ZEHN


»Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet«, sagte er. »Ich weiß zwar nicht, was ich mir von der Astrologie erwartet habe, aber Tränen sicher nicht.«

»Sie wollten raus. Sie haben sie schon ziemlich lang zurückgehalten.«

»Schon immer. Eine Weile habe ich eine Therapie gemacht, ohne dass es mir auch nur die Kehle zugeschnürt hat.«

»Wann war das? Vor drei Jahren?«

»Woher wissen Sie … steht das in meinem Horoskop?«

»Nicht die Therapie als solche, aber ich habe gesehen, dass Sie eine Phase hatten, in der Sie für Selbsterforschung zugänglich waren. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie lange dabeigeblieben sind.«

»Ein paar Monate ist mir dabei einiges klar geworden, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, Schluss damit machen zu müssen.«

Dr. Breen, sein Therapeut, hatte seine eigenen Ziele verfolgt, und diese waren denen Kellers deutlich zuwidergelaufen. Die Therapie hatte ein abruptes Ende genommen, und das hatte, nicht ganz zufällig, auch Breen.

Bei Louise Carpenter würde er es nicht so weit kommen lassen.

»Was wir hier machen, ist keine Therapie«, erklärte sie ihm, »aber es kann – wie Sie gerade selbst erlebt haben – eine sehr intensive Erfahrung sein.«

»Auf jeden Fall. Aber unsere fünfzig Minuten müssen längst um sein.« Er sah auf seine Uhr. »Wir haben weit überzogen. Tut mir leid, das habe ich nicht gemerkt.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, das ist keine Therapie, John. Wir kümmern uns nicht um die Uhr. Und ich habe nie mehr als zwei Termine am Tag, einen morgens und einen nachmittags. Wir können uns beliebig Zeit lassen.«

»Ach so.«

»Und wir müssen über das reden, was sich gerade bei Ihnen tut. Sie durchlaufen im Moment eine schwierige Phase, oder?«

War das so?

»Leider muss ich Ihnen sagen, dass es auch in den kommenden zwölf Monaten schwierig bleiben wird«, fuhr sie fort. »Solange Saturn da ist, wo er gerade ist. Schwierig und gefährlich. Aber ich nehme mal an, Gefahr ist etwas, womit Sie zu leben gelernt haben.«

»So gefährlich ist das, was ich tue, auch wieder nicht«, sagte er.

»Wirklich?«

Für andere schon, dachte er. »Für mich nicht«, sagte er. »Nicht besonders jedenfalls. Ein gewisses Risiko besteht immer, und man muss auf der Hut sein, aber es ist nicht so, dass man ständig unter Hochspannung steht.«

»Aber, John?«

»Wie bitte?«

»Sie hatten einen Gedanken, er ist gerade über Ihr Gesicht gehuscht.«

»Es wundert mich, ehrlich gestanden, dass Sie mir nicht sagen können, was ich gedacht habe.«

»Wenn ich raten müsste«, sagte sie, »würde ich sagen, Sie haben etwas gedacht, was dem Satz, den Sie gerade gesagt haben, widerspricht. Dass man nicht ständig unter Hochspannung steht.«

»Das war früher tatsächlich so.«

»Aber seit Kurzem nicht mehr.«

»Das alles können Sie tatsächlich erkennen? Entschuldigung, dass ich das immer wieder sage. Ja, es ist noch nicht lange her. Ein paar Monate.«

»Die gefährliche Phase hat also im Herbst begonnen.«

»Ja, das ist richtig.« Und ohne genauere Einzelheiten zu nennen, begann er von seinem Aufenthalt in Louisville zu erzählen und von seinem Eindruck, dass dort irgendetwas nicht gestimmt hatte. »Unter anderem hat jemand an die Tür meines Zimmers geklopft«, sagte er, »und ich habe Panik gekriegt, obwohl das sonst gar nicht meine Art ist.«

»Mhm.«

»Ich habe nach einem Gegenstand gegriffen …« Einer Pistole. »… und mich damit neben die Tür gestellt, und mein Herz hat wie wild geschlagen, aber es war nur ein Besoffener, der seinen Freund gesucht hat. Ich stand kurz davor, ihn in Notwehr zu erschießen, und dabei hat er bloß an die falsche Tür geklopft.«

»Das muss ziemlich beunruhigend gewesen sein.«

»Das Beunruhigendste daran war zu sehen, wie beunruhigt ich war. Das hat meinen Puls zwar nicht so heftig in die Höhe schnellen lassen wie das Klopfen an meiner Tür, aber es hat wesentlich länger nachgewirkt. Ehrlich gesagt, beschäftigt es mich immer noch.«

»Weil Ihre Reaktion unbegründet war. Aber vielleicht haben Sie sich wirklich in Gefahr befunden, John. Sie hat Ihnen zwar nicht unbedingt von dem Betrunkenen gedroht, aber möglicherweise von etwas Unsichtbarem.«

»Wovon zum Beispiel? Von Anthraxsporen?«

»Für Sie unsichtbar, aber nicht unbedingt für das bloße Auge. Irgendein unbekannter Widersacher, ein verborgener Feind.«

»Diesen Eindruck hatte ich tatsächlich. Aber es hat mir nicht eingeleuchtet.«

»Wollen Sie darüber reden?«

Wollte er das?

»Ich habe mir ein anderes Zimmer geben lassen«, sagte er.

