sein?«

»Wer ist er?«

»Wer er ist? Keine Ahnung.«

»Es ist nämlich so, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie jemand ein Interesse daran haben könnte, diesen Typen aus dem Weg räumen zu lassen. Höchstens vielleicht jemand aus der holzverarbeitenden Industrie.«

»Wie bitte?«

»Er malt Bilder von Bäumen, und wenn du mal ein paar davon gesehen hast, würdest du nie mehr einen fällen.«

»Und was genau wirst du jetzt, Keller? Ein Baumretter oder ein Kunstliebhaber?«

»Ich bin gestern Abend nach Williamsburg gefahren und …«

»Glaubst du, das war klug?«

»Möglicherweise erledige ich es dort draußen. Deshalb wollte ich erst mal das Terrain erkunden.«

»Ach so.«

»Ist ’ne nette Gegend, viele Künstler, hat aber trotzdem noch was Uriges. Angenehme Atmosphäre.«

»Und jetzt möchtest du dort hinziehen.«

»Ich will nirgendwo hinziehen, Dot. Aber glaubst du, du könntest was über den Kunden rausfinden? Den Typen anrufen, der dich angerufen hat, dich ein bisschen umhören?«

»Warum?«

»Warum?«

»Ja, warum? Es ist schon problematisch genug, in der Stadt zu arbeiten, in der man lebt. Warum das Ganze noch komplizierter machen?«

»Na ja …«

»Er wird mir nichts erzählen. Er ist ein Profi. Und das bin ich auch. Deshalb werde ich ihn nicht mal fragen. Und du bist auch ein Profi, Keller. Muss ich noch mehr sagen?«

»Nein, vergiss es. Weißt du, wie viel er für ein Bild bekommt?«

»Wer? Die Zielperson?«

»Zehntausend Dollar. Im Schnitt. Die großen kosten etwas mehr, die kleinen etwas weniger.«

»Wie Diamanten«, sagte sie, »oder, keine Ahnung, Wohnungen. Was spielt es für eine Rolle, wie viel er verdient? Du willst doch keines kaufen?«

Er sagte nichts.

»Das wird ja immer schöner, Keller. Du erledigst den Typen und schlägst bei dir zu Hause einen Nagel in die Wand und hängst eins seiner Bilder daran auf. Es gibt nichts Professionelleres, als ein Erinnerungsstück an den Anlass zu behalten.«

»Dot …«

»Wenn du schon unbedingt ein Souvenir haben möchtest«, sagte sie, »dann schneide ihm ein Ohr ab. Damit sparst du dir – sage und schreibe – zehn Riesen. Und wenn dich jemand fragt, sagst du, es ist das von Van Gogh.«

 
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»Na«, sagte Maggie Griscomb, »war das etwa nichts?«

Keller hätte gern was gesagt, aber er war nicht sicher, ob er in der Lage war, vollständige Sätze zu bilden.

»Als ich die ganzen Kellers durchgemacht habe«, fuhr sie fort, »die Johns und die Jonathans und die ganzen Js, hätte ich den Mann, der das Tastentelefon erfunden hat, am liebsten ermordet. Mit einer altmodischen Wählscheibe wäre ich erst gar nicht auf die Idee gekommen, es zu versuchen. Ich wusste nämlich schon, dass du nicht im Telefonbuch stehen würdest. Jedenfalls nicht in dem von Manhattan. Ich fand, du könntest in Scarsdale wohnen.«

»Warum in Scarsdale?«

»Na ja, an so einem Ort eben. Meinetwegen auch in Westchester oder Long Island oder Connecticut. Gutsituiert vorstädtisch.«

»Ich wohne in Manhattan.«

»Wieso willst du Kinder in Manhattan aufwachsen lassen?«

»Ich habe keine. Ich bin nicht verheiratet.«

»Ich habe schon überlegt, welche John Kellers ich in Westchester finden würde«, sagte sie. »Aber du wärst im Büro gewesen, und ich hätte deine Frau dran bekommen.«

