ZWEIUNDZWANZIG


Der Sprecher, den sie gewählt hatten, hieß Milton Simmons. Er war groß, Mitte/Ende vierzig, und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Morgan Freeman. Keller vermutete, dass sie ihn deshalb gewählt hatten. Morgan Freeman besaß eine gewisse moralische Autorität. Egal, ob er einen Guten oder einen Bösen spielte, wusste man, dass man sich auf ihn verlassen konnte.

»So«, sagte Simmons gerade. »Als Erstes müssen wir uns darüber klar werden, wie wir die Sache angehen. Die entscheidende Frage ist vermutlich: Hat die Anklage den Nachweis für ihre Anschuldigungen erbracht?«

»Ohne jeden begründeten Zweifel«, sagte jemand, und viele Köpfe nickten.

Keller saß wie auf Kohlen, er konnte es nicht erwarten, zur Sache zu kommen. Die Schlussplädoyers hatten sich fürchterlich gezogen, und Keller fand, dass keiner der Anwälte besonders gut gewesen war. Nierstein war als Erster an der Reihe gewesen. Er hatte die Beweisführung der Anklage Punkt für Punkt zerpflückt und dabei ständig zwischen rationaler Sachlichkeit und beißendem Sarkasmus gewechselt. Danach hatte Sheehy, die Staatsanwältin, genauso lang gebraucht, um alles wieder geradezurücken.

Zum Schluss hatte sich der Richter in ermüdender Ausführlichkeit an die Geschworenen gewandt. Als ob sie Kinder – und noch dazu nicht besonders helle – wären, sagte er immer wieder das Gleiche, bis endlich alle zwölf aus dem Saal geführt und eingeschlossen wurden. Und da waren sie nun, mit der ganzen Last der Verantwortung, über die weiteren Geschicke eines Mitmenschen zu entscheiden.

»Ich habe den Eindruck«, begann eine Frau und beließ es dabei, als es klopfte und der Gerichtsdiener hereinkam. Er wurde gefolgt von zwei schlanken jungen Männern, die mit der Anmut von Tänzern zwei Tabletts hereintrugen und auf einen Tisch an der Wand stellten.

»Der Staat New York lädt sie zum Essen ein«, verkündete der Gerichtsdiener. »Es gibt Putensandwiches, nur weißes Fleisch, und es gibt Schinken- und Käsesandwiches, mit Schweizer Käse. Ich habe mich im Voraus erkundigt, ob Vegetarier unter Ihnen sind, aber niemand hat sich gemeldet. Trotzdem habe ich zur Sicherheit ein paar Erdnussbuttersandwiches beigefügt. Dazu gibt es Kaffee, Eistee und Diet Coke sowie Wasser, falls Mormonen unter Ihnen sind. Lassen Sie es sich schmecken.«

Er folgte den zwei jungen Männern aus dem Zimmer. Das Schweigen, das darauf eintrat, wurde schließlich von Morgan Freeman gebrochen. »Ich schlage vor, wir essen erst mal. Reden können wir dann später.«

Keller nahm sich ein Schinken-Käse-Sandwich und ein Glas Eistee. Als sich herausstellte, dass niemand ein Erdnussbuttersandwich wollte, nahm er sich auch davon eins. Das Mittagessen verlief eigenartig. Niemand sagte etwas, und bis auf das Summen der Klimaanlage und das resolute Kauen von zwölf Kieferpaaren herrschte vollkommene Stille. Als alle fertig gegessen hatten, schlug eine Frau vor, den Gerichtsdiener zu rufen und das Essen wegbringen zu lassen. Mr. Bittner, der beim Eintreffen des Essens sichtlich aufgeblüht war, machte geltend, dass der Gerichtsdiener nichts dergleichen gesagt hatte, und plädierte dafür, die Reste für den Fall, dass jemand im Lauf der Beratungen Hunger bekam, auf dem Tisch stehen zu lassen.

Keller schaute Gloria an, die die Augen verdrehte. Eine der Asiatinnen sagte, sie bekäme keinen Bissen mehr hinunter, und der Sprecher sagte, ihm ginge es im Moment genauso, was aber nicht hieße, dass er später nicht noch mal Appetit bekommen könnte. Eine andere Frau sagte, die Sandwiches würden trocken, wenn sie so offen herumlägen, und eine andere führte an, sie würden sowieso nur weggeworfen, wenn sie der Gerichtsdiener abtragen ließ.

