EINUNDZWANZIG


Am vorigen Wochenende war Keller in einem Hotel am Bahnhof abgestiegen, doch dann hatte er eine Frühstückspension in Fell’s Point entdeckt, die einen netten Eindruck machte und deutlich günstiger gelegen war. Er hatte am Abend zuvor ein Zimmer reserviert und traf Freitagabend kurz nach 21 Uhr dort ein. Es war fast Mitternacht, als er von einer Zelle um die Ecke in White Plains anrief.

»Ich bin in Baltimore«, sagte er.

»Na, wunderbar«, sagte Dot. »Jeder muss wo sein. Und da du in Baltimore was zu tun hast …«

»Nein, dieses Wochenende nicht.«

»Ach?«

»Unsere Freundin ist verreist. Sie ist an der Ostküste.«

»Sind wir das nicht alle? New York ist doch auch an der Ostküste, genau wie Baltimore und alle Stellen dazwischen.«

Es war ein Teil von Maryland, erklärte er Dot, eine Art Halbinsel auf der anderen Seite der Chesapeake Bay. Und das war, wo sich Irene Macnamara gerade aufhielt und bis Montagmorgen bleiben würde.

»Zu welchem Zeitpunkt du wieder in einem muffigen Gerichtssaal sitzen wirst«, sagte Dot. »Es sei denn, du machst deiner alten Tante Dorothy eine große Freude und berichtest ihr, der Prozess ist zu Ende.«

»Wie stellst du dir das vor? Er hat doch gestern Morgen erst begonnen.«

»Es gibt immer das Zaubermittel eines Deals. In diesem Fall wohl nicht, hm?«

»Nein.«

»War es ein Handtaschenräuber, Keller? Wirst du dafür sorgen, dass dieser kleine Dreckskerl seine verdiente Strafe erhält?«

»Ich soll nicht über den Fall sprechen.«

»Sag das noch mal, Keller.«

»Wieso, ist plötzlich die Verbindung so schlecht? Ich habe gesagt …«

»Ich weiß, was du gesagt hast.«

»Warum willst du dann, dass ich es wiederhole?«

»Damit du es selbst hören kannst, Keller. Überleg mal, was du gerade gesagt hast und wem du es gesagt hast. Und denk an all die Dinge, die du nicht tun solltest, darunter auch, was du dieses Wochenende nicht tun kannst, weil jemand an die Ostküste gefahren ist.«

»Dieser Cop hat sich einen Videorekorder gekauft.«

»Wahrscheinlich keine schlechte Idee, Keller. Diese armen Teufel machen jede Menge Überstunden und fahren manchmal Doppelschichten. Wie sollen sie sonst bei ihren Lieblingssoaps nicht ins Hintertreffen geraten? Die einzige Lösung ist, die Sendungen aufzunehmen und später anzuschauen.«

»Er war gestohlen.«

»Das heißt, er muss sich einen anderen kaufen. Er war doch hoffentlich versichert.«

»Hör zu, es ist schon spät, Dot. Ich rufe dich morgen noch mal an.«

»Ich werde mich zusammenreißen«, sagte sie. »Ehrenwort. Der Cop hat einen gestohlenen Fernseher gekauft. Jetzt ist die Frage wahrscheinlich, hat er gewusst, dass er gestohlen war, als er ihn gekauft hat.«

»Nur deshalb hat er ihn gekauft. Der Typ, der ihn ihm verkauft hat, wusste nicht, dass er ein Cop ist, und jetzt steht er wegen Hehlerei vor Gericht.«

»Hört sich nach einem klaren Fall an.«

»Wenn der Cop die Wahrheit sagt.«

»Und? Tut er das deiner Meinung nach?«

»Keine Ahnung. Wir haben die Aussage des Cops noch gar nicht gehört.«

»Wie bitte?«

»Wir haben noch so gut wie nichts zu hören bekommen. Die Anwälte führen ständig private Unterredungen, und wie ich die Sache sehe, geht es in erster Linie um die Frage, was wir zu hören bekommen sollen und was nicht. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass die Geschworenen diejenigen sind, die am wenigsten wissen, was eigentlich Sache ist.«

»Tja, das ist unser großartiges Rechtssystem.«

»Offensichtlich. Der Richter hat gesagt, wir dürfen Zeitung lesen und fernsehen, aber wenn etwas über den Prozess kommt, müssen wir aufhören weiterzulesen.«

