SIEBENUNDZWANZIG


»Keller!«

Er träumte und hätte sich gern in den Traum zurücksinken lassen, aber Dot sagte seinen Namen noch einmal, weshalb er sich einen Ruck gab und aufstand. »Schnell«, drängte sie, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig ans Fenster, um unten auf der Straße eine Frau zu sehen, die sich an ein Taxi lehnte, während ihr Begleiter ein paar Scheine abzählte und dem Fahrer reichte. Das Taxi fuhr weg, und die zwei standen mitten auf der Crosby Street. Die Frau war Maggie, aber wer war der Mann?

Er trug eine Jeans und eine abgewetzte Lederjacke, und kurz dachte Keller, es wäre der Mann vom Schlüsseldienst, aber er war größer und kräftiger gebaut. Natürlich könnte der Pimpf in der Zwischenzeit ein paar Pfunde zugelegt haben, dachte Keller. Mit Boston Cream Pie ginge das bestimmt, aber wurde man davon auch größer? Höchstens, wenn man sich darauf stellte …

Maggie schlang die Arme um den Mann, und Keller hatte das Gefühl, dass er sie nicht dabei beobachten sollte. »Ihre neueste oberflächliche Beziehung«, bemerkte Dot. »Wir haben ihn bisher noch nicht gesehen, oder, Keller?«

»Ich kenne ihn jedenfalls nicht.«

»Aber sie wird ihn wohl näher kennenlernen. Hat er seine Hand, wo ich glaube, dass er sie hat?«

»Ich glaube, sie nimmt ihn mit zu sich.«

»Das war mir schon klar, als das Taxi weggefahren ist, Keller. Nur habe ich zuerst geglaubt, dass sie es gleich mitten auf der Straße treiben. Nein, sag jetzt bitte nichts, sondern hör mir nur kurz zu. Da!«

»Was?«

»Sie sind im Lift. Ganz schön laut, das Ding. Und langsam auch. Jetzt hat er angehalten. Sie müssen in ihrer Wohnung sein. Hast du sein Gesicht zu sehen bekommen, Keller?«

»Nicht wirklich.«

»Ich auch nicht, und inzwischen sitzt sie wahrscheinlich drauf. Nimm das Fernglas. Siehst du einen unserer Freunde da draußen? Den Schnurrbart oder die Windjacke?«

»Nein.«

»Eine Zigarette im üblichen Fenster?«

»Nein.«

»Der Typ, mit dem sie gerade heimgekommen ist. Könnte er einer von den beiden sein?«

»Ich weiß nicht«, sagte Keller. »Aber eher nicht, glaube ich. Sie ist vor einer Weile weggegangen und hat sich an der Ecke ein Taxi genommen. Und haben wir seitdem einen von unseren beiden Freunden zu Gesicht bekommen?«

»Den Schnurrbart haben wir gesehen. Aber haben wir auch die Windjacke gesehen? Ich weiß es nicht mehr.«

»Glaubst du, einer von ihnen hat herausgefunden, wohin sie wollte, und sie dort angebaggert und sich dann von ihr nach Hause mitnehmen lassen?«

»Das Schwierigste dabei dürfte gewesen sein herauszufinden, wohin sie wollte. Niemand ist ihr an die Ecke gefolgt, und sie hat sofort ein Taxi bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand geschafft hat, ihr zu folgen.«

»Wahrscheinlich ist es also nur ein Typ, den sie gerade aufgegabelt hat.«

»Sie hat ihn auf einer Party kennengelernt und abgeschleppt. So war es bei dir doch auch, oder?«

»Es war auf einer Vernissage.«

»Bäume«, sagte Dot. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Vielleicht ist dieser Typ Mr. Goodbar, vielleicht ist er ein mordgieriger Irrer und bringt sie gleich um.«

»Klar.«

»Wieso nicht, Keller?«

»Auszuschließen ist es natürlich nicht, aber darauf zählen würde ich nicht.«

»Klar, aber wenn doch … Er hat sich gerade eine Zigarette angezündet.«

»Wie willst du denn das … ach so, der Typ gegenüber.«

»Was hast du denn gedacht?«

»Der mordlüsterne Irre. Aber wenn das der Schnurrbart ist, der sich gerade einem Emphysem entgegenpafft, kann er nicht gerade im Taxi mit ihr angekommen sein.«