»Ich habe keine Frau.«

»Dann habe ich überlegt, ob ich in deinem Büro anrufen soll.«

Ein Büro hatte er auch nicht. »Wie hätte das gehen sollen? Ich habe dir nie gesagt, wo ich arbeite.«

»Ich hatte vor, mich durch alle Fortune 500 -Firmen zu arbeiten, bis ich irgendwann dich erreicht hätte. Aber dann hast du mich angerufen und mir die Mühe erspart.«

»Du hältst mich anscheinend für einen von diesen Business-Typen.«

»Wie komme ich bloß auf so eine Idee?« Sie legte ihre Hand auf ihn. »Ich habe dich auf den ersten Blick durchschaut, Keller. Bist du bei der Vernissage in Schwarz aufgetaucht? Hast du mit farbbekleckerten Jeans und rotem Kopftuch ein Statement abgegeben? Nein, du bist in Anzug und Krawatte erschienen. Wie soll ich da wohl auf die Idee gekommen sein, du wärst einer von diesen Business-Typen?«

»Ich habe mich schon zur Ruhe gesetzt.«

»Bist du dafür nicht noch ein bisschen jung? Oder hast du so viel Geld gemacht, dass es nichts mehr bringt, noch länger zu arbeiten?«

»Ab und zu arbeite ich ja noch.«

»Als was?«

»Unternehmensberater.«

»Aha.«

»Deshalb muss ich hin und wieder für ein paar Tage oder eine Woche verreisen.«

»Um ein Unternehmen zu beraten.«

»Na ja, ich bin eher so eine Art Troubleshooter. Und da ich immer nur ein paar Aufträge pro Jahr erhalte, bin ich mehr oder weniger schon im Ruhestand.«

»Und das reicht dir zum Leben?«

»Ich komme ganz gut über die Runden. Ich habe im Lauf der Jahre was auf die hohe Kante gelegt, und ich habe geerbt, und bei meinen Investitionen hatte ich auch Glück.«

»Frisst der Unterhalt für Frau und Kinder nicht das Meiste davon auf?«

»Ich war nie verheiratet.«

»Ehrlich? Ich weiß, dass du jetzt nicht verheiratet bist. Damit wollte ich dich nur ein bisschen aufziehen. Aber dass du nie verheiratet warst? Wie hast du es geschafft, darum rumzukommen?«

»Keine Ahnung.«

»Ich habe mal einen Typen abgeschleppt«, sagte sie. »Das war, als ich noch hässliche Bilder gemalt und mit Fremden geschlafen habe. Er war ungefähr dein Alter und hat unglaublich gut ausgesehen, und im Bett war er auch super. Und er war auch nie verheiratet. Das konnte ich mir nicht erklären, bis ich rausgefunden habe, dass er Priester war.«

»Ich bin kein Priester.«

»Schade. Du könntest für Gott als Troubleshooter arbeiten. Weißt du was? Wir sollten uns auf keinen Fall noch länger so unterhalten. Ich möchte, dass das eine oberflächliche Beziehung bleibt.«

»Dann würde ich sagen, diese Unterhaltung ist ein Schritt in die richtige Richtung.«

»Nein, sie ist zu persönlich. Wir können über weiß Gott was reden, aber nicht über uns. Nichts ist mehr dazu angetan, alles zu verderben, als sich näher kennenzulernen.«

»Findest du?«

»Jedenfalls bist du fast so süß wie der Priester und im Bett sogar noch besser. Und du bist gerade hier, und weiß Gott, wo er ist, was bei genauerer Überlegung völlig in Ordnung ist. Aber warum vergeuden wir hier unsere Zeit mit Reden?«

 
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Etwas später sagte er: »Ich war heute noch mal in dieser Galerie.«

»In welcher?«

»Wo wir uns kennengelernt haben. Regis Buell? Ich wollte sehen, wie Gemälde ohne Wein und Käse aussehen.«

