SIEBZEHN


»Ist schon eine Weile her«, sagte Maggie Griscomb.

Sie waren in ihrem Loft in der Crosby Street. Kellers Sachen waren ordentlich zusammengelegt auf der Couch, die von Maggie lagen in einem schwarzen Haufen auf dem Boden. Aus der Stereoanlage kam Musik, irgendwas schräges Elektronisches. Keller konnte sich nicht vorstellen, welche Instrumente es waren, geschweige denn, warum sie so gespielt wurden.

»Ich dachte schon, du würdest dich nicht mehr melden«, sagte sie. »Aber dann hast du angerufen. Und da bist du.«

Da war er, in ihrem Bett, und unter dem Deckenventilator verdampfte sein Schweiß.

»Ich war verreist«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Woher?« Er gab sich große Mühe, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen, als er sie ansah. »Woher wusstest du, dass ich verreist war?«

»Du hast es mir gesagt.«

»Ich habe es dir gesagt?«

»Vor zwei Stunden – oder wann du eben angerufen hast. ›Hi, ich bin’s, ich war verreist.‹«

»Ach so.«

»Jedenfalls irgendwas dieses Inhalts. Erinnerst du dich jetzt wieder?«

»Klar«, sagte er. »Ich war nur kurz ein bisschen verwirrt, mehr nicht.«

»Noch ganz weggetreten vom Liebesakt.«

»Offensichtlich.«

Sie drehte sich auf die Seite und legte ihr spitzes Kinn auf seine Brust. »Du dachtest wohl, ich spioniere dir nach.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Doch, doch. Du dachtest, ich hätte schon gewusst, dass du verreist warst, bevor du es mir erzählt hast.«

Das hatte er tatsächlich gedacht. Und deshalb waren die Alarmglocken bei ihm losgegangen.

»Aber dem war nicht so«, sagte sie. »Sonst hätte ich nicht gedacht, unsere oberflächliche Beziehung wäre zu Ende. Dann hätte ich gedacht: ›Er ruft schon an, wenn er wieder zurück ist.‹«

Vielleicht lag es an der Musik, dachte er. Hätten sie sie in einem Film gespielt, hätte man darauf gewartet, dass etwas passiert. Irgendwas Gruseliges, wenn es ein Horrorfilm gewesen wäre. Irgendwas Unerwartetes, wenn es irgendein Film gewesen wäre.

»Oder vielleicht auch nicht.« Ihre Augen waren so dicht an seinen, dass es unmöglich war, in ihnen zu lesen oder auch nur in sie zu schauen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen. Er wollte die Augen schließen, aber durfte man das, wenn einen jemand so ansah? War das nicht unhöflich?

»Fast hätte ich dich angerufen, Keller. Vor ein paar Tagen. Du hast mir deine Nummer nicht gegeben.«

»Du hast mich ja auch nicht danach gefragt.«

»Stimmt. Aber ich habe Anrufererkennung auf meinem Telefon, und deshalb habe ich deine Nummer. Oder hatte sie zumindest.«

»Hast du sie verloren?«

»Als ich dich fast angerufen hätte, habe ich sie nachgesehen. Aber dann ist mir klar geworden, dass man das nicht macht, wenn eine Beziehung oberflächlich bleiben soll. Deshalb habe ich deine Telefonnummer verbrannt.«

»Du hast sie verbrannt?«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe sie in lauter winzige Fitzel zerrissen und wie Konfetti aus dem Fenster geworfen. Und das waren sie vermutlich auch, denn was sind Konfetti anderes als kleine Papierfitzel?«

Ihm kam ein Bild von einer Truppe Polizeitechniker in den Sinn, die winzige Papierfetzen wie ein Puzzle zusammensetzten, bis seine Telefonnummer sichtbar wurde.

