ACHTUNDZWANZIG


Der Killer hatte eine brennende Zigarette in der Hand, als er aus dem Haus kam. Dieselbe, die er am Fenster geraucht hatte, vermutete Keller. Sie war ein Beweisstück, das er nicht im Loft zurücklassen wollte. Er warf sie in den Rinnstein, und als sie auf dem Asphalt landete, stoben Funken davon.

Der Mann schaute nach links und nach rechts und ging in Kellers Richtung los. Im selben Moment verließ Keller den Hauseingang und ging vor dem Mann her zur Ecke, wo er links abbog und gegen den Verkehr weiterging. Er winkte einem Taxi und stieg vorne neben dem Fahrer ein, der ihn mit einem strafenden Blick bedachte, bevor er ihn fragte, wohin er wollte. Keller sagte nichts, bis der Killer um die Ecke kam, dann deutete er auf ihn und sagte zum Fahrer: »Sehen Sie den Mann dort?«

»Den mit dem Hut?«

»Ja, den. Er wird sich gleich ein Taxi nehmen, und wir folgen ihm.«

»Wollen Sie mich hier verarschen?«

»Wie bitte?«

»Sie wissen schon, wie bei Versteckte Kamera . Außerdem nimmt er sich gar kein Taxi. Er geht zu Fuß.«

»Folgen Sie ihm.«

»Einem Mann, der zu Fuß geht?«

»Langsam«, sagte Keller. »Kommen Sie ihm nicht zu nah.«

Der Mann ging rasch in Richtung Osten. Das Taxi folgte ihm, und Keller versuchte, nicht auf den Fahrer zu achten. Drei Straßen weiter bog der Mann nach Norden in eine Einbahnstraße, die nur in südlicher Richtung befahrbar war.

»Scheiße«, sagte Keller. Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und blickte sich um. Ihm fiel niemand auf, der ihm oder dem anderen Mann folgte. Das hieß aber nicht, dass das niemand tat.

Sie gingen zwei Straßen weiter, Maggies Mörder auf der linken Seite, Keller auf der rechten. An der Kreuzung mit einer in westlicher Richtung befahrbaren Einbahnstraße blieb der Mann stehen und hielt eine Hand hoch. Das tat auch Keller und schnappte dem Mann das Taxi weg, auf das er es abgesehen hatte. Diesmal setzte er sich auf den Rücksitz und beugte sich vor, um dem Fahrer den Mann zu zeigen.

»Er wollte mich auch anhalten«, sagte der Taxifahrer, »aber Sie waren schneller. Wollen Sie ihn mitnehmen?«

Keller war versucht, aber nur kurz. »Nein«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie hier warten und ihm folgen, wenn er sich ein Taxi nimmt.«

»Für ein gutes Trinkgeld?«

»Einen Fünfziger.«

»Plus Taxameter?«

»Meinetwegen«, sagte Keller. »So, es geht los. Nein, halt. Warten Sie noch.«

Ein Taxi hatte angehalten, fuhr aber nach einem kurzen Wortwechsel weiter. »Vielleicht hat ihm nicht gefallen, wie der Typ ausgesehen hat«, sagte der Fahrer.

»Wieso? Er sieht doch ganz manierlich aus.«

»Dann hat Ihrem Mann vielleicht nicht gefallen, wie der Fahrer ausgesehen hat. Oder das Taxi war ihm zu verdreckt. Vielleicht hat ein Besoffener auf den Rücksitz gekotzt.«

»Vielleicht will er zum Flughafen«, überlegte Keller laut.

»Nein«, sagte der Taxifahrer. »Nach Brooklyn vielleicht. Jetzt hält ein anderes an. Na, geht doch. Er steigt ein.«

»Verlieren Sie ihn nicht aus den Augen«, sagte Keller. »Aber fahren Sie auch nicht zu nahe ran.«

»Keine Sorge.«

Keller saß nach vorn gebeugt da und ließ das Taxi vor ihnen nicht aus den Augen. Nach einer Weile sagte er: »Warum soll er nicht zum Flughafen fahren?«

»Kein Gepäck.«

»Vielleicht reist er ohne Gepäck.«

»Glauben Sie denn, er will zum Flughafen?«

»Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.«

»Wissen Sie zufällig, zu welchem?«

»Ich könnte es auf drei eingrenzen.«

»La Guardia und JFK sind okay, aber nach Newark bekomme ich das Doppelte vom regulären Fahrpreis.«

