FÜNFUNDZWANZIG


»Beim alten Mann«, sagte er.

»Es erstaunt mich immer wieder von Neuem, wie schnell von Begriff du manchmal bist.«

»Du warst es, Dot. Ihm sind immer mehr Sicherungen durchgebrannt, und er wollte sich von so einem Jüngelchen helfen lassen, seine Memoiren zu schreiben, und du hast mich irgendwohin geschickt und es selbst getan.«

»Nach Kansas City habe ich dich geschickt«, sagte sie. »Es war deine erste Briefmarkenauktion, wenn ich mich recht entsinne.«

»Und Louise hast du auch erledigt? Aber warum?«

»Es ging alles ganz schnell«, sagte sie. »Es hat sich ein kurzes Zeitfenster geöffnet, und wer hätte schon sagen können, wie lang es offen bleiben würde? Und es ging ja nicht nur darum, sie zum Schweigen zu bringen. Es musste auch in aller Stille geschehen, damit nichts davon in der Zeitung stand. Außerdem musste jemand ihre Unterlagen durchsehen, jemand, der wusste, wonach er suchen sollte. Deshalb habe ich sie angerufen und mir einen zweiten Termin geben lassen.«

»Bei ihm«, er sah an die Decke, »war es eine Schlaftablette in seinem Kakao und ein Kopfkissen auf seinem Gesicht.«

»Dass das auch bei ihr funktionieren würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hätte ihr eine überziehen und es wie einen Einbruch aussehen lassen können.«

»Wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee.«

»So bringt man allerdings notgedrungen die Cops mit ins Spiel, und die fangen an, nach Einbrechern zu suchen oder nehmen sich ihr Privatleben vor, wenn ihnen irgendwas faul erscheint. Warum ihnen also einen Anlass geben, überhaupt ihre Nase in die Sache zu stecken?«

»Man weiß schließlich nie, worauf sie dabei stoßen könnten.«

»Deshalb habe ich erst mal einfach nur dagesessen und furchtbar fasziniert getan von diesem ganzen astrologischen Quatsch, den sie mir erzählt hat, ohne Punkt und Komma und mit einer Stimme, so sanft und süß, dass sie einen fast in den Schlaf lullen könnte. Nur hin und wieder hat sie eine Pause gemacht, damit sie sich eine ihrer Pralinen in den Mund stopfen konnte. ›Die sehen aber lecker aus‹, habe ich ganz nebenbei bemerkt, worauf sie mir prompt eine angeboten hat.«

»Aha.«

»Ich habe zwei genommen und eine gegessen«, fuhr sie fort, »und ich muss gestehen, sie war gar nicht so übel, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, mir mit diesem süßen Zeug den ganzen Tag den Bauch vollzustopfen. Wie auch immer, die andere habe ich heimlich in meiner Handtasche verschwinden lassen. Am Ende der Stunde habe ich einen weiteren Termin mit ihr ausgemacht, und als ich darauf ein zweites Mal bei ihr erschienen bin, war ich bestens gerüstet. ›Mmm, die sehen aber lecker aus‹, habe ich wieder gesagt, und als sie mir den Teller hingehalten hat, habe ich es gemacht wie der Große Spaldini, Meister der Fingerfertigkeit.«

»Du hast die Praline, die du beim letzten Mal eingesteckt hast, zurückgelegt.«

»Und mir selbst eine andere genommen, alles mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung, der kein menschliches Auge folgen konnte. Ich habe es vor dem Spiegel geübt, Keller. Kann ich dir nur empfehlen, wenn du dir mal richtig lächerlich vorkommen willst.«

»Aber du hast sehr genau darauf geachtet, nicht wieder dieselbe zu nehmen.«

»Allerdings.«

»Wäre ein ziemlich dummer Fehler«, bemerkte Keller. »Wahrscheinlich gar nicht so einfach. Du musst dir eine neue nehmen, während du gleichzeitig die Praline, die du mitgebracht hast, auf den Teller zurücklegst. Da fängt man allerdings dann schon zu überlegen an, wenn man sich die andere in den Mund stopft.«

»Mit dem menschlichen Verstand ist das so eine Sache«, sagte Dot. »Obwohl ich wusste, dass mir kein Fehler unterlaufen war, habe ich mir die Unterseite der Praline, die ich zum Schluss in den Fingern hatte, sehr genau auf einen verräterischen Nadelstich hin angesehen.«