»Ich fange an, dich zu langweilen«, sagte sie. »Gib’s ruhig zu. Heute Abend hast du mich nur angerufen, weil dir nach Sex war.«

Er öffnete bereits den Mund, um die Behauptung zu widerlegen, überlegte es sich aber anders und sagte stirnrunzelnd: »Was anderes machen wir doch auch nicht.«

»Da hast du allerdings recht.«

»Warum hätte ich dich also sonst anrufen sollen?«

»Stimmt.« Sie löste sich von ihm. »Da hast du nicht ganz unrecht. Warum hättest du sonst anrufen sollen?«

»Ich meine …«

»Ich weiß, was du meinst. Und die Regeln habe ich aufgestellt, oder? Ich kann dir sagen, oberflächliche Beziehungen sind genauso schwer aufrechtzuerhalten wie die andere Sorte. Ich werde dich nicht wiedersehen, oder?«

»Also …«

»Nein«, sagte sie bestimmt, »und es ist auch besser so. Du mit deiner ganz in Schwarz gekleideten Downtwon-Künstlerin, die komische Musik hört. Ich mit meinem zugeknöpften Businesstypen-Lover, der irgendwo in Uptown wohnt. Ich weiß nicht mal, wo du wohnst.«

Das ist auch gut so, dachte Keller.

»Wenn ich deine Telefonnummer nicht für eine Konfettiparade zweckentfremdet hätte, wäre das natürlich problemlos herauszufinden. Ich müsste die Nummer bloß in einem Invers-Telefonbuch nachschlagen. So was Blödes aber auch.«

»Was hast du denn plötzlich?«

»Du hast mich vor ein paar Stunden angerufen. Wahrscheinlich nicht von einer Zelle aus, oder?«

»Nein.«

»Du hast aus deiner Wohnung angerufen.«

»Klar.«

»Und ich habe schon gewusst, dass du es bist, bevor ich abgenommen habe. Weißt du noch, wie ich mich gemeldet habe? ›Wer ruft denn da an?‹ Als ob ich gewusst hätte, wer es war. Oder hast du gedacht, ich melde mich am Telefon immer so?«

»Darüber habe ich mir eigentlich keine Gedanken gemacht«, sagte er.

»Vielleicht sollte ich das künftig immer machen. Es würde die Telefonverkäufer verunsichern. Jedenfalls habe ich deine Nummer auf dem Display gesehen und sofort erkannt. Ich habe sie mir nie bewusst gemerkt, trotzdem habe ich sie sofort erkannt, als ich sie gesehen habe.«

»Und?«

»Seitdem hat niemand mehr angerufen. Das heißt, die Nummer ist immer noch in meiner Anrufererkennung gespeichert. Ich brauche nur den Hörer abzunehmen, und schon erscheint deine Nummer auf dem Display. Deshalb, tu mir einen Gefallen. Ruf mich an, sobald du an einer Telefonzelle vorbeikommst. Dann ist, egal, von wo du anrufst, diese Nummer auf meiner Anrufererkennung, und deine richtige Nummer wird gelöscht und macht mein Leben nicht mehr unnötig kompliziert.«

Die Musik, fand er, war keineswegs das Eigenartigste, was hier gerade lief. Seine Telefonnummer? Sie machte ihr Leben kompliziert? »Okay«, sagte er vorsichtig. »Wenn du meinst.«

»Am besten, du rufst gleich von der Zelle unten an der Ecke an. Damit du es nicht vergisst.«

»Okay.«

»Und das Allerbeste wäre«, fügte sie hinzu, »wenn du dich sofort anziehen und losgehen und anrufen würdest.«

»Wenn du unbedingt meinst«, sagte er. »Aber hat das nicht Zeit? Kann ich das nicht machen, wenn ich nach Hause gehe?«

»Geh jetzt gleich nach Hause und ruf an.«

»Okay.«

»Oder geh sonst wohin. Zwischen uns ist es aus, Keller. Deshalb ist es das Beste, du schaffst deine Nummer von meinem Telefon und verlierst meine Nummer, und wir gehen wieder getrennter Wege. Wie hört sich das an?«

Er war nicht sicher, ob sie auf ihre Frage eine Antwort erwartete, aber ihm fiel auch keine ein. Er stand auf, zog sich an und verließ ihr Loft, und dann rief er sie von einer Bar an der Ecke Broadway und Bleecker an.