»Und ohne mehrere hundert Leute. Und?«

»Sie haben mir gefallen«, sagte er. »Dieser Typ kann echt Bäume malen. Aber sie fliegen nicht gerade von den Wänden. Nur neben zwei Bildern war ein roter Punkt an der Wand.«

»Das sind zwei mehr, als Declan gern hätte.«

»Wie das?«

»Ich kann nur wiedergeben, was die Leute sagen. Anscheinend hat er verschiedene Leute angerufen, die seine Bilder sammeln, und ein paar Museumsleute, die Interesse an ihnen gezeigt haben, und allen hat er das Gleiche gesagt. Kommt in die Galerie, seht euch an, was ich in letzter Zeit gemacht habe, aber kauft um Himmels willen nichts.«

»Warum?«

»Weil er Regis Buell nicht ausstehen kann.«

»Den Galeristen? Warum zeigt er dann seine Bilder nicht anderswo?«

»Wird er auch, sobald er aus seinem Vertrag mit Regis raus ist. Das ist seine letzte Ausstellung bei ihm, und ab dem Ersten kommenden Monats wird er von Ottinger Galleries vertreten. Deshalb will Declan, dass vorerst noch niemand etwas kauft, damit Jimmy Ottinger die Provisionen für seine Arbeiten bekommt und nicht Regis Buell.«

»Werden die Preise bei Ottinger gleich hoch sein?«

»Vielleicht erhöht sie Jimmy ein bisschen«, sagte sie. »Zumindest wenn er glaubt, der Markt gibt es her. Er hält viel von Declans Arbeiten.«

»Und Regis Buell nicht?«

»Regis ist nur klar, dass das seine letzte Gelegenheit ist, mit Declans Bildern Geld zu machen. Deshalb hat er die Preise so niedrig wie möglich angesetzt, um möglichst viele Bilder zu verkaufen. Jimmy Ottinger kann es sich leisten, langfristig zu denken. Es könnte besser sein, jetzt schon mit den Preisen raufzugehen, als alles günstiger zu verkaufen.«

»Die Sache scheint komplizierter zu sein, als es auf den ersten Blick aussieht.«

»Wie alles andere auch«, sagte sie. »Und was ist mit dir? Warum interessierst du dich für das alles? Hast du vor, in eine von Declans knorrigen Eichen zu investieren?«

»Es gibt ein paar, die sich in meiner Wohnung nicht schlecht machen würden«, sagte er. »Besonders eins. Aber verlange bitte nicht von mir, dass ich es dir beschreibe.«

»Ein Baum ist ein Baum ist ein Baum.«

»In diesem Fall ist es ein alter in einer Winterlandschaft, aber das trifft auf relativ viele zu. Die Sache ist, sie sind alle anders, aber wenn man sie zu beschreiben versucht, läuft es bei allen mehr oder weniger auf dasselbe hinaus.«

»Ich weiß. Aber sag Declan bloß nicht, dass ich das gesagt habe. Aber was interessiert es dich, wer die Provision einstreicht? Wenn du eins gefunden hast, das dir wirklich gefällt, und wenn du sicher bist, dass du es in einem Monat oder einem Jahr immer noch ansehen willst …«

»Soll ich es kaufen?«

»Billiger wirst du es nicht mehr bekommen. Und jemand anders könnte es dir vor der Nase wegkaufen.«

 
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Gegen viertel nach eins begleitete ihn Maggie an die Tür und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben. »Keine Blumen mehr«, warnte sie ihn. »Einmal war super, aber einmal genügt auch. Ruf mich ab und zu an, sagen wir, einmal die Woche, und wir kommen ein paar Stunden zusammen wie diesmal.«

»Ein paar Stunden«, sagte er. »Jede Woche oder so.«

»Ist das zu viel?« Sie tätschelte seine Wange. »Wenn wir uns öfter sehen, nutzt es sich vielleicht ab.«

Wenn wir uns öfter sehen, dachte er, als ihn ein Taxi nach Hause brachte, nutze ich mich ab.