»Hast du dafür eine Spritze verwendet?«

Dot nickte. »Keine Ahnung, warum ich die Praline nicht einfach habe verschwinden lassen, aber irgendwie habe ich mich verpflichtet gefühlt, sie zu essen. Ich habe auf der Unterseite zwar kein Einstichloch gesehen, aber trotzdem habe ich mich natürlich gefragt, ob es von der Wärme nicht von selbst zugegangen ist. Deshalb habe ich mir gesagt, was soll’s, entweder steht es in den Sternen oder nicht, und habe sie gegessen.«

»Obwohl du gedacht hast, sie könnte vergiftet sein.«

»Ich wusste, dass sie es nicht war, aber doch, ich habe gedacht, sie könnte es sein. Und obwohl ich wusste, dass sie mit einer Nuss gefüllt war, habe ich mir eingebildet, Bittermandeln zu schmecken.«

»Du hast Zyankali verwendet.«

»Das nimmt man in solchen Fällen üblicherweise. Habe ich aber nicht. Ich habe was anderes genommen, irgend so eine Chemikalie mit einem kilometerlangen Namen, und wer weiß schon, wie dieses Zeug schmeckt? Nicht nach Bittermandeln, würde ich mal meinen, aber genau das habe ich mir zu schmecken eingebildet, na ja, und was mir dabei durch den Kopf gegangen ist, kannst du dir vermutlich selbst denken.«

»Und gleichzeitig musstest du so tun, als würde dir die Praline schmecken.«

»Ich habe vor Begeisterung mit der Zunge geschnalzt. ›Mmm, Louise, einfach köstlich.‹ Was natürlich nicht ganz im Sinne des Erfinders war, weil sie mir eine zweite angeboten hat. Und ich: ›Nein, das würde ich nicht wagen‹, wobei wahrere Worte wohl nie gesprochen wurden. Und so habe ich einfach dagesessen und gewartet, dass sie die Praline mit der Spezialfüllung nimmt.«

»Hättest du nicht einfach nach Hause gehen können?«

»Und warten, dass die Natur ihren Lauf nimmt? Nein, weil ich doch ihre Wohnung noch durchsuchen musste.«

»Ach ja, stimmt.«

»Und außerdem wollte ich unbedingt alles über meinen Freund hören und wie Jupiter mit Pluto in seinem zweiundzwanzigsten Haus ein Trigon bildet.«

»Gibt es nicht bloß zwölf Häuser?«

»Ursprünglich schon, aber dann sind die Investoren eingestiegen.«

»Das mit den Häusern habe ich sowieso nie kapiert. Was für ein Freund übrigens?«

»Der, den ich erfunden habe. Ein gut aussehender Witwer, der Interesse an mir gezeigt hat. Keller, ich habe doch einen Grund gebraucht, um sie noch mal aufzusuchen. Ich habe einen Freund und ein Geburtsdatum für ihn erfunden, und sie hat ihm ein Horoskop gestellt, um zu sehen, ob wir zusammenpassen.«

»Und?«

»Wir hätten Probleme bekommen, und auf Dauer hätte es nicht funktioniert, aber sie fand, ich sollte die Sache nicht von vorneherein abwürgen. Natürlich hat er nicht existiert, und mein richtiges Geburtsdatum hatte sie auch nicht, aber ansonsten hat es haargenau zugetroffen.« Sie verdrehte die Augen. »Und da sitze ich und tue so, als wäre ich total fasziniert von dem, was sie mir erzählt, während ich in Wirklichkeit nur darauf warte, dass sie diese Praline isst. Aber sie ist total auf das konzentriert, was sie mir erzählt, und als sie irgendwann doch mal kurz Luft holen muss und sich bei dieser Gelegenheit eine Praline nimmt, ist es die falsche. Was ich natürlich erst merke, als sie hineinbeißt und nichts passiert.«

»Du hast bestimmt wie auf Kohlen gesessen.«

»Interessant ist allerdings, was dabei in meinem Kopf abgelaufen ist«, sagte sie. »Ich habe nämlich ein schlechtes Gewissen bekommen. Immerhin war sie eine nette Frau und hat mir zu helfen versucht. Es war wirklich ein Jammer, was ich tun musste. Aber als sie dann hartnäckig weiter nach den falschen Pralinen gegriffen hat …«

»Bist du sauer auf sie geworden.«

»Und wie! Sie hat mir das Leben schwer gemacht, sie hat sich geweigert mitzuspielen, sie hat nicht gemacht, was sie machen sollte. Geht dir das manchmal auch so?«

»Ständig. Als ob es ihre Schuld wäre, dass sie so schwer umzubringen sind.«

»Am liebsten hätte ich sie angeschrien: ›Friss endlich diese Praline, du blöde fette Pflunze!‹ Stattdessen habe ich nur dagesessen, und irgendwann war ich bereits an dem Punkt, dass ich das Ganze vergessen wollte, und dann nimmt sie eine Praline und beißt hinein, und Halleluja.«

