ELF


»Ich weiß nicht«, sagte er zu Dot.

»Du weißt nicht? Was gibt es da zu wissen, Keller? Was willst du eigentlich? Es ist in Boston, nicht auf der Rückseite des Monds. Du nimmst dir ein Taxi zum La Guardia, du steigst in den Delta Shuttle, du musst nicht mal im Voraus buchen, und eine halbe Stunde später landest du am Logan. Du nimmst dir ein Taxi in die Stadt, du machst das, was du am besten kannst, und bevor der Tag zu Ende ist, sitzt du wieder im Shuttle und bist rechtzeitig zu Hause, um Jay Leno zu schauen. Die Bezahlung stimmt, der Kunde ist absolut zuverlässig, und der Job ist kinderleicht.«

»Das ist mir alles klar, Dot.«

»Aber?«

»Ich weiß nicht.«

»Irgendwas verschweigst du mir doch, Keller. Hilf mir also auf die Sprünge. Was von ›Ich weiß nicht‹ verstehe ich nicht?«

Ich weiß nicht, hätte er fast geantwortet, verkniff es sich aber gerade noch rechtzeitig. In der Highschool hatte eine Lehrerin die Klasse wegen dieser Redewendung einmal ins Gebet genommen. »So, wie ihr ›Ich weiß nicht‹ verwendet«, hatte sie gesagt, »ist es eine Lüge. Es ist nicht, was ihr meint. Was ihr meint, ist, ›Ich will es nicht sagen‹ oder ›Ich habe Angst, es zu sagen‹.«

»Hey, Keller«, hatte darauf einer der anderen Jungen gerufen. »Was ist die Hauptstadt von South Dakota?«

Und er hatte geantwortet: »Ich habe Angst, es zu sagen.«

Und was genau wollte er Dot nicht erzählen? Dass der Auftrag in Boston nicht in den Sternen stand? Dass der kommende Mittwoch, der Tag, den der Kunde als optimal bezeichnet hatte, der Tag war, den seine Astrologin – seine Astrologin! – ausdrücklich als gefährlich bezeichnet hatte, ein Tag, an dem ihm große Gefahr drohte.

(»Was soll ich dann an solchen Tagen tun?«, hatte er Louise gefragt. »Bei verschlossenen Türen im Bett bleiben? Mir alle Mahlzeiten nach Hause liefern lassen?« »Ersteres hielte ich nicht für die schlechteste Idee«, hatte sie gesagt, »aber ich wäre vorsichtig, wer auf der anderen Seite der Tür ist, bevor ich sie öffne. Und ich würde auch aufpassen, was ich esse.« Der Junge aus dem chinesischen Restaurant konnte ein Ninja-Killer sein, dachte er. Das Rindfleisch mit Austernsoße konnte mit Zyankali versetzt sein.)

»Keller?«

»Die Sache ist, dass Mittwoch ungünstig für mich ist. Da habe ich schon was vor.«

»Hast du Karten für eine Matinee, oder was?«

»Nein.«

»Nein, natürlich nicht. Eine Briefmarkenauktion also, hm? Die Sache ist nur, Mittwoch ist der Tag, an dem die Zielperson in die Wohnung seiner Freundin in Black Bay fährt, und das muss er heimlich tun, also ohne seine Bodyguards. Deshalb ist das mit Abstand der beste Tag, um an ihn ranzukommen.«

»Und ist sie inbegriffen, die Freundin?«

»Das bleibt dir überlassen. Ja nachdem, was für dich einfacher ist.«

»Und das Wie ist egal? Es muss kein Unfall sein, es muss nicht wie eine Hinrichtung aussehen?«

»Auch das bleibt dir überlassen. Du kannst den Dreckskerl in einem Fass mit Lanolin einweichen, bis er sich nicht mehr rührt. Das Einzige, was zählt, ist, dass er nicht mehr atmet, wenn du mit ihm fertig bist.«

Schwer, bei so einem Auftrag nein zu sagen, dachte er. Auch schwer, Ich weiß nicht zu sagen.