»Oder auf einen anderen Sender schalten.«

»Genau.«

»Ein Typ verkauft einem Cop einen gestohlenen Videorekorder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Hauptbeitrag bei Live at Five wird. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, verkriechst du dich in Baltimore. Oder hast du vor, früher nach Hause zu kommen?«

»Ich habe das Zimmer gebucht. Da kann ich genauso gut bleiben.«

»Je länger du dich dort aufhältst, desto mehr Aufmerksamkeit erregst du.«

»Wenn ich frühzeitig aus dem Gasthaus abreise, errege ich auch Aufmerksamkeit.«

»Du wohnst in einem Gasthaus?«

»Na ja, eher ist es so eine Art Frühstückspension.«

»Ist sie urig?«

»Sie ist nett«, sagte er. »Was urig in diesem Zusammenhang bedeuten soll, ist mir nicht so recht klar.«

»Das hängt ganz davon ab, wie man es sagt. Ich bin müde, Keller. Ich gehe jetzt schlafen.«

Er legte auf. Auch er war müde, und sein Himmelbett hatte sehr einladend gewirkt, obwohl man nicht mehr mitbekam, dass es ein Himmelbett war, sobald man die Augen geschlossen hatte.

Urig.

Nach kurzem Überlegen ging er in die andere Richtung los, fort von der Pension. So müde war er auch noch nicht, und am Morgen konnte er schlafen, so lang er wollte. Es sprach also nichts gegen einen Absacker im Counterpoint.

 
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Am Montag sagte Gloria beim Mittagessen: »Willst du wissen, was ich am Wochenende gemacht habe? Du hältst mich bestimmt für komplett verrückt.«

»Du hast einen Bungee-Sprung vom World Trade Center gemacht.«

»Fast. Ich habe auf der Couch gesessen und Court TV geschaut.«

»Bungee-Jumping wäre verrückter gewesen.«

»Und vor allem auch aufregender. Als ob ich nicht schon unter der Woche genug von diesem Müll mitbekäme. Weißt du, was ich getan habe?«

»Hast du mir doch gerade erzählt.«

»Nein, was ich damit eigentlich bezweckt habe, wenn ich ganz ehrlich bin. Es hat eine Weile gedauert, bis ich es gemerkt habe. Ich habe gehofft, zufällig-absichtlich einen Bericht über unseren Fall zu sehen.«

»Unbewusst, meinst du.«

»Ja, zuerst unbewusst, aber dann bewusst, weil ich gemerkt habe, was ich getan habe, und es weiter getan habe. Du weißt natürlich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie bei Court TV ihre Zeit mit unserem Fall verschwenden. Es ist nicht gerade der Postraub.« Sie schob sich eine Gabel von dem, was sie gerade aßen, in den Mund. »Und natürlich haben sie auch nichts darüber gebracht. Sie haben ja nicht mal Kameras im Gerichtssaal, glaube ich.«

»Ich habe jedenfalls keine gesehen.«

»Als ich zu Hause erzählt habe, dass ich als Geschworene eingeteilt worden bin, war das Erste, was meine Schwägerin gesagt hat, dass ich dann vielleicht im Fernsehen komme. Du weißt schon, wenn sie einen Schwenk auf die Geschworenen machen. Was sie eigentlich nicht tun sollen, aber wen interessiert das schon? Außerdem, was hat man davon, wenn man kurz auf ein paar Millionen Fernsehschirmen zu sehen ist?«

»Das macht es real«, sagte Keller. »Du siehst eine Frau, deren Baby von einem Kojoten gefressen wurde, und ein Reporter hält ihr ein Mikrophon unter die Nase und fragt, wie es ihr damit geht.«

»Und statt ihm zu sagen, er soll sich verpissen, was die normale menschliche Reaktion wäre …«

»Beantwortet sie die Frage und teilt ihren Schmerz mit der Welt. Die Leute glauben, dass sie das tun sollen. Sie glauben, man soll sich die Gelegenheit, im Fernsehen zu kommen, auf keinen Fall entgehen lassen, weil es seinem persönlichen Erlebnis besondere Bedeutung verleiht.«

»Das sind ja richtig tiefschürfende Gedanken. Aber weißt du, was? Ich glaube, du hast recht.«

 
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Am nächsten Tag sagte sie: »Ich habe mit meinem Schwager über Mr. Bittner gesprochen und dass ihm ständig die Augen zufallen.«