»Und?«

»Es war schlimmer als das erste Mal. Sie hat so komische Geräusche gemacht, und dann ihr Gesicht. Sie hat wild um sich geschlagen und gezappelt. Es gab einen Punkt, an dem ich dem ein Ende gemacht hätte, wenn ich gekonnt hätte. Aber das konnte ich natürlich nicht.«

»Schon klar.«

»Und dann hat sie aufgehört, um sich zu schlagen, und einen langen Seufzer von sich gegeben, und das war’s dann. Und dann habe ich eigentlich nichts empfunden, nicht wirklich jedenfalls, denn wozu auch? Sie war tot. Sie hat nichts mehr gespürt und ich auch nicht.«

»Sicher konntest du es nicht erwarten, aus der Wohnung zu kommen.«

»Natürlich. Aber vorher musste ich noch Verschiedenes erledigen. Zuerst musste ich mich vergewissern, dass sie wirklich tot ist, und dann habe ich eine Suchaktion gestartet. Ich habe eine Akte mit deinem Namen drin gefunden. Außerdem hat sie dein Horoskop und alle möglichen Notizen enthalten, aus denen ich nicht schlau geworden bin. Auch meine Akte habe ich gefunden, unter dem Namen, den ich ihr gesagt habe. Ich habe sie beide mitgenommen und entsorgt.«

»Gut.«

»Dann habe ich ihren Terminkalender durchgesehen. Es war mein dritter Termin, deshalb habe ich dreimal drin gestanden. Nur ein Name, Helen Brown, keine Adresse und keine Telefonnummer und nichts in ihren Unterlagen. Deshalb habe ich es gelassen. Es hätte nichts gebracht. Du hast auch drin gestanden, aber so viele Monate zuvor, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass dich jemand so weit zurück noch überprüfen könnte. Trotzdem habe ich deinen Namen mit einem Filzstift unkenntlich gemacht. Doch dann ist mir klar geworden, dass sie bestimmt feststellen können, was ursprünglich dort gestanden hat. Deshalb habe ich die Seite einfach rausgerissen.«

»Das konnte jedenfalls nicht schaden.«

»Dann habe ich ihre Sachen kurz durchgesehen. Es war irgendwie komisch für mich, deshalb habe ich schnell wieder damit aufgehört. Ich habe etwas Bargeld in der Schublade mit ihrer Unterwäsche gefunden, ein paar tausend Dollar.«

»Hast du sie genommen?«

»Ich habe es mir überlegt. Ich meine, Geld stinkt nicht. Aber dann habe ich bis auf fünfhundert alles dort gelassen, wo es war, und habe die fünfhundert in ihre Handtasche gesteckt.«

»Damit es nicht wie ein Einbruch aussah.«

»Ja. Obwohl es eigentlich keinen Sinn ergibt, denn welcher Einbrecher schiebt seinem Opfer eine vergiftete Praline unter? Ich glaube, ich war nicht ganz bei klarem Verstand.«

»Wenn du damit davongekommen bist, war dein Verstand klar genug.«

»Wahrscheinlich. Ich habe sie einfach liegen gelassen und bin nach Hause gefahren. Ich habe noch überlegt, ob ich es melden sollte. Aber in der Notrufzentrale haben sie Anrufererkennung. Sie wissen also, von wo sie angerufen werden.«

»Wozu auch die Eile?«

»Das habe ich mir auch gedacht. Je länger es dauert, bis die Leiche gefunden wird, desto geringer die Gefahr, dass sie den Braten riechen.«

»Findest du diese Wortwahl nicht ein wenig unglücklich?«

»Meine Wortwahl … ach so, klar. Jedenfalls, dieses Zeug, das ich ihr gegeben habe, lässt es wie einen Herzinfarkt aussehen. Man bekommt sogar einen davon, das ist, wie es wirkt. Natürlich ließe es sich nachweisen, wenn sie danach suchen würden, aber warum sollten sie danach suchen? Sie hatte locker zwanzig Kilo Übergewicht, sie hatte wenig Bewegung, und sie war alt genug, um einen Herzinfarkt zu bekommen …«

»Wie alt muss man dafür sein? Nein, schon gut, ich weiß, was du meinst.«

»Ich hatte die ganze Zeit Handschuhe an, wie eine süße, kleine Vorstadthausfrau. Keine Fingerabdrücke also, derentwegen ich mir Sorgen machen müsste. Und als ich gegangen bin und die Tür hinter mir zugezogen habe, ist das Schloss eingeschnappt, und ich bin nach Hause gefahren.«