»Das Doppelte?«

»Weil es außerhalb des Stadtgebiets ist.«

»Plus die fünfzig, auf die wir uns geeinigt haben.«

»Plus die fünfzig und plus die Tunnelmaut.«

Keller sagte nichts mehr und beobachtete das Taxi vor ihnen, was der Taxifahrer als Weigerung auffasste. »Wenn Sie billig nach Newark kommen wollen«, sagte er deshalb, »geht von Port Authority ein Bus. Mit dem kommen Sie für zehn, zwölf Dollar hin. Kein Trinkgeld, keine Maut, aber deuten Sie nicht auf irgendein Arschloch mit Hut und erwarten, dass ihm der Busfahrer folgt.«

Keller versicherte ihm, dass das Geld kein Problem war. Außerdem sah es nicht so aus, als würden sie nach Newark fahren. Inzwischen waren sie auf der Eighth Avenue in Richtung Uptown unterwegs und fuhren an den Abzweigungen zum Holland und zum Lincoln Tunnel vorbei. Wenn der Killer zu einem der beiden anderen Flughäfen wollte, was machte dann sein Taxi so weit im Westen?

»Na, was sage ich denn?« Der Fahrer hielt am Straßenrand an. »Das Hotel Woodleigh, ein Hauch von Europa mitten in New York. Habe ich nicht gleich gesagt, dass er ohne Gepäck nicht zum Flughafen fährt?«

»Das haben Sie völlig richtig gesehen«, sagte Keller.

»Er wird jeden Moment mit einem Koffer wieder nach draußen kommen. Oder wahrscheinlich mit so einem Ding mit Rollen dran, wie sie jetzt immer mehr in Mode kommen.«

»Er bezahlt gerade sein Taxi.«

»Und?«

»Das ist, glaube ich, was man in so einer Situation tut.« Damit zog Keller drei Zwanziger und einen Zehner aus seiner Geldbörse. Der Taxifahrer schien damit zufrieden – sollte er auch, fand Keller –, aber offensichtlich wäre er lieber bis zum Ende der Operation geblieben.

»In fünf Minuten kommt er wieder nach draußen«, sagte er, »und dann werden Sie bereuen, dass Sie mich nicht haben warten lassen.«

Vermutlich hatte der Kerl recht, dachte Keller, stieg aber trotzdem aus und betrat das Hotel.

Er suchte sich im Hotel einen Sessel, von dem er beide Eingänge und die Lifte im Blick hatte. Aber kaum hatte er sich darin niedergelassen, spürte er, dass jemand auf ihn aufmerksam geworden war. Er blickte sich um und merkte, dass der Portier an der Rezeption in seine Richtung schaute.

Ein paar Stunden später, dachte er, könnte ein gepflegter und anständig gekleideter Mann wie er stundenlang mit einer Zeitung im Foyer herumsitzen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Aber um diese Uhrzeit, der Himmel war noch dunkel und die Stadt dem Schlaf so nahe wie sonst nie, fiel er auf.

Er ging an die Rezeption, holte seine Geldbörse heraus und klappte sie auf, als wollte er einen Dienstausweis zeigen. »Der Mann, der gerade reingekommen ist«, sagte er. »Er hatte einen Hut auf.«

»Ob Sie’s glauben oder nicht«, sagte der Portier. »Irgendwie kam er mir verdächtig vor.«

»Wo ist er hin?«

»Auf sein Zimmer«, sagte der Mann. »Beziehungsweise in jemandes Zimmer. Er ist sofort zum Lift gegangen und nach oben gefahren. Ohne seinen Schlüssel zu holen.«

»Wissen Sie, welches Zimmer er hat?«

»Habe den Mann nie gesehen. Ich hatte nicht Dienst, als er eingecheckt hat. Falls er eingecheckt hat.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Was hat er denn angestellt?«

Eine Freundin von mir umgebracht, dachte Keller. »Ich setze mich einfach wieder hin«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lang er braucht, aber ich möchte auf keinen Fall, dass er mir entwischt. Sie haben hier nicht zufällig eine Zeitung zu verkaufen? Damit ich nicht so auffalle, wenn ich bloß rumsitze.«

Die Zeitungen waren noch nicht geliefert worden, aber der Portier trieb eine Times vom Vortag auf. Weil er nicht glaubte, dass ein Cop dafür bezahlen würde, bot er es dem Mann nicht an. Er setzte sich mit der Zeitung und versuchte so zu tun, als interessierte sie ihn.

Zuerst tat sich überhaupt nichts, doch als der Morgen näher rückte, ging alle paar Minuten eine Lifttür auf, und jemand kam heraus und ging an die Rezeption, um auszuchecken. Manche sahen müde aus, andere hellwach, aber niemand sah aus wie der Mann, der Maggie einen Besuch abgestattet hatte. Keller behielt auch den Hoteleingang im Auge und ging ab und zu nach draußen, um sich auf der Straße umzuschauen. Einmal erhaschte er einen kurzen Blick auf einen Mann mit einer Baseballkappe und einer Windjacke, der auf der anderen Straßenseite in einem Deli verschwand.

