FÜNFZEHN


Keller verdrückte die letzte Gabel Omelett mit dem letzten Bissen Toast und beobachtete, wie ihm die Bedienung Kaffee nachschenkte. Er war nicht sicher, ob er mehr Kaffee wollte, aber es war einfacher, ihn stehen zu lassen, als die Bedienung davon abzuhalten, ihm nachzuschenken. Das Lokal warb mit Schildern, auf denen Kaffeetassen ohne Boden abgebildet waren. Damit hatte Keller, der beigebracht bekommen hatte, seinen Teller leer zu essen, gewisse Schwierigkeiten. Man konnte seinen Kaffee nicht austrinken, sie ließen einen seinen Kaffee nicht austrinken, sie schenkten einem nach, bevor die Tasse leer war. Für Leute in Geldnöten war das vielleicht gut, aber ihn störte es.

Und die Teetrinker? Er fand, dass sie massiv benachteiligt wurden. Wenn man seinen Tee ausgetrunken hatte, schenkten sie einem heißes Wasser nach, aber einen neuen Teebeutel bekam man nicht. Wahrscheinlich reichte ein Teebeutel auch für eine zweite Tasse Tee, wenn man nichts gegen schwachen und geschmackslosen Tee hatte, aber bei einer dritten Tasse wurde es kritisch. Ein Kaffeetrinker dagegen konnte literweise Kaffee trinken, der von der ersten Tasse bis zur letzten immer gleich stark war.

Aber seit wann war das Leben fair?

 
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»Es sieht gut aus«, hatte Dot gesagt. »Der Mittelsmann, mit dem ich gesprochen habe, hat direkten Kontakt zum Kunden, und laut ihm bin ich die erste Person, die er angerufen hat. Wir bekommen einen Namen und eine Adresse und ein Foto, und an der Gepäckausgabe des O’Hare wird niemand auf dich warten. Wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass unser Freund ebenso wenig von diesem Auftrag weiß wie Klinger.«

»Klinger?«

»Der Typ in Lake Forest, zu dem du hallo und tschüss sagen wirst. Er ahnt nichts von seinem Glück. Und du wirst auch nicht lange auf der Hut sein müssen.«

»Nur hin und wieder auf meine Umgebung achten.«

Zurück in seiner Wohnung, warf Keller als Erstes einen kurzen Blick in das Horoskop, das Louise Carpenter für ihn erstellt hatte. Die gefährliche Phase, die ihren Höhepunkt bei seinem Abstecher nach Boston erreicht hatte, war vorüber. Jetzt lagen mehrere relativ unbedenkliche Monate vor ihm, zumindest was die Sterne anging. Im Sommer konnte es wieder gefährlich werden, aber bis dahin war es noch eine Weile.

Trotzdem war das kein Grund, leichtsinnig zu werden. Lake Forest, Illinois, lag nördlich von Chicago am Lake Michigan und war am einfachsten zu erreichen, wenn man zum O’Hare Airport flog. Keller flog jedoch nach Milwaukee, nahm sich einen Leihwagen und quartierte sich in einem Motel fünfzehn Minuten nördlich von Lake Forest ein.

Er ließ sich Zeit. Der Kunde hatte es nicht eilig, und Klinger würde sich nicht aus dem Staub machen, sondern weiterhin fünf Tage die Woche jeden Morgen ins Büro fahren und am Abend wieder nach Hause. Keller beobachtete ihn und hielt gleichzeitig nach jemandem Ausschau, der in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper wirkte. Falls sich Roger irgendwo herumtrieb, wollte ihn Keller als Erster sehen.

 
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Keller schaute auf die Uhr. Die Zeit reichte noch, um seinen Kaffee auszutrinken, aber wieso sollte er? Die Bedienung würde ihm bloß wieder nachschenken, und bevor ihr der Kaffee ausging, ginge ihm die Zeit aus. Er bezahlte, gab ein anständiges Trinkgeld und ging zu seinem Leihwagen. Zwanzig Minuten später hielt er in der Rugby Road, einer Vorortstraße wie aus dem Bilderbuch. Sie war von alten Laubbäumen gesäumt, die einem Gemälde von Declan Niswander hätten entsprungen sein können. Sein Augenmerk galt einem weißen Holzhaus mit dunkelgrünen Fensterläden, das etwa hundert Meter vor ihm lag. Er stand mit laufendem Motor am Straßenrand und hatte einen Stadtplan über das Lenkrad gebreitet, damit jeder, der vorbeikam, dächte, er versuchte, sich zu orientieren.