»Zufrieden mit dir und der Welt, dass alles so gut gelaufen ist.«

»Also, da wäre ich nicht so sicher«, sagte sie. »Zu Hause habe ich mir als Erstes einen ordentlichen Drink gemacht, um ihn dann aber in die Spüle zu kippen, denn wozu brauche ich einen Drink?«

»Du hattest es noch nie mit dem Alkohol.«

»Nein, aber diesmal hatte ich das Bedürfnis danach, woran man sehen kann, wie ich mich gefühlt habe. Ich habe dagesessen und ihr beim Sterben zugesehen, Keller. So etwas habe ich vorher noch nie gemacht.«

»Beim alten Mann war es anders.«

»Völlig. Er hat nicht gezappelt und um sich geschlagen und komische Geräusche gemacht. Er hat geschlafen, und ich habe nur dafür gesorgt, dass er nicht mehr aufgewacht ist. Du weißt ja, wie er war. Es war ein Gnadenakt.« Sie verzog das Gesicht. »Bei dieser Sternguckerin war es kein Gnadenakt. Das Bild, das ich dabei vor mir sehe, ihr Gesichtsausdruck, mit Gnade hatte das nichts zu tun.«

»Es wird verblassen, Dot.«

»Häh?«

»Das Bild in deiner Erinnerung. Verschwinden wird es nicht, aber es wird verblassen. Und das genügt.«

»Keller, ich bin ein großes Mädchen. Damit kann ich leben.«

»Ich weiß, aber ohne es kannst du auch leben. Es wird verblassen, glaub mir, und du kannst es schneller verblassen lassen. Es gibt eine Übung, die du machen kannst.«

»Aber hoffentlich keine Kniebeugen.«

»Nein, was rein Mentales. Schließ die Augen. Das ist mein voller Ernst, Dot. Schließ die Augen.«

»Und?«

»Und jetzt stellst du es dir bildlich vor. Louise in ihrem dick gepolsterten Sessel …«

»Sie war auch selbst dick gepolstert.«

»Nein, mach jetzt keine Witze. Stell es dir einfach vor.«

»Meinetwegen.«

»Und du siehst es aus der Nähe. Und in Farbe.«

»Eine andere Wahl hatte ich doch gar nicht, Keller. Ich war dabei, ich habe es nicht auf einem Schwarzweißfernseher gesehen.«

»Lass die Farben verblassen.«

»Häh?«

»Lass die Farben aus dem Bild in deinem Kopf verschwinden – als würdest du den Farbregler an deinem Fernseher runterdrehen.«

»Wie soll ich …«

»Tu’s einfach.«

»Wie in der Schuhewerbung.«

»Ist die Farbe weg?«

»Nicht vollständig. Aber sehr gedämpft. Hoppla – sie ist zurückgekommen.«

»Dann dreh sie wieder zurück.«

»Okay.«

»Näher an grau jetzt?«

»Ein bisschen.«

»Gut«, sagte er. »Und jetzt fahr zurück.«

»Häh?«

»Wie bei einem Zoom, bloß dass es ein umgekehrter Zoom ist, weil das Bild in deinem Kopf immer kleiner wird. Fahr zwanzig Meter oder so zurück.«

»Hinter mir ist eine Wand.«

»Nein, da ist keine. Du hast so viel Platz, wie du haben willst, und das Bild wird immer kleiner, und die Farbe verblasst immer mehr.«

Eine Weile schwiegen beide, dann öffnete Dot die Augen und sagte: »Das war jetzt aber echt komisch.«

»Jedes Mal wenn dir das Bild in den Sinn kommt«, sagte Keller, »nimmst du dir ein, zwei Minuten Zeit und tust, was du gerade getan hast. Dann wirst du an einen Punkt kommen, an dem die Szene in Schwarzweiß abläuft, wenn du sie dir vorzustellen versuchst. Du wirst nicht mehr in der Lage sein, sie in Farbe oder aus der Nähe zu sehen.«

»Und das entschärft es etwas?«

»Ganz enorm sogar.«

»Ist das, was du in so einem Fall machst, Keller?«

»Das ist, was ich gemacht habe. Am Anfang.«

»Was ist passiert? Hat es nicht mehr funktioniert?«

Er schüttelte den Kopf. »Irgendwann musste ich es überhaupt nicht mehr tun.«

»Du hast dich gewissermaßen abgehärtet.«

»Ich weiß nicht, ob es das trifft«, sagte er. »Eher glaube ich, dass ich mich einfach daran gewöhnt habe, oder die Übung hat eine Langzeitwirkung. Aber egal, woran es gelegen hat, die Bilder haben mich nicht mehr groß belastet. Und sind von allein verblasst. Die Farbe ist verblichen, und sie sind immer kleiner geworden, bis keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren.«

 
• • •
 

Als das andere ungelöste Problem entpuppte sich Maggie.