»Ich schätze, der nächste Mittwoch müsste gehen«, sagte Dot. »Der Kunde möchte lieber nicht warten, aber vermutlich wird er es, wenn er muss. Er hat gesagt, ich wäre die Erste, die er angerufen hat. Aber das glaube ich nicht. Er ist einer von denen, denen nicht wohl dabei ist, mit Frauen Geschäfte zu machen. Geschäfte wie unsere zumindest. Deshalb würde ich sagen, ich war eher die Vierte oder Fünfte, die er angerufen hat, und ich glaube, er wird eine Woche warten, wenn ich ihm sage, dass es nicht anders geht. Möchtest du, dass ich mal vorfühle?«

Wollte er wirklich im Bett liegen und warten, dass ihn der böse schwarze Mann holte?

»Nein, nicht nötig«, sagte er. »Nächsten Mittwoch ist okay.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ich bin sicher.« Er war sich zwar nicht sicher, er war sich nicht einmal annähernd sicher, aber es hörte sich besser an als Ich weiß nicht.

 
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Am Dienstag, einen Tag, bevor er nach Boston fliegen sollte, verspürte Keller das starke Bedürfnis, Louise Carpenter anzurufen. Es war ein paar Wochen her, dass sie sein Horoskop mit ihm durchgesprochen hatte, und er sollte sie erst in einem Jahr wieder aufsuchen. Er hatte gedacht, es würde wie eine Therapie mit wöchentlichen Sitzungen, und er wusste, dass einige ihrer Kunden sie regelmäßig für einen astrologischen Kundendienst mit Ölwechsel aufsuchten. Aber er nahm an, dass für diese Leute die Astrologie so etwas wie ein Hobby war. Er hatte bereits ein Hobby, und Louise schien einen jährlichen Check für ausreichend zu halten, was ihm nur recht war.

Deshalb würde er sie erst in einem Jahr wieder aufsuchen – falls er dann noch am Leben war.

 
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Der Wetterbericht sagte für Mittwoch reichlich Regen voraus, und beim Aufwachen sah Keller, dass sie keine Witze gemacht hatten. Es war ein trister, grauer Tag, und es regnete in Strömen. Dem Ansager von New York One schien das richtig peinlich zu sein, und er verkündete, die starken Regenfälle würden bei kräftigem Wind und niedrigen Temperaturen bis zum Abend anhalten. Das sagte er so, als wäre es seine Schuld.

Keller zog Anzug und Krawatte an, was in einer förmlichen Stadt wie Boston eine gute Tarnung und im Air Shuttle das Standardoutfit war. Er nahm den Trenchcoat aus dem Schrank, zog ihn an und war nicht begeistert, als er sich kurz im Spiegel begutachtete. Der Verkäufer hatte den Mantel als oliv bezeichnet, und im Neonlicht des Ladens war er das vielleicht auch gewesen. Im kalten, diesigen Licht eines verregneten Morgens sah das blöde Ding allerdings grün aus.

Nicht kleeblattgrün, nicht grasgrün, nicht einmal apfelgrün. Aber grün war er, ohne Frage. Man konnte damit am St. Patrick’s Day die Fifth Avenue hinaufmarschieren, und niemand würde einen für einen Oranier halten. Wie man es auch drehte und wendete, das blöde Ding war grün.

Unter normalen Umständen hätte ihn die Farbe des Mantels nicht gestört. Er war nicht so grün, dass man blöd angesehen wurde, aber grün genug, um gelegentlich einen anerkennenden Blick auf sich zu ziehen. Außerdem hatte es durchaus seine Vorteile, einen Mantel zu haben, der nicht aussah wie jeder anderer an der Garderobe. Man erkannte ihn auf den ersten Blick, und man konnte ihn der Garderobiere zeigen, wenn man seine Marke nicht finden konnte. »Der dort«, konnte man sagen. »Der grüne, links von Ihnen.«

Aber wenn man nach Boston flog, um einen Mann umzubringen, wollte man nicht aus der Menge herausstechen, sondern wie alle anderen aussehen. In seinem unscheinbaren Anzug und der Krawatte sah Keller wie alle anderen aus.

In seinem Mantel dagegen stach er heraus.

Konnte er den Mantel weglassen? Nein, dafür war es zu kalt, und in Boston war es bestimmt noch kälter. Sollte er den anderen Mantel nehmen, den unauffälligen beigen? Nein, der war nicht wasserdicht, und er würde total durchnässt. Er würde einen Regenschirm mitnehmen, aber viel würde der auch nicht nützen, nicht bei dem starken Wind, der den Regen fast waagrecht durch die Luft peitschte.

Und wenn er sich einen neuen Mantel kaufte?