Sie nahm sofort ab und sagte ohne lange Vorrede: »Es war echt schön mit dir, aber alles geht mal vorbei.« Und hängte auf.

Keller, der das Gefühl hatte, irgendwas nicht richtig mitbekommen zu haben, suchte sich in der Bar einen Platz und setzte sich. Die Klientel war gemischt – Downtown-Typen, Uptown-Typen, Typen von auswärts. Die Bar machte eine junge Chinesin mit langen, schnurgeraden, dotterblumengelben Haaren und einem Nasenring, wie ihn heutzutage fast jeder hatte. Keller fragte sich, wie so etwas hatte Mode werden können.

Er hörte, wie jemand einen Black Russian bestellte. Er hatte vor Jahren mal einen getrunken und konnte sich nicht mehr erinnern, ob er ihm geschmeckt hatte oder nicht. Er ließ sich von der gelbhaarigen Chinesin einen machen, nahm einen Schluck davon und stellte fest, dass er es Jahre aushalten würde, bevor er sich wieder einen bestellte.

Keller hörte eine Weile der Nummer zu, die gerade in der Musikbox lief, und dabei wurde ihm bewusst, dass sich Maggies letzter Satz wie eine Songzeile anhörte. Sie hatte ihn in normalem Gesprächston gesagt, ohne jede Ironie und ohne die spezielle Betonung, mit der man etwas sagte, wenn es sich dabei um ein Zitat handelte. Und er hatte es erst jetzt gemerkt. Es war schön mit dir. Aber alles geht mal vorbei.

Ich war verreist, hatte er gesagt. Ich weiß, hatte sie gesagt.

Und es hatte ihn in den Fingern gejuckt.

Hatte sie etwas geahnt? Hatte sie gemerkt, wie wenig in diesem Moment gefehlt hatte, dass sich seine Hände um ihren Hals legten?

Nach einigem Nachdenken gelangte er zu der Überzeugung, dass sie es nicht gemerkt hatte, jedenfalls nicht bewusst. Aber vielleicht hatte sie auf einer tieferen Ebene etwas wahrgenommen, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie ihn, die Glut ihres Liebesakts war noch nicht einmal ganz erloschen, aus ihrer Wohnung und ihrem Leben geworfen hatte.

Die Macht seiner Gedanken war groß. Warum sollte sie da nichts gespürt haben?

Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Drink. Irgendwo da draußen war ein Mann, den sie Roger nannten und auf dessen Abschussliste er stand. Nicht namentlich – Roger wusste seinen Namen ebenso wenig, wie er den von Roger wusste. Aber Roger hatte ihn schon zweimal zu töten versucht und würde es höchstwahrscheinlich wieder versuchen.

Wusste Roger überhaupt, dass er es beide Male auf denselben Mann abgesehen gehabt hatte, in Louisville und in Boston? Und wusste er, dass er beide Male den Falschen getötet hatte?

Wenn dem so war, hätte es Keller nicht gewundert, wenn Roger das Ganze allmählich persönlich nahm, wie Wile E. Coyote in einem Road-Runner-Trickfilm.

Keller wusste, dass es nicht persönlich gemeint war. Wie auch, wenn man die Person, die man umbringen wollte, gar nicht kannte? Trotzdem, er selbst schien es persönlich zu nehmen, wenn sich Roger in seine Gedanken schlich.

Was nicht allzu oft der Fall war. Die Tage vergingen, und er bemerkte nichts Auffälliges, wenn er sich umblickte, und er dachte nicht mehr an Roger. Und ab und zu schickte ihn Dot mit einem Auftrag los, und dann achtete er wieder verstärkt auf seine Umgebung und dachte öfter an Roger. Doch dann kam er von dem Job zurück, ohne Roger oder sonst jemandem etwas getan zu haben, und der Kunde zahlte, und damit hatte es sich.