Darauf war er mehr oder weniger schon selbst gekommen. Dot erzählte gerade von ihrem Besuch in Louises Wohnung, als ihm klar wurde, dass er das Problem war, dass er die Polizei zu dem großen Haus in White Plains führen konnte, wenn sie der Sache zu gründlich nachgingen. Er griff gerade nach seinem Glas mit Eistee, als ihm dieser Gedanke kam, und er stellte es wieder ab, als enthielt es dieselbe Substanz wie Louises letzte Praline.

Das war natürlich lächerlich, er hatte es bereits zur Hälfte ausgetrunken, und sie tranken beide aus demselben Krug. Außerdem war der ganze Gedanke vollkommen absurd. Wenn Dot ihn loswerden wollte, täte sie es nicht in ihrem Haus, und sie würde dem Ganzen keine Unterhaltung wie diese vorausschicken.

Nein, er wusste, wer der andere Risikofaktor sein musste.

»Aber sie weiß doch gar nichts«, sagte er zu Dot. »Sie glaubt, ich bin bereits berentet und arbeite nur hin und wieder auf selbständiger Basis für meine alte Firma. Sie glaubt, ich fliege ab und zu ins Silicon Valley und sehe mir irgendwelche Zahlen mit ihnen an.«

»Sie hat dich zu der Sternguckerin geschickt.«

»Schon, aber …«

»Sie war es auch, die dich auf deinen Mörderdaumen aufmerksam gemacht hat.«

»Aber wir haben uns getrennt. Wir haben keinen Kontakt mehr.«

»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

»Das vorletzte Mal ist schon Monate her …«

»Das ist nicht, was ich dich gefragt habe, Keller.«

»Gestern«, gab er zu. »Aber ich habe sie nur angerufen, weil ich Louise finden wollte und dachte, Maggie könnte ihre neue Adresse wissen.«

»Sie wusste sie aber nicht.«

»Sie hat nur gesagt, ich bräuchte keine Astrologin, um zu wissen, wie die Sterne stehen.«

»Was soll das bitte heißen?«

»Wahrscheinlich nur, dass sie sauer auf mich ist. Sie hat mit mir Schluss gemacht und war sauer, dass ich sie nicht angerufen habe.«

»Kann ich gut nachvollziehen.«

»Vor zwei Monaten habe ich einen Anruf bekommen«, sagte Keller. »Ich habe abgenommen und ein paarmal hallo gesagt, und die andere Person hat aufgelegt.«

»Wahrscheinlich jemand, der sich verwählt hat.«

»So hat es sich aber nicht angefühlt«, sagte er. »Deshalb habe ich Sternchen 69, den automatischen Rückruf, gedrückt, und sie ist drangegangen und hat ein paarmal hallo gesagt, und diesmal habe ich nichts gesagt.«

»Da hat sie ihre eigene Medizin zu schmecken gekriegt.«

»Na ja, mir ist nichts eingefallen, was ich sagen könnte. Deshalb habe ich einfach aufgelegt, und kurz darauf hat mein Telefon geläutet …«

»Sie wahrscheinlich wieder.«

»… aber ich habe es läuten lassen, und damit hatte es sich dann. Aber das kann sie damit nicht gemeint haben. Es war wegen etwas, das erst vor Kurzem passiert sein muss, wegen irgendwelcher Nachrichten, die sie mir angeblich hinterlassen hat, bloß dass sie mir keine hinterlassen hat.«

»Sie hat dir aber welche hinterlassen.«

»Häh?«

»Also, das ist jetzt ein bisschen peinlich«, rückte sie mit der Sprache heraus. »Wenn du verreist bist, höre ich manchmal deine Nachrichten ab.«

»Wie bitte?«

»Erst seit Roger auf der Bildfläche erschienen ist. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Keller. Da ist die Glucke in mir zum Vorschein gekommen. Und als eines Abends mal nichts Gescheites im Fernsehen gekommen ist, habe ich bei dir angerufen.«

»Und ich war nicht zu Hause.«

»Natürlich nicht. Du warst in Albuquerque oder sonst wo. Der Anrufbeantworter hat sich eingeschaltet, und ich habe deine Stimme vom Band gehört.«