»Es ist ja nicht so, dass sie wegen der Hungersnot in Somalia nach Afrika verfrachtet werden«, fügte sie hinzu, und eine Schwarze, die Keller gegenüber saß, runzelte kurz die Stirn, gelangte dann aber offensichtlich zu der Ansicht, dass diese Bemerkung nicht rassistisch war, und ließ die Sache auf sich beruhen.

»Wie sieht es aus?«, fragte Morgan Freeman. »Können wir uns darauf einigen, dass wir Sandwiches und Getränke hier lassen?« Niemand hatte etwas einzuwenden, worauf er lächelnd fortfuhr: »Damit wäre dieses Problem geklärt. Dann können wir uns jetzt der Frage zuwenden, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist.«

»Schuldig oder nicht schuldig«, sagte Gloria.

»Ich nehme alles zurück«, sagte der Sprecher, »und danke auch, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Immerhin hat uns das der Richter zur Genüge eingebläut. Um diesen Mann freizusprechen, müssen wir nicht glauben, dass er unschuldig ist, sondern nur, dass seine Schuld nicht erwiesen worden ist. Hat jemand von Ihnen eine Idee, wie wir an die Sache herangehen sollen?«

Eine Hand ging hoch, sie gehörte einer Mrs. Estévez. Der Sprecher nickte ihr zu und lächelte erwartungsvoll.

»Ich muss auf die Toilette«, sagte die Frau.

Der Gerichtsdiener wurde gerufen. Er brachte die Frau weg. Als er sie zurückbrachte, wurde er von den zwei schlanken jungen Männern begleitet. Niemand sagte etwas, als sie das Essen abtrugen.

 
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»Könnten wir noch mal auf den Videorekorder zurückkommen?«, sagte Gloria.

»Mein Cousin hatte auch so einen«, sagte jemand. »Um Kassetten aus dem Videoverleih abzuspielen, war er okay, aber aufnehmen konnte man damit nichts.«

»Vielleicht konnte er ihn nicht richtig programmieren«, warf jemand ein.

»Nein, daran hat es nicht gelegen. Das Gerät fing an, eine Sendung aufzuzeichnen, aber dann hat es plötzlich von selbst den Sender gewechselt. Es hat gemacht, was es wollte.«

Damit hatte es den Geschworenen schon mal was voraus, fand Keller, denn die wussten offensichtlich nicht, was sie wollten. Sie befassten sich ständig mit Nebensächlichkeiten.

Und jetzt manövrierte Gloria sie auf ein besonders unergiebiges Abstellgleis. Nachdem die Launen von Videorekordern in einiger Ausführlichkeit abgehandelt worden waren, griff sie ein Thema auf, auf dem die Verteidigung lang herumgeritten war. Nierstein hatte mehrere Zeugen aufgerufen, um die Vorgeschichte des Videorekorders, den die Anklage in den Gerichtssaal gebracht hatte, von dem Zeitpunkt an, zu dem ihn Clifford Mapes angeblich vom Angeklagten erworben hatte, bis zum gegenwärtigen Augenblick zu rekonstruieren. Die Anklage hatte keine Mühen gescheut, ihn als Bestandteil einer Lieferung zu identifizieren, die aus einem Price-Club-Lagerhaus auf Long Island gestohlen worden war, und hatte einen Zeugen namens William Gubbins aufgetrieben, der bei dem Diebstahl Schmiere gestanden hatte und den Videorekorder als Teil seines Anteils erhalten hatte. Gubbins hatte ausgesagt, dass er den Videorekorder an den Angeklagten verkauft hatte.

Niersteins Einwand war, dass die Beweiskette korrumpiert sei, weil das Wunderwerk der Elektronik auf dem Tisch mit den Beweisstücken nicht dasselbe Gerät sei, das sein Mandant angeblich von William Gubbins gekauft und angeblich an den verdeckten Ermittler verkauft hatte.

»Erinnern Sie sich noch, was er den Sachbearbeiter in der Asservatenkammer gefragt hat? Er hat ihn gefragt, ob er ihm anvertraute Gegenstände manchmal nach Hause mitnähme?«

»Das hat der Mann verneint«, sagte eine der Asiatinnen, eine Ms. Chin.

»Aber dabei hat es Nierstein nicht belassen«, rief ihnen Gloria in Erinnerung. »Er hat ihn nach einem ganz bestimmten Gegenstand gefragt, einem Camcorder.«

»Weil er wissen wollte, ob sich der Typ die Videokamera nicht vielleicht ausgeliehen hat, um den Kindergeburtstag seiner Tochter zu filmen.«

»Auch das hat er verneint«, konterte Ms. Chin.