»Mhm.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er ein Geschworener ist, und ich habe auch seinen Namen nicht erwähnt. Jedenfalls hat er gemeint, es könnte damit zusammenhängen, dass Mr. Bittner krankhaft adipös ist.«

»Adipös?«

»Das ist der medizinische Fachbegriff für fett. Mein Schwager ist nämlich Rettungssanitäter.«

Fett war der Mann, dachte Keller, das auf jeden Fall. Sogar fett genug, um eine eigene Postleitzahl zu haben. Aber wieso krankhaft? Bekam man Depressionen, wenn man so viel Gewicht mit sich herumschleppte? Überlegte man stundenlang, wie viele Männer nötig wären, um seinen Sarg zu tragen?

»Vielleicht ist er einfach nur müde«, sagte Keller. »Vielleicht kann er nachts nicht schlafen, weil ihn die Verantwortung, über einen Mitmenschen zu Gericht zu sitzen, zu stark belastet.«

»Oder er langweilt sich schlicht und einfach zu Tode. Es ist doch wirklich langweilig, oder etwa nicht?«

»Manchmal ist es ganz interessant«, sagte Keller, »aber diese Momente sind eher selten. Meistens ist es, als sähe man Wasser beim Verdunsten zu.«

»An einem schwülen Tag. Die Anwälte kauen alles mit einer Gründlichkeit durch, dass man am liebsten losschreien würde. Sie stellen immer wieder die gleichen Fragen. Sie müssen wirklich eine hohe Meinung von den Geschworenen haben.«

»Es ist nicht wie im Fernsehen.«

»Nein, sonst würde man auf der Stelle ausschalten. Nimm nur mal Law and Order . Die zwei Cops schnappen den Typen in den ersten dreißig Minuten, und bevor die Stunde um ist, hat ihn Sam Waterston hinter Schloss und Riegel gebracht. Aber unser Staatsanwalt braucht länger, um lediglich rauszufinden, welche Marke der fragliche Videorekorder ist.«

»Court TV ist realistischer.«

»Wenn sie live berichten. Sonst zeigen sie nur den Teil, in dem sich was tut. Und selbst bei der Live-Berichterstattung schneiden sie die langweiligen Passagen raus.« Sie rührte in ihrem eisgekühlten Kaffee. »Wahrscheinlich sollten wir über so was nicht reden.«

»Keine Angst«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich bin nicht verkabelt.«

Sie sah ihn an, dann lachte sie schallend los. Und legte ihre Hand auf seine.

 
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»Der Cop ist ein Schwarzer«, erzählte er Dot, »und der Angeklagte ein Weißer. Ich glaube nicht, dass ich das schon erwähnt habe.«

»Du und die Justiz«, sagte sie. »Beide farbenblind.«

»Zuerst«, sagte er, »haben wir es nicht gewusst. Vom Angeklagten wussten wir es natürlich schon, denn er hat die ganze Zeit mit seinen Anwälten im Gerichtssaal gesessen, ein Weißer, ein gewisser Huberman, um die Fünfzig, ziemlich verlebt, miserables Toupet.«

»Hast du schon mal ein Toupet gesehen, das nicht miserabel war?«

»Jedenfalls, den Cop haben wir erst zu sehen bekommen, als er in den Zeugenstand gerufen wurde und die Anklage mehr oder weniger schon alles unter Dach und Fach hatte. Und dann zeigt sich, dass er schwarz ist. Und der Dieb ist auch ein Schwarzer.«

»Eben hast du noch gesagt, er ist ein Weißer.«

»Nein, nicht der Angeklagte. Der Dieb, der Typ, der den Videorekorder gestohlen und Huberman verkauft hat. Er ist ein Zeuge der Anklage, und er und der Cop sind beide Afro-Amerikaner.«

»Und?«

»Na ja, das erklärt einiges über das Vorgehen bei der Auswahl der Geschworenen. Die große Frage dabei war, ob wir glauben, dass Cops lügen oder dass sie die Wahrheit sagen. Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass Weiße mehr Vertrauen in die Polizei haben als Schwarze.«

»Was du nicht sagst, Keller. Warum wohl?«

»Genau. Deshalb könnte man meinen, die Anklage will weiße Geschworene und die Verteidigung schwarze.«

»Schon klar. Wenn der Angeklagte ein Weißer ist und der Cop ein Schwarzer, ist es genau anders rum.«