Roger, war sein erster Gedanke. Er versuchte sich so zu postieren, dass er sowohl den Eingang des Deli als auch das Hotelfoyer im Auge behalten konnte. Sein Blick wanderte ständig hin und her, wie bei einem Tennismatch, und dann kam der Mann mit der Baseballkappe und der Windjacke mit einer Plastiktüte in jeder Hand aus dem Deli, und sobald Keller ihn von vorne zu sehen bekam, wurde ihm klar, dass es nicht der Mann war, den er in der Crosby Street gesehen hatte. Er war kleiner und breiter und hatte einen Mordsbauch, und Keller vermutete, dass in den Einkaufstüten jeweils ein Sechserpack war.

Er kehrte ins Foyer zurück und machte es sich mit der Zeitung bequem. Und dann, nur wenige Minuten später, übersah er fast den Mann mit dem Hut.

Das lag daran, dass der Dreckskerl diesmal keinen Hut trug. Aus dem Lift kamen vier Männer, alle ohne Kopfbedeckung, alle in Anzug und Krawatte, alle mit Aktenkoffern. Einer ging an die Rezeption, die anderen drei steuerten auf den Ausgang zu. Keller senkte den Blick wieder auf seine Zeitung, schaute aber plötzlich auf. Den Mann selbst hatte er nicht erkannte, aber den Gang erkannte er, die Art, wie sich der Kerl bewegte. Er folgte ihm nach draußen, und da war er. Er stieg gerade in das erste Taxi am Taxistand. Kein Hut, aber er hatte wieder einen Schnurrbart, und sein Haar war blond und zerzaust.

Er beugte sich in das Taxi, und Keller kam so nah an ihn heran, dass er nur die Hand auszustrecken gebraucht hätte, um ihn zu berühren. Kurz verspürte er das Bedürfnis, genau das zu tun, ihn herumzuwirbeln, an der Krawatte zu packen und damit zu erdrosseln. Der Impuls erschreckte Keller, und natürlich gab er ihm nicht nach. Ebenso wenig hielt er ihn davon ab mitzubekommen, was der Mann zum Fahrer sagte.

Keller sah dem wegfahrenden Taxi nach, dann ging er zum nächsten in der Schlange. Er stieg hinten ein, machte es sich auf dem Rücksitz bequem und sagte: »Zum Newark Airport, Continental Airlines.«

 
• • •
 

Newark war ein Continental-Knotenpunkt, weshalb die Fluggesellschaft einen ganzen Terminal für sich und ihre Codesharing-Partner hatte. Irgendwie gefiel Keller die Vorstellung von Partnerfluggesellschaften, die wie die Co-Stars eines Buddy-Movies alles zusammen machten und einen gemeinsamen Geheimcode hatten. Was ihm weniger gefiel, war die Anzahl der Flugsteige, die Continental hatte. Da er seinen Mann bei den Ticketschaltern nirgendwo sah, ging er davon aus, dass er bereits ein Ticket hatte und direkt zum Gate gegangen war.

Aber zu welchem? Es gab Dutzende davon, und er konnte den Kerl schlecht aufrufen lassen. Er musste von Gate zu Gate gehen, bis er ihn entdeckte.

Die Frau, die in der Schlange am Security Check vor ihm war, löste immer wieder den Metalldetektor aus, und die Verzögerung, auch wenn es nur ein paar Sekunden waren, machte ihn ganz wahnsinnig. Es war ein Fehler gewesen, sagte er sich, dem Taxifahrer nur das Fahrtziel zu nennen und es dabei zu belassen, er hätte seinen Mann nicht aus den Augen lassen dürfen. So war es natürlich einfacher, und sie hätten in dem dichten Verkehr im Tunnel ohne weiteres von dem anderen Taxi abgehängt werden können, aber jetzt musste er von Gate zu Gate hetzen und unter den Fluggästen nach dem Gesuchten Ausschau halten, während er gleichzeitig so schnell wie möglich vorankommen musste, ohne Aufsehen zu erregen, und wo war dieser Dreckskerl, verdammt noch mal?

Fast hätte er ihn wieder übersehen. Er war nämlich nicht mehr blond, sondern hatte jetzt kurzes dunkles Haar, und der Schnurrbart war weg. Auch die Krawatte hatte er abgenommen – ihn damit zu erdrosseln, kam also nicht mehr in Frage –, und statt der Anzugjacke trug er eine Windjacke.

Eine Windjacke! Diese war allerdings schwarz und nicht wie die von Roger braun. Er war nicht Roger, Herrgott noch mal. Trotzdem schaffte er es, jedes Mal anders auszusehen, wenn Keller ihn zu Gesicht bekam, und war er es diesmal überhaupt? Konnte er überhaupt sicher sein?