»Und so einen verschleierten Blick gekriegt.«

»Klar, natürlich. Ich habe dir eine Nachricht auf Band gesprochen, irgendwas, dass du dich hoffentlich gut amüsierst, aber dann fand ich es irgendwie doof, dir eine Nachricht zu hinterlassen. Deshalb habe ich noch mal angerufen und alles gelöscht.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Wie ich das gemacht habe? Ich habe dich noch mal angerufen, und als sich der Anrufbeantworter eingeschaltet hat, habe ich den Code eingegeben, und als ich meine eigene Nachricht gehört habe, habe ich die Drei gedrückt und sie gelöscht.«

»Woher wusstest du den Code?«

»Wenn du das Gerät kaufst«, sagte sie, »ist der Code fünf-fünf-fünf, und sie erklären einem, wie man ihn ändern kann.«

»Was ich getan habe.«

»Auf vier-vier-vier, Keller.«

»Tja.«

»Es war nicht der erste, den ich ausprobiert habe«, sagte sie, »aber allzu lange habe ich nicht gebraucht, um drauf zu kommen. Ich habe die Nachrichten, die ich dir hinterlassen hatte, gelöscht, und weil ich schon dabei war, habe ich auch noch die Nachricht irgendeines Wichsers gelöscht, der dir eine Ferienwohnung auf den Bahamas andrehen wollte.« Sie zuckte mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Ich habe mir angewöhnt, deine Privatsphäre zu verletzen. Wenn du verreist warst, habe ich deine Nachrichten abgehört.«

»Als ich sie mal abgehört habe«, fiel ihm an dieser Stelle ein, »war irgendeine ärgerliche Nachricht drauf, keine Ferienwohnung, aber was ähnlich Überflüssiges, und ich war zu faul, sie zu löschen. Und als ich dann nach Hause gekommen bin, war sie nicht mehr drauf.«

»Es muss eine von denen gewesen sein, die ich gelöscht habe. Ich dachte, ich erspare dir den Aufwand.«

»Und es waren auch Nachrichten von Maggie drauf?«

»›Hi, ich bin’s. Hab grade an dich gedacht. Aber du brauchst nicht zurückrufen.‹ Wenn du nicht zurückrufen sollst, warum musst du es dann überhaupt hören?« Sie griff nach ihrem Glas Eistee. »Das war die erste. Und im Lauf der Monate sind noch ein, zwei ähnliche Anrufe eingegangen. Als du in Baltimore warst, hat sie drei oder vier Nachrichten hinterlassen, darunter eine in dem Stil: ›Ich weiß, dass du zu Hause bist und nicht ans Telefon gehst, aber geh jetzt bloß nicht dran, weil es nur zeigen würde, was für ein neurotischer Idiot du bist.‹ Dann eine lange Pause, in der du wahrscheinlich abheben solltest, und dann hat sie dich irgendwas genannt und aufgelegt.«

»Was hat sie mich genannt?«

»Ich weiß nur noch, dass es kein Kompliment war. Dann eine Entschuldigung und eine Bitte, sie anzurufen. Und dann noch eine, dass du die vorangegangene Nachricht ignorieren sollst. Ich hielt es für das Beste, sie alle zu ignorieren, und habe alle gelöscht.«

»Und das war, als ich in Baltimore war.«

»Und als Geschworener im Gericht.«

»Du hast tagsüber angerufen, als ich im Gericht war.«

»Zweimal.«

»Nur zweimal?«

»Na ja, das heißt, täglich. An diesem Punkt ging es mir nur um Nachrichten von ihr. Meistens hast du keine bekommen, aber ich wollte nicht, dass du was von ihr hörst oder mit ihr sprichst.«

»Weil du bereits einen Risikofaktor in ihr gesehen hast.«

»Das war doch nicht mehr zu übersehen, Keller.«

»Der Köder«, sagte er.

»Unschädlich machen müssen wir sie sowieso. Aber ich kann mir vorstellen, dass du das nicht selbst übernehmen willst, oder täusche ich mich da?«

»Ich war mit der Frau im Bett«, sagte er.