»Bloß glaube ich nicht, dass jemand so recht weiß, wie weit sich dann alles anders herum verhält. Wirklich blöd, dass mir das nicht schon vor der Auswahl der Geschworenen klar war. Das wäre nämlich wirklich interessant zu beobachten gewesen. Denn für die Anklage wäre der ideale Geschworene ein Schwarzer, der eine hohe Meinung von Polizisten hat, und für die Verteidigung ein Weißer, der keine hohe Meinung von ihnen hat.«

»Schwarzer, Weißer. Habt ihr denn keine Frauen dabei?«

»Sieben der zwölf Geschworenen sind Frauen. Und eine der zwei Ersatzleute.«

»Und das Verhältnis von Schwarz und Weiß.«

»Vier Weiße und drei Schwarze, und beide Ersatzleute sind schwarz.«

»Da fehlen aber noch ein paar, Keller.«

»Plus drei Latinos und zwei Asiaten.«

»Unter welche Kategorie fallen sie denn, was ihr Vertrauen in die Polizei angeht?«

»Keine Ahnung.«

»Wie werden die Geschworenen deiner Meinung nach entscheiden?«

»Auch da kann ich nur sagen: keine Ahnung. Ich würde nicht mal eine Prognose wagen.«

»Und du? Wie wirst du entscheiden?«

»Darüber sollte ich eigentlich nicht sprechen.«

»Keller …«

»Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Tatsächlich? Du weißt nicht, ob er schuldig ist oder nicht?«

»Nein, das steht völlig außer Frage«, sagte er. »Natürlich ist er schuldig. Du brauchst den Kerl nur anzusehen und weißt, dass er Dreck am Stecken hat. Wahrscheinlich hat er schon auf der Highschool Wetten auf Footballspiele angenommen. Und Diebesgut verkauft er, seit er von der Schule abgegangen ist.«

»Aber hast du nicht gerade gesagt …«

»Und dabei berücksichtige ich noch nicht mal die Zeugenaussage, die wir noch nicht zu hören bekommen haben. Zum Beispiel hat uns niemand gesagt, was sie in Hubermans Wohnung gefunden haben.«

»Vielleicht haben sie ja gar nichts gefunden.«

»Dann hätte das die Verteidigung zur Sprache gebracht. ›Meine Damen und Herren Geschworenen, mein Mandant soll angeblich ein Hehler sein. Zugleich gesteht der Staatsanwalt jedoch ein, dass der als Beweismittel Nummer eins der Anklage eingeführte Videorekorder der einzige gestohlene Gegenstand im Besitz des Angeklagten war. Halten Sie das nicht auch für einen erstaunlichen Zufall?‹ Allerdings hat niemand auch nur mit einem Wort erwähnt, was bei der Wohnungsdurchsuchung gefunden wurde, und das kann nur heißen, dass alles voller Fernseher und Videorekorder und Camcorder war und dass der Richter die Durchsuchung für unrechtmäßig und deshalb als Beweismittel für nicht zulässig erklärt hat.«

»Trotzdem, wenn du weißt, der Mann ist schuldig …«

»Aber haben sie es bewiesen? Wurde er vielleicht hereingelegt?«

»Na und, wen interessiert das schon? Weißt du, was ich glaube, Keller? Der Typ ist ein Hehler, und der Cop hat ihm den Videorekorder für sich selbst abgekauft. Und dann ist er sauer geworden, weil er das blöde Ding nicht programmieren konnte, und hat den Kerl verhaftet. Glaubst du nicht auch?«

»Ich glaube, es ist wirklich schade, dass du keine Geschworene bist.«

 
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»Das Kreuzverhör war ganz schön brutal«, sagte Gloria.

Clifford Mapes, der Officer, der die Festnahme vorgenommen hatte, war den ganzen Vormittag im Zeugenstand gewesen. Keller sagte, er hätte nur darauf gewartet, dass Mapes der Kragen platzt.

»Ich habe darauf gewartet, dass er in Tränen ausbricht. Ich weiß, ich weiß, Cops weinen nicht. Aber wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, wären mir die Tränen gekommen.«

»Vielleicht wäre das eine gute Strategie gewesen«, sagte Keller. »Vielleicht hätte es Nierstein aus dem Konzept gebracht.«

Nierstein war der Leiter des Verteidigerteams, ein trügerisch sanftmütig aussehender Mann mit extrem hoher Stirn. Wenn er jedoch einen feindlichen Zeugen befragte, entpuppte er sich als brutale Bulldogge.