»Gut kombiniert, Keller.«

»Aber die Windjacke könnte es sein. Zu blöd, dass wir ihn nicht sehen können.«

»Den Schnurrbart können wir auch nur sehen, weil er raucht. Außerdem vermuten wir nur, dass er es ist. Er könnte auch ein Nachtlicht an einen Timer gehängt haben.«

»Um uns auszutricksen.«

»Genau. Aber solange sie in ihrem Loft Besuch hat, Keller, dürfte es nicht ganz einfach sein, sie umzubringen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Und bis der Schnurrbart seine Zigarette zu Ende geraucht hat, wird er zum selben Schluss gelangt sein. Er wird sich schlafen legen, und die Windjacke schläft ohnehin schon seit Stunden. Am besten, du gehst auch wieder ins Bett.«

»Nein. Willst du dich nicht noch mal hinlegen?«

»Ich bin nicht müde. Ich sollte es eigentlich sein, aber ich bin es nicht. Hast du Hunger?«

»Nein.«

»Von der Pizza ist nämlich noch was übrig.«

»Ich will jetzt aber nichts essen.«

Er blieb, wo er war, und dachte über seinen Traum nach. Er konnte sich selten an Träume erinnern, aber in diesem war er gerade mitten drin gewesen, als Dot ihn geweckt hatte, weshalb er ihn noch lebhaft in Erinnerung hatte. Er hatte von jemand zu einem extrem günstigen Preis eine Briefmarkensammlung gekauft und fand ständig etwas Neues darin, wertvolle und seltene Marken, von denen er nicht gewusst hatte, dass die Sammlung sie enthielt. Er nahm eins der kostbaren Exemplare nach dem anderen heraus und ordnete sie in seine Alben ein. Darunter waren einige, die das Zehn- oder Zwanzigfache von dem wert waren, was er für die ganze Sammlung gezahlt hatte. Trotzdem stieß er immer weiter auf neue Überraschungen und …«

»Keller!«

»Das war jetzt echt komisch«, sagte er. »Ich habe an meinen Traum gedacht, und plötzlich war ich wieder in ihm.«

»Bist du jetzt wenigstens wach? Das ist nämlich der Lift.«

»Fährt er rauf oder runter?«

»Das ist alles, was die Dinger tun, sie fahren rauf oder runter. Aber was nun genau, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass er fährt. Aber nachdem er zuletzt ganz oben war …«

»Glaubst du, er geht? Allerdings könnte auch unten jemand den Lift gerufen haben, und in einer Minute fährt er wieder nach oben.«

»Es ist fast vier Uhr früh, Keller.«

»Na und?«

»Das ist ziemlich spät, um nach Hause zu kommen.«

»Auch um wegzugehen. Das sind Künstler, Dot. Die müssen nicht in aller Frühe auf der Matte stehen. Die …«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm und deutete aus dem Fenster. Ein Mann in einer Lederjacke kam aus dem Haus und blieb am Straßenrand stehen. Es war derselbe Mann, den sie vor ein paar Stunden beobachtet hatten, wie er den Taxifahrer bezahlt hatte und dann von Maggie umarmt worden war. Aber hatte sie ihn vorher schon mal gesehen? War er der Kerl mit der Windjacke?

»Das ist unser Mann«, sagte Keller, plötzlich ganz bestimmt.

»Du meinst, Roger?«

»Nein, der Typ, den wir angeheuert haben. Sieh ihn dir doch an, er versucht, ein Taxi zu bekommen.«

»Dann sollte er besser an die Ecke vor gehen. Wenn hier ein Fahrzeug durchkommt, dann höchstens das Müllauto, und das war heute schon hier.«

»Genau das ist es doch. Er kennt sich hier nicht aus. Er hat sie angebaggert, er ist mit ihr nach Hause gegangen, und er hat sie umgebracht. Jetzt ist sie tot, und er macht sich auf den Heimweg. Bloß, wie soll ich ihm folgen? Dass er hier ein Taxi bekommt, hat er sich wohl abgeschminkt. Er geht gerade los. Wenn ich ihn aus den Augen verliere und Roger auf ihn aufmerksam wird …«

»Harlan! «

Keller verstummte mitten im Satz. Der Mann auf der Straße erstarrte mitten in der Bewegung.