Keller erinnerte sich an den Wortwechsel. Der Mann aus der Asservatenkammer, der nach Glorias Ansicht eine wesentlich bessere Figur abgegeben hätte, wenn er fünf Kilo abgenommen und seinen Schnurrbart abrasiert hätte, hatte zugegeben, dass seine Tochter an dem und dem Datum ihren Kindergeburtstag gefeiert hatte, dass er daran teilgenommen hatte und dass er das Ereignis auf Video festgehalten hatte. Er hatte auch zugegeben, zum damaligen Zeitpunkt keine Videokamera besessen zu haben und auch gegenwärtig keine zu besitzen, aber er hatte beharrlich geleugnet, einen Camcorder von der Arbeit mit nach Hause genommen zu haben, und darauf bestanden, die Kamera von seinem Schwager ausgeliehen zu haben. Mit dem Hinweis auf die Irrelevanz dieses Teils der Einvernahme hatte Sheehy Einspruch dagegen erhoben und mit unüberhörbarem Sarkasmus vorgeschlagen, die Verteidigung solle doch beantragen, das Video von dem Kindergeburtstag vor Gericht abzuspielen. Das trug ihr eine Rüge des Richters ein, der dieses Thema offensichtlich interessant genug fand, um ihren Einspruch abzulehnen.

»Also, ich weiß nicht«, sagte Gloria.

»Wir müssen uns an die Zeugenaussage halten«, sagte Mrs. Estévez. »Der Anwalt hat die Fragen gestellt, und der Mann hat sie beantwortet.«

Eigentlich hatte Keller nichts sagen wollen, aber jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. »Woher wusste er überhaupt, dass er diese Frage stellen sollte?« Als alle ihn ansahen, fügte er hinzu: »Woher wusste er von dem Kindergeburtstag, und dass dieser Typ dabei gefilmt hat?«

»Die Kindergeburtstage seiner Kinder nimmt doch jeder auf«, sagte jemand.

Tatsächlich? Wurde jeder Kindergeburtstag aufgezeichnet und dank der Wunder der Videotechnik für immer festgehalten? Sah sich diese Aufnahmen jemals jemand an?

»Er wusste sogar das genaue Datum«, fuhr Keller fort. »Er muss irgendwie mitbekommen haben, dass sich der Typ aus der Asservatenkammer eine Videokamera ausgeliehen hat. Dieser musste natürlich leugnen, dass er sie von seinem Arbeitsplatz mit nach Hause genommen hat, denn es ist gegen die Vorschriften. Bloß weil er es geleugnet hat, heißt das aber nicht, dass es nicht so war.«

»Aber es heißt auch nicht, dass es so war«, gab eine Frau zu bedenken.

»Klar«, sagte Keller. »Letztlich läuft es also darauf hinaus, wem wir glauben.«

»Aber spielt das denn eine Rolle? Von einer Videokamera ist in der Beweisführung der Anklage gar keine Rede. Nur von einem Videorekorder. Wen interessiert es da, ob sich dieser Typ eine Kamera ausgeliehen hat? Niemand hat sie verwendet, und er hat sie in dem Zustand, in dem er sie ausgeliehen hat, wieder zurückgebracht.«

»Damit beginnt sich ein Muster abzuzeichnen«, sagte Gloria.

»Was für ein Muster? Dass er sich, wenn er sich eine Kamera geliehen hat, auch einen Videorekorder ausgeliehen haben muss? Und selbst wenn? Was ist schon dabei, wenn er den Videorekorder mit nach Hause genommen hat – was, nur ganz nebenbei, niemand behauptet hat – und ihn am Tag danach oder eine Woche später wieder zurückgebracht hat? Es ist immer noch derselbe Videorekorder.«

»Außer er hat ihn ausgetauscht«, sagte ein Mann.

Jetzt waren sie nicht mehr zu bremsen. Sie versuchten, eine Erklärung zu finden, warum der Mann aus der Asservatenkammer einen Videorekorder mit nach Hause genommen und gegen einen anderen ausgetauscht haben könnte. »Vielleicht war es das gleiche Modell wie das Ihres Cousins«, sagte ein Mann und nickte in Richtung der Frau, deren Cousins Videorekorder ohne ersichtlichen Grund die Kanäle wechselte. »Vielleicht hatte er ein fehlerhaftes Gerät und hat es deshalb gegen das aus der Asservatenkammer ausgetauscht.«

»Gegen den Videorekorder, den Mapes vom Angeklagten gekauft hat.«

»Von dem Mapes behauptet , ihn vom Angeklagten gekauft zu haben.«

Keller sah Gloria an. Sie lächelte nicht, ihr Gesichtsausdruck war vollkommen neutral, aber er wusste, dass sie begeistert war.