»Ich sähe nur zu gern, wie er aus dem Konzept gebracht wird«, sagte Gloria. »Oder aus dem Fenster gestürzt.«

»Du magst ihn wohl nicht besonders.«

»Ich finde ihn richtig widerwärtig.«

»Alles nur Show. ›Ich bin keineswegs ein fieser Sack, ich tue vor Gericht nur so.‹«

»Dann sollte er einen Emmy kriegen«, sagte sie. »Und sie einen Einlauf.«

»Wer? Sheehy?«

»Mhm. Ich kann jetzt schon sagen, dass sie ihn am Nachmittag noch mal in den Zeugenstand ruft.«

»Was anderes bleibt ihr doch gar nicht übrig.«

»Schon. Wir sollen uns zwar nicht von unserer persönlichen Abneigung oder Sympathie für die Anwälte beeinflussen lassen, aber wie willst du das vermeiden? Zum Glück sind mir beide gleich unsympathisch, insofern gleicht es sich aus. Ehrlich gestanden, mag ich niemand von den Prozessbeteiligten. Die übrigen Geschworenen sind ziemliche Trottel, und der Gerichtsdiener ist ein selbstgefälliger Idiot. Nur Mapes tut mir leid, aber er ist auch nicht gerade der Hellste, hm? Und Huberman tut mir auch leid, weil ihm der Prozess gemacht wird, und außerdem hat er Familie. Andererseits ist der Kerl ein Gauner. Ob er nun schuldig ist oder nicht, er ist ein Gauner.«

»Du freust dich wohl schon auf das Ende des Prozesses.«

»Und dass ich wieder zurück ins Büro kann? Es ist ein Job, nicht mehr und nicht weniger. Glaub mir, die Arbeit im Büro reißt mich auch nicht gerade vom Hocker.« Sie senkte den Blick. »Und zu Hause ist es auch nicht so berauschend.«

»Oh.«

»Aber mit der eigenen Ehe verhält es sich ähnlich wie mit unserem Prozess«, fuhr sie fort. »Man soll mit anderen nicht darüber reden. Aber zumindest so viel muss ich sagen: So wahnsinnig toll ist es nicht.«

»Vielleicht wird es besser.«

»Ach ja, klar. Oder ich gewöhne mich daran. Aber weißt du, worauf ich mich bis dahin freue?«

»Auf die Wochenenden? Nein, du hast ja gerade gesagt, dass es zu Hause auch nicht so super ist.«

»Nein, auf die Wochenenden sicher nicht. Aufs Mittagessen, fünf Tage die Woche, hier im Saigon Pearl. Das ist, worauf ich mich zurzeit freue.«

 
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Am späten Freitagvormittag erklärte die Anklage ihre Beweisführung für abgeschlossen, und als sie nach der Mittagspause weitermachten, beantragte die Verteidigung einen Freispruch. Das war die gängige Vorgehensweise, und der Richter lehnte den Antrag ab, was ebenso vorhersehbar war. Dann erklärte Nierstein, die Verteidigung verzichte darauf, ihre Argumente vorzubringen, da es der Anklage erwiesenermaßen nicht gelungen sei, irgendetwas zu beweisen. Der Richter sagte ihm, sich das für sein Schlussplädoyer aufzusparen, und forderte beide Anwälte auf, ihre Plädoyers am Montagmorgen zu halten. Er erteilte den Geschworen die üblichen Anweisungen – sprechen Sie mit niemandem, lesen Sie keine Zeitungsmeldungen über den Fall und so weiter und so fort. Keller hätte es inzwischen Wort für Wort mit ihm herunterbeten können.

Es gab einen Zusatz. Dieses Mal legte der Richter den Geschworenen nahe, sich darauf einzustellen, dass sie am Montag übernachten müssten. Sobald sie sich zur Beratung zurückgezogen hätten, erklärte er ihnen, würden sie so lange sequestriert, bis sie zu einem Urteil gelangt wären. Die Stadt würde für ihr Hotelzimmer aufkommen, aber für Zahnpasta und Rasierzeug und frische Kleider reichte die Großzügigkeit der Stadt nicht, weshalb sie das alles mitbringen sollten.