Das war lächerlich. Außerdem müsste er warten, bis die Geschäfte aufmachten, und dann bräuchte er bestimmt eine Stunde, um den neuen Mantel auszusuchen und den alten in die Wohnung zurückzubringen. Und wozu auch? In Boston würde es keine Zeugen geben, und jeder, der ihn zufällig das Haus betreten sah, würde sich nur an den Mantel erinnern.

Und das war vielleicht sogar ein Plus. Etwa so, wie wenn man eine Briefträgeruniform anzog oder einen Priesterkragen anlegte oder sich als Santa Claus verkleidete. Die Leute erinnerten sich an das, was man anhatte, aber das war auch schon alles. Niemandem fiel irgendein anderes besonders Kennzeichen an einem auf. Wie zum Beispiel der Daumen. Sobald man die Uniform oder den Kragen oder den roten Anzug und den Bart ablegte, war man unsichtbar.

Normalerweise hätte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Aber es war ein ominöser Tag, einer der Tage, vor denen ihn seine mütterliche Astrologin gewarnt hatte. Deshalb konnte es nicht schaden, auf jede Einzelheit zu achten.

War das nicht lächerlich? Er hatte einen Feind, und dieser Feind versuchte, ihn zu töten, und an diesem speziellen Tag war das Risiko besonders groß. Und er hatte den Auftrag, einen Mann zu töten, und das war unausweichlich mit Gefahren verbunden.

Und da machte er sich Gedanken, welchen Mantel er anziehen sollte? Dass er zu auffällig grün war? Geht’s noch?

Was soll der Quatsch, sagte er sich. Bring’s einfach hinter dich.

 
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Ein Taxi brachte ihn zum La Guardia und ein Flugzeug zum Logan, und ein weiteres Taxi setzte ihn vor dem Ritz-Carlton Hotel ab. Er durchquerte das Foyer, kam in der Newberry Street wieder nach draußen und machte sich auf die Suche nach einem Sportgeschäft. Er fand jedoch keines. Vielleicht war die Newberry Street auch nicht der geeignete Ort dafür. Antiquitäten, Lederwaren, Designerklamotten, Döschen aus Limoges-Porzellan – das war, was man hier kaufte, aber keine Polartec-Sweater und keine Kletterausrüstung.

Auch keine Jagdmesser. Wenn man hier in Back Bay eines bekam, hatte es wahrscheinlich einen Elfenbeingriff und eine Klinge aus Sterlingsilber – und auf dem Preisschild stand eine dreistellige Zahl. Er war sicher, dass es ein schönes Objekt wäre und jeden Cent seines Preises wert, aber wie ginge es ihm damit, es in einem Gully zu entsorgen, wenn er es nicht mehr brauchte?

Und überhaupt, war es wirklich eine so gute Idee, in einer großen Stadt an einem verregneten Frühlingstag unter der Woche ein Jagdmesser zu kaufen? Die Jagdsaison war schon – wie lang? – sieben oder acht Monate vorüber? Wie viele Jagdmesser würden an diesem Tag in Boston verkauft? Wie viele von ihnen würden von Männern in grünen Trenchcoats gekauft?

Er ging in ein Schreibwarengeschäft und suchte einen Brieföffner mit einer stabilen verchromten Stahlklinge und einem intarsierten Onyxgriff aus. Die Verkäuferin packte ihn, ohne zu fragen, in eine Geschenkbox. Anscheinend konnte sie sich nicht vorstellen, dass jemand einen solchen Gegenstand für sich selbst kaufen könnte.

Und in gewisser Hinsicht hatte Keller das auch nicht getan. Er hatte ihn für Alvin Thurnauer gekauft, und jetzt wurde es Zeit, ihn ihm zu bringen.

 
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So hieß die Zielperson, Alvin Thurnauer, und Keller hatte ein Foto eines großen, kräftigen Manns, Typ Naturbursche, mit dichtem hellbraunem Haar bekommen. Außer dem Foto hatte er vom Auftraggeber eine Adresse in der Exeter Street und zwei Schlüssel erhalten, einen für die Haustür und einen für die Wohnung im ersten Stock, in der Thurnauer und seine Freundin »Endlich Dienstag« spielen würden.