Aber er wusste, wo er war, und er wusste, dass er nicht lang warten müsste. Lee Klinger war ein Gewohnheitstier und hielt sich mit ähnlicher Zuverlässigkeit an seinen geregelten Tagesablauf, wie die Bedienung die Kaffeetassen nachgefüllt hatte. Er nahm fünf Tage die Woche den 8:11-Uhr-Zug nach Chicago, und wenn es das Wetter zuließ, ging er zu Fuß zum Bahnhof und verließ das Haus um 7:48 Uhr.

Man konnte die Uhr nach dem Kerl stellen.

Prompt sah Keller, der seine Uhr nach dem Autoradio gestellt hatte, zur erwarteten Uhrzeit die Seitentür des Hauses aufgehen. Klinger, der an diesem Morgen einen dunkelbraunen Anzug trug und eine rotbraune Aktentasche bei sich hatte, ging die Einfahrt zur Straße hinunter und bog nach links. An der nächsten Ecke überquerte er, sobald die Ampel auf Grün schaltete, die Culpepper Lane und wartete erneut auf die Ampel, um die Rugby Road zu überqueren. Da nirgendwo ein Auto zu sehen war, hätte er ohne weiteres bei Rot über die Kreuzung gehen können – sogar diagonal, dachte Keller, um beide Straßen in einem Aufwasch zu überqueren. Aber in den drei Tagen, die er Lee Klinger gefolgt war, hatte er ihn gut genug einzuschätzen gelernt, um zu wissen, dass er so etwas nicht täte. Er wartete auf die Ampel und überquerte die Straßen so, wie man sie überqueren sollte.

Keller fragte sich, wer den Mann aus dem Weg geräumt haben wollte und warum. Aber eigentlich wollte er es nicht wirklich wissen. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass es besser war, diese Dinge nicht zu wissen, auch wenn es unmöglich war, diesbezüglich keine Spekulationen anzustellen. Ein Konkurrent? Jemand, der mit Mrs. Klinger ins Bett ging? Jemand, mit dessen Frau Klinger ins Bett ging?

So, wie Keller den Mann einschätzte, konnte er sich das nicht so recht vorstellen. Doch was wusste er schon über Klinger? So gut wie nichts. Er war pünktlich, er hielt sich an die Verkehrsregeln, er trug Anzüge, und jemand wollte ihn beseitigt haben. Höchstwahrscheinlich war deutlich mehr an Klinger, aber das war alles, was Keller wusste – und wissen musste.

Keller fuhr los. Sobald Klinger die Straße überquert hatte, wollte auch er über die Kreuzung fahren, dann aber eine andere Strecke zum Vorortbahnhof nehmen. Und dann? Was er dann machen würde, wusste er noch nicht. Vielleicht bot sich ihm auf dem Bahnsteig eine Gelegenheit, wenn Klinger auf den Zug wartete. Oder im Zug oder in Chicago. Aber vielleicht auch nicht. In Chicago gab es mehrere Briefmarkenhändler, alle in der Loop, wo man sie zu Fuß erreichen konnte, und er hatte den Katalog dabei, der ihm als Bestandsliste diente. Er konnte die Runde bei ihnen machen und ein paar Marken kaufen. Dot zufolge spielte die Zeitfrage keine Rolle. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kam es nicht an.

Die Ampel schaltete um, und ein Auto, das auf die Kreuzung zufuhr, verlangsamte sein Tempo. Klinger begann, die Straße zu überqueren. Plötzlich beschleunigte das andere Auto wieder und machte einen abrupten Satz nach vorn, wie ein angreifendes Raubtier. Klinger blieb nicht einmal genügend Zeit, um wie angewurzelt stehen zu bleiben, geschweige denn auszuweichen. Das Auto erwischte ihn mitten in der Bewegung und schleuderte ihn und die Aktentasche in hohem Bogen durch die Luft. Bevor Keller begriff, was da vor seinen Augen geschah, war es bereits vorbei, und Klinger bekam gar nicht mit, wie ihm geschah.

 
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»Okay«, sagte Dot. »Ich gebe auf. Wie hast du das hinbekommen?«

»Ich habe nichts weiter getan, als zuzusehen«, sagte Keller. »Und nicht einmal das richtig. Ich bin Klinger gefolgt, aber da ich bereits wusste, wohin er wollte, habe ich nicht groß auf ihn geachtet.«

»Langsam nervt dieser Roger wirklich«, sagte Dot. »Er hat sein Vorgehen geändert. Statt den Killer auszuschalten, schlägt er jetzt vor ihm zu.«

»Roger kann es nicht gewesen sein, höchstens Rogeretta.«

»War es denn eine Frau?«

»Eine kleine alte Lady. Im Moment des Zusammenstoßes dürfte sie an die hundert gefahren sein. Sie hatte einen Olds, das Modell von letztem Jahr, eine große Limousine.«