»Du hast schon alles dabei«, sagte Gloria, als sie das Gerichtsgebäude verließen. Sie deutete mit dem Kopf auf Kellers Aktenkoffer. »Da sind doch sicher Socken und Unterwäsche und ein frisches Hemd drin.«

»Und ein Buch zum Lesen«, sagte er. »Alles, was ich für ein Wochenende brauche.«

»Doch hoffentlich ein romantisches?«

Er schüttelte den Kopf. »Ein Neffe von mir heiratet. Für ihn ist es daher schon ein romantisches Wochenende – oder zumindest hoffe ich das. Für mich fällt es unter die Kategorie familiäre Verpflichtungen.«

 
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Er kam am frühen Sonntagabend aus Baltimore zurück. Nachdem er lange in der Badewanne gelegen hatte, rief er bei einem Chinesen an und bestellte etwas zu essen. Er legte auf, nahm aber sofort wieder ab. Ihm war danach, jemand anzurufen. Dot? Nein, Dot nicht, irgendjemand anders.

Aber wen? Gloria? Sie konnte er nicht anrufen, selbst wenn er es wollte, und er war nicht sicher, ob er es wollte. Maggie? Nein, diese alte Geschichte wollte er auf keinen Fall wieder aufwärmen. Er wollte sich mit niemand treffen, wollte auch nicht wirklich ein Gespräch mit jemand führen, er hatte nur das Gefühl, dass er gern eine gewisse Rückmeldung von jemand gehabt hätte. Ihm fiel nur niemand ein, der dafür in Frage kam. Er war seltsam rastlos, merkte er, fast so, als ob Vollmond wäre, obwohl der Mond gar nicht voll war, soviel er wusste.

Oder vielleicht doch? Er ging ans Fenster, konnte aber den Mond, ob nun voll oder sonst was, nirgendwo sehen. Er konnte nach draußen gehen und nachsehen, aber sein chinesisches Essen konnte jeden Moment geliefert werden. So etwas konnte man wahrscheinlich im Bauernkalender nachsehen, aber die einzige Ausgabe, die er hatte, war fünf Jahre alt. Er hatte danach nie mehr einen gekauft und konnte sich auch nicht erinnern, was ihn dazu veranlasst hatte, ihn das erste Mal zu kaufen.

Er hatte sich eine Zeitung gekauft, sie aber im Zug liegengelassen. Wahrscheinlich stand dort etwas über die Mondphasen, wenn nicht im Wetterbericht, dann wahrscheinlich im Horoskop.

Louise Carpenter. Sie konnte er anrufen. Wenn sonst schon nichts, konnte sie ihm zumindest sagen, ob gerade Vollmond war.

War es zu spät, um sie anzurufen? Er fand, nicht. Er sah ihre Nummer nach und wählte sie. Sie ging nicht dran, und auch ihr Anrufbeantworter schaltete sich nicht ein. Er versuchte es ein zweites Mal – vielleicht hatte er sich verwählt –, aber wieder ohne Erfolg, und dann kündigte die Türglocke die Ankunft seines Abendessens an.

Nach dem Essen beschäftigte er sich mit den Marken, die ihm die Händlerin aus Maine ein paar Tage zuvor zugeschickt hatte. Er suchte sich ein paar davon aus, ordnete sie in seine Alben ein und schrieb einen Scheck aus.

Er fügte ihm eine kurze Nachricht bei. »Liebe Beatrice, danke für die schöne Auswahl. Ich habe mir ein paar Marken ausgesucht und lege einen Scheck über $ 72,20 bei. Ich bin zum Geschworenendienst eingeteilt, darf aber nicht über den Fall sprechen. Aber Du kannst mir glauben, es würde Dich auch nicht interessieren!« Er setzte seine Unterschrift darunter und steckte den Zettel, den Scheck und die Marken, die er nicht wollte, in den Rückumschlag. Dann ging er nach unten und warf ihn im Briefkasten an der Ecke ein. Er war wieder im Haus zurück, bevor er an den Mond dachte, aber es schien ihm nicht der Mühe wert, noch mal rauszugehen und nach ihm zu sehen.

Zurück in seiner Wohnung, machte er es sich vor dem Fernseher bequem. Gegen Mitternacht ließ er die Badewanne einlaufen und nahm ein weiteres heißes Bad. Bevor er sich schlafen legte, packte er ein neues frisches Hemd und Unterwäsche und Socken in seinen Aktenkoffer.