»Und hast ihr Blumen geschickt, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich mochte sie, Dot. Ich fand ihre Art, die Dinge zu sehen, irgendwie interessant.«

»Die Frauen, die du dir aussuchst«, sagte sie, »haben immer eine interessante Art, die Dinge zu sehen.«

»Die Frauen, die ich mir aussuche?«

»Diese hier«, sagte sie, »und die mit den Ohrringen. Vielleicht bin ich voreingenommen, aber es wäre doch nicht übertrieben, sie als durchgeknallt zu bezeichnen.«

»Vielleicht.«

»›Lass uns ruhig eine oberflächliche Beziehung haben. Schick mir also keine Blumen mehr, und wir sehen uns nur ein-, zweimal im Monat und gehen ins Bett miteinander.‹«

»›Und außerdem hast du einen Mörderdaumen.‹«

»Noch ein bisschen oberflächlicher, Keller, und du hättest ganz zu Hause bleiben können und ihr nur jeden Monat einen Teelöffel Sperma zu schicken gebraucht. Ich muss sagen, sie hat dir einen Gefallen damit getan, dich auf Abstand zu halten. Sonst könnte es dir jetzt schwerer fallen, es hinter dich zu bringen.«

»Der Köder«, sagte er.

»Das Wort scheint dich zu stören. Sag einfach Sushi, wenn du das besser findest. Es läuft auf dasselbe hinaus.«

»Wahrscheinlich gewöhne ich mich an die Vorstellung.«

»Du kannst es auch so sehen«, sagte Dot. »Sie ist die Zitrone, die dir das Schicksal zuteilt. Und du machst Limonade daraus.«

 
• • •
 

Zurück in seiner Wohnung, hörte Keller als Erstes den Anrufbeantworter ab. Er drückte auf den Abspielknopf, und eine Roboterstimme sagte: »Sie. Haben. Keine. Nachrichten.«

Und was hieß das? Dass niemand eine Nachricht hinterlassen hatte? Oder dass Dot angerufen hatte, als er weg war, und den Anrufbeantworter gesäubert hatte?

Zuallererst musste er seinen Code ändern, und möglichst etwas weniger Naheliegendes als 4 4 4. Und was? Er überlegte sich alle möglichen Zahlenkombinationen und versuchte, eine zu finden, die weniger eingängig und einprägsam war als andere. 3 8 1? 2 9 4? Jede Zahl, stellte er fest, hatte spezielle Eigenschaften, wenn man lange genug darüber nachdachte. Und wenn es ihm gelang, eine zu finden, die wirklich so unauffällig war, dass man sie sich nicht einprägen konnte, wie sollte er sie sich dann selbst merken?

Außerdem konnte Dot sie herausbekommen, indem sie willkürlich Nummern ausprobierte. Wie viele Kombinationen gab es überhaupt? Aus der Highschool wusste er, dass es für so etwas Formeln gab, aber wie das meiste, was er auf der Highschool in Mathe gelernt hatte, hatte er es schon lang vergessen.

Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Stift zur Hand und merkte, dass man gar keine Formel brauchte. Die Zahlen begannen bei 0 0 0 und reichten bis 9 9 9. Tausend Kombinationen, so viele gab es. Zehn mal zehn mal zehn, das war die Formel, wenn man auf Formeln stand. Es hörte sich nach einer Menge an, tausend, aber bei genauerer Überlegung waren es gar nicht so viele.

Vor Jahren hatte er für den alten Mann einen Auftrag ausgeführt, bei dem ein Aktenkoffer eine Rolle gespielt hatte. Er hatte jahrelang nicht mehr daran gedacht, aber jetzt fiel ihm wieder ein, dass der Aktenkoffer abgeschlossen gewesen war, nicht mit einem Schlüssel, sondern mit einem dreistelligen Zahlencode. Es war eins dieser Zahlenschlösser gewesen, bei denen man die richtigen drei Ziffern einstellen musste, um es zu öffnen. Er hatte stattdessen eine Gartenschere genommen und den Lederkoffer einfach aufgeschnitten, aber jetzt, Jahre später, wurde ihm klar, dass er den Koffer hätte aufbekommen können, ohne ihn zu zerstören. Es hätte etwas länger gedauert, aber keine Ewigkeit.

Höchstens zwei Stunden, schätzte er. Vielleicht sogar weniger. Wenn man systematisch vorging, konnte man locker zehn bis fünfzehn Kombinationen pro Minuten ausprobieren. Zehn pro Minute hieß hundert Minuten, und wie viel war das? Eine Stunde und vierzig Minuten?

Mit der Gartenschere war es sehr schnell gegangen. Natürlich hatte er eine Weile gebraucht, um die Schere zu finden, und davor hatte er mit einem Küchenmesser erfolglos am Deckel herumgesägt. Aber darum ging es nicht. Für tausend Kombinationen brauchte man nicht lang, egal, ob es ein Nummernschloss oder der Code eines Anrufbeantworters war. Man wählte die Nummer und wartete, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Dann tippte man so viele dreistellige Zahlencodes ein, wie man in dreißig Sekunden, oder wie lang der Anrufbeantworter lief, schaffte. Dann rief man erneut an und machte da weiter, wo man unterbrochen worden war. Man rief vielleicht sehr oft an, aber das machte nichts. Man hinterließ keine Nachrichten. Und selbst wenn man das tat, kam man irgendwann auf die richtige Zahlenkombination. Und dann konnte man die Nachrichten löschen.