Und dann hatte er Maggie erzählt, er sei verreist gewesen, und sie hatte gesagt, das wüsste sie, und er hatte kurz davor gestanden, sie zu packen und ihr das Genick zu brechen. Einfach so.

Er hatte sie, wie gebeten, angerufen, um seine Nummer auf ihrer Anrufererkennung mit der Nummer des Münztelefons zu überschreiben. Aber funktionierte Anrufererkennung überhaupt so? Speicherte sie immer nur eine Nummer? Er selbst hatte keine auf seinem Telefon. Da er sich nicht vorstellen konnte, wozu das gut sein sollte, kannte er sich damit nicht aus. Und selbst wenn es so war, wie sie gesagt hatte, woher wollte er wissen, dass sie nicht sofort nach dem Telefon gegriffen hatte, sobald er zur Tür hinaus gewesen war? Sie könnte sich die Nummer vom Display notiert haben, bevor er angerufen hatte, um sie zu löschen.

Sie war, machen wir uns nichts vor, eine ziemlich schräge Nummer. Das hatte ursprünglich einen Teil ihres Reizes ausgemacht, diese Downtown-Durchgeknalltheit, obwohl dieser Reiz, wenn er ehrlich war, mit der Zeit etwas nachgelassen hatte. Trotzdem ließ sich unmöglich sagen, was die Frau tun würde.

Wenn sie seine Nummer hatte, konnte sie seine Adresse herausbekommen. Sie hatte selbst das Invers-Telefonbuch erwähnt. Demnach wusste sie, dass es so etwas gab und dass man damit die Adresse von jemand herausfinden konnte, wenn man seine Telefonnummer wusste. Wenn sie das alles wusste, und seinen Namen kannte sie natürlich auch schon, hatte sie sie vielleicht von Anfang an gewusst …

Das hieß aber nicht, dass sie wusste, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Angenommen, sie hatte seine Reaktion intuitiv richtig gedeutet, angenommen, sie hatte irgendwie gespürt, dass er kurz davor gestanden hatte, ihr die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken. Andererseits hatte er aber auch nichts gemacht. Nicht einmal wütend reagiert hatte er, geschweige denn mordgierig. Sobald er zur Tür hinaus gewesen war, sobald festgestanden hatte, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte, hatte sie sich diese beängstigenden Gedanken bestimmt wieder aus dem Kopf geschlagen.

Oder doch nicht?

 
• • •
 

Zurück in seiner Wohnung, beschäftigte er sich ein paar Minuten mit seiner Briefmarkensammlung, bevor er alles wegpackte und den Fernseher anmachte. Er zappte zwei-, dreimal durch alle Kanäle und bearbeitete die Fernbedienung, bis seine Hand müde wurde. Er drückte mit dem Daumen auf die Powertaste, und der Bildschirm wurde dunkel. Dann saß er in dem spärlichen Licht, das durchs Fenster hereinfiel, da und schaute auf die Fernbedienung in seiner Hand – und auf seinen Daumen.

Maggie wusste, dass er einen Mörderdaumen hatte. Sie war es gewesen, die ihn darauf aufmerksam gemacht hatte.

Vielleicht fiel es ihr wieder ein, und sie brachte es mit dem in Zusammenhang, was sie gespürt hatte, als er beinahe die Hände nach ihr ausgestreckt hätte. Und vielleicht kalkulierte sie mit ein, dass er schon so jung in Rente war, aber gelegentlich verreiste, um für nicht näher genannte Auftraggeber spezielle Aufträge zu erledigen. Und vielleicht tauchte in einer Schlagzeile oder einem Film oder einer Fernsehsendung, die sie sah, ein Auftragskiller auf. Und vielleicht bekam sie große Augen und stellte den Zusammenhang her und merkte, was er war?

Und dann?