 
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»Acht Schuldig«, verkündete Morgan Freeman. Eigentlich Milton Simmons, dachte Keller, aber Morgan Freeman hätte es nicht besser sagen können. »Drei Nicht-schuldig.«

»Das kann aber nicht sein«, sagte jemand.

»Das sind elf, plus ein leerer Stimmzettel. Da konnte sich wohl jemand nicht entscheiden.« Er runzelte die Stirn. »Diese Abstimmung hat nur dem Zweck gedient, uns einen Eindruck zu verschaffen, wo wir im Moment stehen. Sie müssen sich noch nicht hundert Prozent sicher sein, wie Sie entscheiden werden, deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn Sie noch unschlüssig sind. Will jemand, der für Schuldig gestimmt hat, etwas dazu sagen, warum er sich so entschieden hat?«

»Ich bin einfach nicht davon überzeugt«, meldete sich Gloria zu Wort, »dass die Anklage ihre Anschuldigungen bewiesen hat. Woher soll ich wissen, dass es derselbe Videorekorder ist?«

»Mädchen«, sagte die größte der drei Schwarzen, »was soll das für eine Rechtfertigung sein? ›Das ist nicht der gestohlene Videorekorder, den ich ihm verkauft habe. Ich habe ihm einen anderen gestohlenen Videorekorder verkauft.‹ Gestohlen ist gestohlen, und verkauft ist verkauft.«

»Und was ist mit der Frucht des vergifteten Baums?«

»Das ist was völlig anderes«, sagte Milton Simmons und erklärte, was Anwälte meinten, wenn sie von Früchten des vergifteten Baums sprachen. »Wenn die Polizei die Wohnung von jemandem durchsucht«, führte er als Beispiel an, »und wenn sie dabei auf ein Zimmer voller gestohlener Gegenstände stoßen und wenn die Durchsuchung für unrechtmäßig erklärt wird, dann sind alle Dinge, die sie gefunden haben, und alles, wozu sie geführt haben, Früchte des vergifteten Baums, und wehe dem, der davon kostet. Sprich, es ist als Beweismaterial nicht zulässig.«

»Das haben sie doch bestimmt gemacht«, sagte Keller.

»Was haben sie gemacht?«

»Sein Haus durchsucht. Wenn man jemand wegen Hehlerei verhaftet, durchsucht man doch sein Haus.«

»Vielleicht haben sie nichts gefunden.«

»Dann hätte Nierstein rumgejammert: ›Und haben Sie das Haus meines Mandanten durchsucht, Officer? Und haben Sie dort etwas Belastendes gefunden? Heißt das demnach, Sie möchten uns glaubhaft machen, dass der angeblich von meinem Mandanten verkaufte Videorekorder der einzige angeblich gestohlene Gegenstand war, der sich angeblich in seinem Besitz befunden hat?‹ Da aber niemand etwas von einer Durchsuchung gesagt hat, heißt das, es wurde nicht zugelassen.«

»Da hat wohl jemand mit dem Durchsuchungsbeschluss Mist gebaut«, sagte eine Frau. »Früchte des vergifteten Baums.«

Die Erwähnung von Früchten weckte Mr. Bittners Lebensgeister. »Sie mussten ja unbedingt auf die Toilette«, hielt er Mrs. Estévez vor. »Und jetzt haben wir nichts mehr zu essen.«

»Was hätte sie denn sonst tun sollen?«

»Tut mir leid«, sagte Bittner. »Wenn mein Blutzucker zu stark sinkt, werde ich unausstehlich.«

»Warum haben Sie dann dem Gerichtsdiener nicht gesagt, er soll die Sandwiches hier lassen?«

Und weiter und immer weiter, dachte Keller.

 
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Es klopfte, und bevor jemand reagieren konnte, kam der Gerichtsdiener bereits herein. »Der Richter möchte wissen, wie Sie vorankommen. Glauben Sie, Sie kommen demnächst zu einer Entscheidung?«

»Bei uns hier ist so weit alles klar«, sagte der Sprecher.