»Wegen des Betrunkenen, der bei Ihnen geklopft hat?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ein paar Tage später konnte ich wegen des Lärms, den die Leute über mir gemacht haben, nicht schlafen. In dieser Nacht musste ich zwar noch in meinem Zimmer bleiben, weil das Motel voll war, aber am nächsten Morgen habe ich mir sofort ein anderes Zimmer geben lassen. Und in dieser Nacht …«

»Ja?«

»Sind zwei Leute in mein altes Zimmer gezogen. Ein Mann und eine Frau. Sie wurden ermordet.«

»In dem Zimmer, aus dem Sie gerade ausgezogen waren.«

»Es war ihr Ehemann. Sie war mit jemand anders dort, und der Ehemann ist ihnen anscheinend gefolgt. Er hat sie beide erschossen. Aber es hat mich ständig verfolgt, dass es in meinem alten Zimmer passiert ist. Als ob ihr Mann mich umgebracht hätte, wenn ich nicht das Zimmer gewechselt hätte.«

»Aber er war niemand, den Sie kannten.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Und trotzdem hatten Sie das Gefühl, gerade noch davongekommen zu sein.«

»Das ist allerdings völlig absurd.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hätten durchaus getötet werden können, John.«

»Aber wie? Das habe ich zwar auch gedacht, aber es kann gar nicht sein. Der Mörder ist einzig und allein wegen der zwei Personen, die sich darin aufgehalten haben, in das Zimmer gekommen. Nur ihretwegen ist er dort aufgetaucht, nicht wegen des Zimmers. Wie hätte mir also von ihm Gefahr drohen können?«

»Es hat aber eine konkrete Gefahr bestanden.«

»Steht das in meinem Horoskop?«

Sie nickte ernst und hielt Daumen und Zeigefinger in etwa einem Zentimeter Abstand voneinander hoch. »So knapp sind Sie dem Tod entgangen.«

»Das war auch das Gefühl, das ich hatte! Aber …«

»Vergessen Sie den Ehemann, vergessen Sie, was in dem Zimmer passiert ist. Vom Ehemann der Frau hat Ihnen nie Gefahr gedroht, aber von jemand anderem schon. Sie haben sich auf sehr dünnem Eis bewegt, John, und das ist insofern eine gute Metapher, weil ein Schlittschuhläufer erst merkt, wie dünn das Eis ist, wenn er einbricht.«

»Aber …«

»Aber dazu ist es nicht gekommen«, sagte sie. »Egal, woher Ihnen Gefahr gedroht hat, sie ist an Ihnen vorübergezogen. Und als dann diese beiden Leute getötet wurden, hat Sie das hellhörig gemacht.«

»Als ob das Eis gebrochen wäre«, sagte er, »aber auf einem anderen Teich. Darüber muss ich mal in Ruhe nachdenken.«

»Das werden Sie bestimmt.«

Er räusperte sich. »Louise? Steht alles in den Sternen geschrieben, wie in einem Drehbuch sozusagen, und spielen wir es hier unten auf der Erde nur nach?«

»Nein.«

»Aber Sie brauchen bloß auf dieses Blatt Papier zu schauen«, sagte er, »und können dann sagen: ›Sie werden an dem und dem Tag dem Tod sehr nahe kommen, aber Sie werden es unbeschadet überstehen.‹«

»Das trifft nur auf die erste Hälfte zu. ›Sie werden dem Tod sehr nahe kommen.‹ Um Ihnen das sagen zu können, hätte ich mir nur Ihr Horoskop ansehen müssen. Ob Sie überleben werden, hätte ich Ihnen allerdings nicht sagen können. Die Sterne zeigen zwar Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten, aber vollständig vorhersehbar ist die Zukunft nie. Außerdem haben wir einen freien Willen.«

»Wenn diese Leute nicht umgebracht worden wären und wenn ich einfach nach Hause zurückgekehrt wäre …«

»Ja?«

»Naja, wenn ich dann dieses Gespräch mit Ihnen führen würde und Sie mir sagen würden, wie knapp ich noch einmal davongekommen bin, würde ich denken, so viel zur Weisheit der Sterne. Ich hatte zwar ein komisches Gefühl, aber ich hätte nicht mehr groß daran gedacht. Deshalb würde ich Sie jetzt ansehen und sagen: ›Aber sicher‹, und es sofort wieder vergessen.«

»Sie können dem Mann und der Frau dankbar sein.«

»Und dem Kerl, der sie erschossen hat, ebenfalls. Und den Rockern, die so viel Lärm gemacht haben. Und Ralph.«

»Wer ist Ralph?«

»Der Freund des Betrunkenen, der Mann, nach dem er überall gesucht hat. Auch dem Betrunkenen muss ich dankbar sein, nur weiß ich seinen Namen nicht. Andererseits weiß ich von keinem der Beteiligten, wie er geheißen hat. Außer Ralph.«

»Wahrscheinlich sind die Namen auch nicht wichtig.«

»Ich wusste mal, wie der Mann und die Frau geheißen haben, und der Mann, der sie erschossen hat, der Ehemann. Inzwischen habe ich ihre Namen allerdings wieder vergessen. Aber sie sind auch nicht wichtig, da haben Sie vollkommen recht.«

»Allerdings.«

Er sah sie an. »Das kommende Jahr …«

»Wird gefährlich.«

»Wobei sollte ich besonders vorsichtig sein? Soll ich möglichst nicht fliegen? An windigen Tagen einen dicken Pullover anziehen? Können Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?«

Sie zögerte, bevor sie damit herausrückte. »Sie haben einen Feind, John.«

»Einen Feind?«

»Einen Feind. Es gibt jemand, der Sie umbringen will.«