»Für eine Tote ist sie noch erstaunlich gut bei Stimme«, sagte Dot. »Unser Freund scheint Harlan zu heißen.«

»Du hast was vergessen«, rief Maggie aus dem Fenster. Dann flog etwas durch die Luft und landete vor den Füßen des Manns. Er bückte sich und hob es auf.

»Danke!«, rief er nach oben und steckte es in seine Gesäßtasche.

»Seine Geldbörse«, sagte Dot. »Er hat seine Geldbörse vergessen.«

»Warum hat er sie überhaupt aus der Tasche genommen?«

»Vielleicht hat er die Hose so schnell ausgezogen, dass sie ihm rausgerutscht ist. Vielleicht war auch was drin, was er dort oben gebraucht hat, etwas, das ein Mann in seiner Geldbörse hat.«

»Hm.«

»Es war alles genau so«, sagte Dot, »wie es ausgesehen hat. Sie hat ihn abgeschleppt, und jetzt hat sie ihn weggeschickt. Du kannst beruhigt weiterschlafen.«

»Jetzt bin ich aber wach.«

»Wovon hast du übrigens geträumt?«

»Von meiner Briefmarkensammlung.«

»Davon träumst du?«

»Offensichtlich.«

»Vielleicht kannst du noch mal einschlafen, wenn du die Marken zählst, die du von den Umschlägen löst. Sie ist wahrscheinlich wieder im Bett, und er ist auf dem Weg nach Hause. Warum hat sie ihn nicht bis zum Morgen bleiben lassen?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich wollte nur Konversation machen, Keller. Wir sind die einzigen zwei Menschen, die um diese Uhrzeit wach sind. Deshalb, dachte ich, können wir uns ruhig ein bisschen unterhalten. Ich …«

»Wir sind nicht die zwei einzigen, die wach sind.«

»Wahrscheinlich hast du recht, aber …« Sie verstummte mitten im Satz und schaute in die Richtung, in die Keller zeigte. »Du hast sogar mit Sicherheit recht«, fuhr sie darauf fort. »Es sei denn, unser Freund hat gelernt, im Schlaf zu rauchen. Da sitzt er und qualmt eine.«

»Und behält die Straße im Auge. Um diese Uhrzeit!«

»Ich glaube, das sollten wir auch tun«, sagte Dot. »Ich glaube, es wird bald was passieren.«

 
• • •
 

Das Erste, was passierte, war, dass der Mann am Fenster seine Zigarette zu Ende rauchte oder zumindest so hielt, dass sie nicht mehr zu sehen war. Und ein paar Minuten später kam er aus dem Haus. Er trug Hut und Schal. Ob er einen Schnurrbart hatte, war nicht zu erkennen.

»Handschuhe«, stellte Dot fest. »Und nicht, weil es kalt ist.«

»Er will keine Fingerabdrücke hinterlassen.«

»Wenn er bloß einen Hotdog essen gehen wollte, wäre ihm das wahrscheinlich egal«, sagte sie. »Da kommt er schon.«

Er überquerte die Straße, steuerte auf das Haus zu, in dem sie waren, und betrat es.

»Ich habe ihn kurz gesehen«, sagte Dot. »Der Schnurrbart ist ab.«

»Hab ich auch gemerkt.«

»Ich höre den Lift nicht.«

»Wahrscheinlich nimmt er die Treppe.«

»Es ist mitten in der Nacht. Wird sie ihn reinlassen?«

»Er hat sich bestimmt was zurechtgelegt.«

»Und wenn sie es ihm nicht abnimmt. Was für Schlösser hat sie?«

»Ich weiß nicht mehr.«

»Das weißt du nicht mehr?«

»Ich war nur ein paarmal bei ihr«, sagte er. »Und ich habe nicht gedacht, dass ich mal bei ihr einbrechen müsste. Warum hätte ich also auf ihre Türschlösser achten sollen?«

»Wie lang er wohl brauchen wird?«

»Nicht lang.«

»Es soll wie ein Unfall aussehen.«

»Das ist doch ganz einfach.«

»Wird er gleich wieder gehen? Bei der Astrologin hatte ich das Gefühl, eine Ewigkeit nicht aus der Wohnung zu kommen.«