In der Regel tauchte Thurnauer gegen zwei Uhr auf, hatte Dot gesagt, und um halb zwei postierte sich Keller in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite. In Boston war die Luft etwas kälter und der Wind etwas steifer als in New York, aber der Regen war etwa genauso stark. Obwohl Kellers Mantel wasserdicht und sein Regenschirm noch nicht umgestülpt worden war, blieb er nicht vollständig trocken. Das war unmöglich bei diesem Regen, den einem Gott persönlich ins Gesicht zu klatschen schien.

Vielleicht war das die drohende Gefahr. Man stand an einem unheilvollen Tag in Boston im Regen und holte sich eine tödliche Erkältung.

Aber er ließ sich nicht unterkriegen, und kurz vor zwei hielt vor dem Haus ein Taxi, und ein Mann stieg aus. Wegen seines Huts und seines Mantels, keiner von beiden grün, war er kaum zu erkennen. Kellers Puls schlug schneller. Es hätte Thurnauer sein können – aber genauso gut jemand anders –, und der Mann schaute eine Weile auf das richtige Haus, bevor er sich abwandte und die Straße hinunterging. Als er ein paar Häuser weiter war, hörte Keller auf, ihn zu beobachten, und zog sich wieder in das Dunkel des Hauseingangs zurück, um auf Thurnauer zu warten.

Der erschien auf die Minute pünktlich. Auf Kellers Uhr war es genau zwei Uhr, und da war der Kerl, leicht zu erkennen, als er aus dem Taxi stieg, weil er keinen Hut aufhatte. Sein brauner Haarschopf war unverwechselbar. Ein Blick genügte.

Sollte er es gleich erledigen?

Machbar war es. Bloß weil er die Schlüssel hatte, hieß das nicht, dass er sie benutzen musste. Er brauchte nur über die Straße zu flitzen und würde Thurnauer erreichen, bevor er dazu kam, die Haustür zu öffnen. Ihm an Ort und Stelle den Garaus machen, ihn in den Vorraum schieben, wo niemand ihn sehen konnte, und sich aus dem Staub machen. Alles nur eine Frage von wenigen Sekunden.

Außerdem bräuchte er sich wegen der Freundin keine Gedanken zu machen. Aber es konnte andere Zeugen geben, vorbeikommende Passanten, ein melancholischer Mitbürger, der am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte. Und er fiel bestimmt auf, wenn er in seinem grünen Mantel über die Straße rannte. Und der Brieföffner war noch in der Geschenkbox. Er müsste es also mit bloßen Händen tun.

Und bis er das alles abgewogen hatte, war die Gelegenheit verstrichen und Thurnauer im Haus verschwunden.

Alles nur halb so wild. Wenn schon ein Seitensprung Thurnauer das Leben kosten sollte, sollte er wenigstens die Gelegenheit erhalten, ihn noch zu genießen. Statt die Sache zu überstürzen, beschloss Keller, Thurnauer dreißig, vierzig Minuten zusätzliche Lebenszeit zu gönnen und sich selbst eine Tasse Kaffee.

 
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An der Essenstheke – ein ganz kleines Bisschen fühlte sich Keller wie die einsamen Leute auf seinem Edward-Hopper-Poster – merkte er, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er, was ungewöhnlich für ihn war, das Frühstück ausgelassen.

Na ja, es war ja auch sein Hochrisikotag. Lungenentzündung, Hungertod – der Gefahren waren viele.

Das Essen musste warten. Dafür reichte die Zeit nicht, außerdem arbeitete er nicht gern mit vollem Magen. Es machte einen träge, verlangsamte die Reflexe, beeinträchtigte das Urteilsvermögen. Besser, er wartete und genehmigte sich hinterher eine richtige Mahlzeit.

Während sein Kaffee kalt wurde, ging er auf die Toilette, nahm den Brieföffner aus seiner Schachtel und warf sie weg. Dann steckte er den Brieföffner in seine Jackentasche, wo er schnell an ihn rankam. Schneiden konnte man damit nichts, dafür war die Klinge zu stumpf, aber die Spitze war sehr scharf. War sie allerdings auch spitz genug, um mehrere Schichten Kleidung zu durchdringen? Nur gut, dass er sich zu keiner spontanen Aktion hatte hinreißen lassen. Besser, er wartete, bis Thurnauer Mantel, Sakko und Hemd abgelegt hatte. Dann war es für den Brieföffner einfacher.

Er trank seinen Kaffee aus, schlüpfte in seinen grünen Mantel, griff nach seinem Regenschirm und verließ das Lokal, um die Sache zu Ende zu bringen.