Den Code zu ändern brachte also nichts. Und wie käme sich Dot vor, wenn sie anrief und 4 4 4 eingab und nichts passierte? Es wäre ein Schlag ins Gesicht, aber kein besonders wirksamer, weil sie nur der Reihe nach alle Kombinationen einzugeben brauchte, um den Code zu knacken.

Natürlich konnte er es ihr vorher schon sagen. »Mir ist klar geworden, dass jeder tun kann, was du getan hast, und so an meine Nachrichten rankommt«, könnte er ihr erklären. »Deshalb habe ich den Code geändert.« Dann würde sie sagen, das wäre eine gute Idee, und wenn sie ihn nach der neuen Kombination fragte, konnte er sagen, sie sich einzuprägen, wäre so schwer, dass er sie sich nicht einmal selbst merken könnte. »Aber ich habe sie mir aufgeschrieben«, würde er sagen und es dabei belassen.

Aber wenn sie das unbedingt wollte, konnte sie sich auch die neue Kombination beschaffen. Wie man es auch sah, es gab keine Möglichkeit, sie von seinem Anrufbeantworter fernzuhalten. Außer …

Er konnte sich eine neue Telefonnummer zulegen. Eine Geheimnummer, die nicht im Telefonbuch stand. Eine siebenstellige, was auf zehn Millionen mögliche Kombinationen hinausliefe. Sie herauszubekommen, würde eine Ewigkeit dauern und ein Vermögen kosten, weil man sich dabei neun Millionen Mal verwählen würde.

Wenn er sich allerdings eine neue Telefonnummer zulegte, erhielte er gar keine Nachrichten, die vor fremdem Zugriff geschützt werden mussten, weil ihn niemand erreichen könnte. Auch Dot nicht, die ihn am häufigsten anrief.

Vielleicht sollte er alles einfach so lassen, wie es war. Wahrscheinlich war es sogar richtig gewesen von Dot, seinen Anrufbeantworter abzuhören, genauso, wie es auch richtig gewesen war, der Astrologin auf den Zahn zu fühlen. Er hatte Louise gemocht, sie war eine sympathische Frau gewesen, aber sobald jemand auf einen Mörderdaumen zu sprechen gekommen war, hatte sie sich als Plaudertasche entpuppt. Und das hatte sie eindeutig zu einem Risikofaktor gemacht.

Deshalb hatte Dot sie zum Schweigen gebracht.

Das musste man sich mal vorstellen. Dot, wie sie mit Handschuhen und einem Hut mit Blumengesteck einen Zug in die Stadt nahm. Sie hatte zwar nichts von einem Hut gesagt, und es war schwer, sie sich mit einem vorzustellen, aber irgendwie passte es. Handschuhe und Hut, und eine vergiftete Praline in ihrer Handtasche. Und hinterher hatte sie aufgeräumt und war wieder nach Hause gefahren.

Tja.

Angenommen, sie hätte es nicht getan. Angenommen, sie hätte Keller nur gewarnt und es ihm überlassen, den potentiellen Schlamassel, den er angerichtet hatte, zu beseitigen. Hätte er Louise für immer zum Schweigen bringen können?

Wahrscheinlich schon. Man tat, was man tun musste. Ein-, zweimal hatte er im Lauf der Jahre den Fehler begangen, jemand, den er ausschalten sollte, persönlich kennenzulernen. Da war ein Mann in Roseburg, Oregon, gewesen, der dort im Zug eines Zeugenschutzprogramms eine neue Identität als Drucker verpasst bekommen hatte. Keller hatte den Mann – und die Stadt – gemocht und sogar mit dem Gedanken gespielt, sich dort niederzulassen. Aber dann tat man doch, was man tun musste. Man biss die Zähne zusammen und brachte es hinter sich.

Er hatte den Namen des Mannes vergessen. Seine beiden Namen, den ursprünglichen und den, den er vom FBI bekommen hatte. Auch wie er aussah, hatte er vergessen. Er konnte ihn sich nicht mehr vorstellen.

Was völlig in Ordnung war. Genauso sollte es sein.

Er stellte sich Louise vor, wie er sie in Erinnerung hatte, in ihrem Polstersessel, neben sich eine Schale mit Pralinen. Aber ihre Gesichtszüge begannen sich bereits aufzulösen, und die Farben verblassten zu einem matten Grau.

Gut so.