»Du hast sie durchsucht.«

»Das war vermutlich mit ein Grund.«

»Er muss nichts weiter tun, als alles entsprechend zu arrangieren und zu verschwinden«, sagte er. »Und er ist ein Profi, er wird sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Ich darf keine Zeit verlieren.«

»Wo willst du hin?«

»Nach unten«, sagte Keller. »Ich möchte bereits auf der Straße sein, wenn er aus dem Haus kommt.«

»Wahrscheinlich beobachtet Roger das Haus. Er wird dich nach draußen kommen sehen.«

»Daran lässt sich nichts ändern. Wie soll ich ihm folgen, wenn er als Erster geht?«

»Sei bloß vorsichtig«, sagte sie.

 
• • •
 

Wenn sich Roger mit seiner Baseballkappe und der Windjacke irgendwo auf der Straße aufhielt, war er für Keller schwer zu entdecken. Deshalb sah er sich so unauffällig wie möglich um und postierte sich schließlich auf halbem Weg zwischen Maggies Haus und dem Café an der Ecke in einem Hauseingang. In Maggies Loft brannte Licht. Daraus schloss Keller, dass der Mann mit dem Schal und dem Hut bei ihr war. Das Licht könnte auch nur gebrannt haben, weil sie ein Buch las oder Schmuck machte, aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass der Kerl bei ihr war.

Und dass sie inzwischen tot war. Sobald er einmal bei ihr im Loft war, sank ihre Lebenserwartung drastisch. Weil er sie am ersten Abend auf der Straße angesprochen hatte und bereits wusste, wie sie aussah, musste er sich nicht vergewissern, dass sie es tatsächlich war. Er würde nicht lange fackeln. Ihr den Schal um den Hals schlingen und es rasch und lautlos hinter sich bringen.

Na ja, vielleicht nicht unbedingt den Schal. Es damit wie einen Unfall aussehen zu lassen, dürfte nicht ganz einfach sein. Aber es gab viele Möglichkeiten, jede von ihnen lautlos, rasch und tödlich.

Außer er gehörte zu denen, die sich gern Zeit ließen. Solche Leute gab es, wusste Keller. In Profikreisen fand man nicht allzu viele von dieser Sorte, aber einige gab es. Ihm war schon einiges zu Ohren gekommen.

Er ertappte sich dabei, wie er sich an bestimmte Eigenheiten Maggies erinnerte. Die Art, wie sie den Kopf auf die Seite legte. Andere sympathische Züge.

Aber was sollte er machen, fragte er sich. Er hatte keine Wahl.

Er stellte sich vor, wie süß und kess und begehrenswert sie manchmal ausgesehen hatte, und zwang sich, den Trick, den er Dot beigebracht hatte, bei sich selbst anzuwenden. Er drehte den Farbregler zurück, bis die Bilder nur noch schwarzweiß waren, dann reduzierte er auch noch den Kontrast auf matte Grautöne. Schließlich verkleinerte er das Bild und schob es immer weiter von sich fort, bis es kleiner und kleiner wurde.

So hielt er es schließlich fest, ein verschwommenes, winzig kleines Schattenbild, und dann ging bei Maggie das Licht aus.

Erst als Keller den Atem entweichen ließ, merkte er, dass er ihn angehalten hatte. Das Verlustgefühl, das er kurz verspürte, wich rasch gespannter Erwartung. Endlich hatte das Warten ein Ende. Es konnte losgehen.

Er zog sich in das Dunkel des Hauseingangs zurück und richtete den Blick auf die Haustür, durch die in Kürze der Killer kommen musste. Doch aus irgendeinem Grund blickte er nach oben und sah hinter dem Fenster der obersten Etage ein schwaches rotes Glühen, das heller wurde, als der Mann an der Zigarette zog.

Er rauchte und schaute lange aus dem Fenster. Spürte er, dass auf der Straße jemand auf ihn wartete? Keller glaubte, dass er nicht für ihn zu sehen war, aber was war mit Roger? War er in der Nähe? Konnte der Killer ihn sehen?

Und hatte Roger das Glimmen der Zigarette bemerkt?