»Aber es war nicht der Oldsmobile deines Vaters.«

»Sie hat gesagt, mit dem Wagen hat was nicht gestimmt. Sie ist auf die Bremse getreten, aber er ist nur schneller gefahren.«

»Dann war es eindeutig nicht der Oldsmobile deines Vaters.«

»So was kommt häufig vor«, sagte Keller, »bei allen möglichen Autos. Der Fahrer steigt auf die Bremse, und der Wagen beschleunigt, statt langsamer zu werden. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass die Fahrer ausnahmslos fortgeschrittenen Alters sind.«

»Und es liegt wahrscheinlich nicht an der Bremse.«

»Nein, sie glauben, auf die Bremse zu steigen, aber in Wirklichkeit ist es das Gas. Darauf geraten sie in Panik und steigen noch fester auf das Pedal, damit die Bremse endlich wirkt, aber das Auto fährt immer schneller. Wozu das dann führt, haben wir gesehen.«

»Mit fatalen Folgen für Klinger.«

»Als die Ampel auf Rot geschaltet hat«, fuhr Keller fort, »ist sie vom Gas gegangen und langsamer gefahren. Klinger hat begonnen, die Straße zu überqueren, und als sie dann auf die Bremse treten wollte … den Rest kennen wir.«

»Jedenfalls ist Klinger jetzt tot«, sagte Dot.

»Ich habe es kommen sehen, und ich muss gestehen, ich war richtig geschockt.«

»Du, Keller?«

»Ich habe einen Menschen sterben sehen.«

Sie bedachte ihn mit einem Blick. »Keller, du siehst ständig Menschen sterben. Und normalerweise bist du die Todesursache.«

»Das war was anderes. Es kam so unerwartet. Und es war ganz schön brutal.«

»Brutal ist es normalerweise immer, Keller. Das müsstest du eigentlich am besten wissen.«

»Aber in diesem Fall hatte ich nicht das Geringste damit zu tun«, sagte er. »Ich habe nur in meinem Auto gesessen und zugeschaut. Dann sind die Cops gekommen und …«

»Und du warst immer noch da?«

»Ich dachte, wegzufahren könnte riskanter sein. Du weißt schon, sich unerlaubterweise vom Unfallort entfernen. Auch wenn ich nicht am Unfall beteiligt war.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie haben meine Aussage zu Protokoll genommen und mich weitergewinkt. Ich habe gesagt, ich hätte nicht wirklich was gesehen, und sie hatten einen anderen Zeugen, der alles mitbekommen hat, und es war eigentlich sonnenklar, was passiert war. Außer dass die alte Dame immer noch glaubt, es wäre die Schuld des Autos gewesen und nicht ihre.«

»Aber wir wissen, wie es wirklich war«, sagte sie. »Und der Kunde auch.«

»Der Kunde?«

»Er hält dich für ein Genie, Keller. Er glaubt, du hättest dir was einfallen lassen und alles so arrangiert, dass Klinger der alten Frau vors Auto läuft.«

»Aber …«

»Der Kunde hat immer recht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Vor allem, wenn er zahlt, was dieser prompt getan hat. Wie aus der Pistole geschossen, könnte man fast sagen. Der Auftrag ist erledigt, der Kunde ist zufrieden, und wir haben unser Geld. Siehst du etwa irgendwo ein Problem, Keller? Ich nämlich nicht.«

Er dachte nach.

»Keller? Was hast du gemacht, nachdem Klinger plattgewalzt worden ist?«

»Er wurde nicht plattgewalzt. Er ist in hohem Bogen durch die Luft geflogen und …«

»Erspar mir die Details. Ich weiß, dass du geblieben bist und brav deine Aussage zu Protokoll gegeben hast. Aber was hast du danach gemacht?«

»Ich bin nach Hause geflogen. Aber nicht sofort. Vorher war ich noch bei zwei Briefmarkenhändlern in Milwaukee.«

»Und hast ein paar Marken für deine Sammlung gekauft.«

»Klar, nachdem ich schon mal da war. Außerdem bestand kein Grund, möglichst bald nach Hause zu fliegen.«

»Klar. Und inzwischen ist das Geld eingetroffen, und du kannst dir noch mehr Marken kaufen. Ist irgendwas, Keller? Du wirkst ein bisschen bedripst, obwohl das eigentlich nicht am Jetlag liegen dürfte, wenn du aus Milwaukee zurückkommst.«

»Nein, nein, mir fehlt nichts«, sagte er. »Es ist nur alles ein bisschen seltsam. Mehr nicht.«