»Wir wollen Sie bestimmt nicht zur Eile drängen«, sagte der Gerichtsdiener, »aber es ist schon vier Uhr. Sie haben also noch eine Stunde Zeit, wenn Sie heute Abend nach Hause wollen. Falls Sie bis fünf nicht zu einer Entscheidung gelangt sind, werden Sie über Nacht sequestriert. Das heißt, Sie werden die Nacht auf Kosten der Stadt in einem Hotel verbringen. Es ist zwar nicht das Waldorf, aber ganz okay. Wenn Sie allerdings mich fragen, sind Sie bei sich zu Hause vermutlich besser untergebracht.«

»Wie sieht’s mit Abendessen aus?«, wollte Bittner wissen.

»Das bekommen sie im Hotel.«

»Nein, ich meine jetzt.«

Der Gerichtsdiener bedachte ihn mit einem Blick und verließ den Raum.

»Bei uns zu Hause vermutlich besser untergebracht«, sagte die große Frau, die Gloria »Mädchen« genannt hatte. »Im Klartext: Kneift die Arschbacken zusammen und kommt zu einer Entscheidung. Glaubt denn jemand, dass er es nicht getan hat?«

»Das ist nicht die Frage«, sagte Gloria. »Die Frage ist …«

»… hat es die Anklage bewiesen? Glauben Sie, das weiß ich nicht? Das beten wir schon den ganzen Tag immer wieder herunter, ohne einen Schritt weiter zu kommen. Deshalb noch mal meine Frage. Ist hier jemand, der glaubt, dass er es nicht getan hat?«

Da niemand antwortete, sagte Keller: »Hat der Angeklagte jemals Diebesgut angenommen? Ich würde sagen, ja. Hat er jemals Diebesgut verkauft? Wieder ja. Hat er es einem Cop verkauft? Hat er dieses spezielle gestohlene Gerät diesem speziellen Cop verkauft? Ich kann es mir vorstellen, trotzdem glaube ich nicht, dass die Anklage den Beweis dafür erbracht hat.«

»Ohne jeden begründeten Zweifel«, murmelte jemand.

»Aber ich weiß nicht, was ich glauben soll«, fuhr Keller fort. »Letztlich läuft es immer wieder auf die gleiche Frage hinaus. Glauben wir Mapes?«

»Selbst wenn es Mapes mit der Wahrheit nicht so genau genommen hat …«

»Wenn Mapes nicht die Wahrheit sagt, ist das Ganze hinfällig. Und wenn Mapes lügt, gibt es nicht einmal eine Straftat.«

»Er ist Polizist«, sagte jemand, »und die Polizisten, mit denen ich zu tun hatte, waren alle ziemlich anständig und ehrlich, aber an Mapes kommt mir irgendetwas komisch vor.«

»Das finde ich jetzt echt interessant«, sagte jemand anders. »Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass Cops ständig lügen, aber Mapes kommt mir wie ein ausgesprochen vertrauenswürdiger junger Mann vor.«

»Dieser Mann aus der Asservatenkammer hat gelogen.«

»Ganz meine Meinung.«

»Er hat eine Videokamera mit nach Hause genommen, um die Geburtstagsfeier seines Kinds aufzunehmen. Das heißt nicht, dass die Beweiskette für den Videorekorder gestört ist.«

»Und es heißt nicht, dass Mapes gelogen hat.«

»Aber auch nicht, dass er nicht gelogen hat.«

Um viertel vor fünf ließ sie Morgan Freeman noch mal abstimmen, diesmal allerdings formlos. Er ging von einem zum anderen, und als er zu Keller kam, hatten sechs für Schuldig gestimmt und drei für Freispruch. Keller fand, es war egal, sie kämen an diesem Abend ohnehin nicht nach Hause, unabhängig davon, wofür er stimmte. Irgendetwas muss er aber sagen, deshalb sagte er. »Schuldig.«

»Nicht schuldig«, sagte die Frau links von ihm.

Somit glich es sich aus. Bei der letzten Abstimmung war Keller für einen Freispruch gewesen, die Frau links von ihm für einen Schuldspruch. Da Morgan Freeman zum Schluss für Schuldig stimmte, stand es acht zu vier, und sie hatten noch fünfzehn Minuten Zeit, um zu einer Entscheidung zu kommen.

»Okay«, sagte der Sprecher. »Ich würde nicht sagen, die Sache ist festgefahren, davon kann gar keine Rede sein. Wir brauchen einfach nur Zeit, um uns einig zu werden. Immerhin geht es darum, ob ein Mann ins Gefängnis kommt oder nicht. Wir sollten also nichts überstürzen. Jedenfalls sieht es so aus, als müssten wir die Nacht in einem Hotel verbringen.«

Keller fand das leichte Murren, das darauf laut wurde, relativ moderat. Sie waren lauter New Yorker. Da war mit einem gewissen Gemeckere zu rechnen.