Den Aktenkoffer hatte er immer noch dabei, und Keller fragte sich, was er enthielt. Bisher hatte sich der Mann eines Huts, eines Mantels, einer blonden Perücke, eines Schals, einer Anzugjacke und einer Krawatte entledigt. Das konnte nicht alles in dem Aktenkoffer sein. Demnach musste er mehrere dieser Kleidungsstücke unterwegs entsorgt haben. Keller fand, dass dieser Kerl für so einen einfachen Auftrag einen enormen Aufwand betrieb. Er war engagiert worden, eine Frau in einem Loft in der Crosby Street zu töten, und hatte lediglich Anweisung erhalten, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Er hatte viel Zeit damit zugebracht, das Ambiente zu studieren, er hatte auf der anderen Straßenseite am Fenster gesessen und dabei eine Stange Zigaretten geraucht und …«

Das war in dem Aktenkoffer. Zigaretten. Mehrere Stangen, vermutete Keller, und er konnte nicht eine einzige von ihnen rauchen, im Flughafen nicht und auch im Flugzeug nicht. Und sein Flug ging erst in eineinhalb Stunden. Bis er endlich in Jacksonville landete, würde der arme Teufel noch anfangen, Nägel zu kauen.

War das, wo er lebte? Jacksonville? Dot hatte nichts über den Kerl gewusst, sie hatte ihn über einen Mittelsmann gebucht, und es stand zu vermuten, dass auch der Mittelsmann nicht wusste, wo er wohnte. Egal, wo das war, Keller hätte gewettet, dass es nicht in Jacksonville war. Das bisherige Verhalten dieses Kerls deutete darauf hin, dass er dreimal den Flieger wechseln würde, bevor er sein Ziel erreichte.

Vielleicht, dachte Keller, aber nur vielleicht lag der Typ damit gar nicht so falsch. Vielleicht war er selbst viel zu lax an die Sache herangegangen. In der Regel flog er einfach hin, erledigte seinen Auftrag und flog direkt wieder nach Hause. In letzter Zeit war er etwas vorsichtiger gewesen, aber nur, weil er vor Roger auf der Hut gewesen war. Aber dieser Trottel wusste nichts von Roger und hatte sicher nicht die leiseste Ahnung, dass er als Köder herhalten musste, um Roger aus seiner Deckung zu locken. Daher stand zu vermuten, dass er jedes Mal solche umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen traf, und Keller musste zugeben, er war beeindruckt.

Wenn auch der Killer wahrscheinlich nichts von Roger wusste, tat Keller das sehr wohl. Und weil sie beide zur selben Zeit in dem Café an der Ecke gewesen waren, hatte er Rogers Gesicht gut zu sehen bekommen.

Auch jetzt hielt er Ausschau nach ihm.

Ebenso blickte er sich nach einer braunen Windjacke und einer Baseballkappe um, obwohl er nicht damit rechnete, dieses Outfit noch einmal zu sehen zu bekommen. Damit hatte Roger auf der Straße, in einem dunklen Hauseingang, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versucht. Am Flughafen täte er das mit einem Jackett und einer Krawatte.

Stattdessen hatte sich der Killer für seinen Auftritt am Flughafen für eine Windjacke entschieden. Woher wollte Keller allerdings wissen, dass Roger nicht als Clown verkleidet oder in einer Ritterrüstung auftauchte. In der Jacksonville-Lounge war er jedenfalls nicht, dort hatte Keller nachgesehen, und auch in ihrer Nähe trieb er sich nicht herum.

Hatte ihn der Killer abgehängt? Es war lange nach Mitternacht gewesen, als Maggies One-Night-Stand das Loft verlassen und der Killer seinen Platz eingenommen hatte. Er war die vielen Stufen hinaufgehastet, hatte wahrscheinlich zwei auf einmal genommen, so wenig hatte er es noch erwarten können. Bei den vielen Zigaretten, die der Kerl rauchte, hätte er eigentlich völlig aus der Puste sein müssen, als er in ihrer Etage ankam, aber wahrscheinlich raste diesem Dreckskerl viel zu viel Adrenalin durch die Adern. Er klopfte, und Maggie kam an die Tür. Vielleicht schaute sie durch den Spion, aber weil er ihn mit der Hand zuhielt, konnte sie nichts sehen. Sie fragt, wer ist da, kann seine absichtlich vernuschelte Antwort nicht verstehen. Und denkt unwillkürlich, dass sie lieber nicht öffnen sollte, der Gedanke schießt ihr nur ganz kurz durch den Kopf, aber nein, es muss ihr Lover sein, er kommt zurück, um noch etwas zu holen, was er vergessen hat, etwas anderes als die Geldbörse, oder er kommt zurück, weil er nicht genug von ihr bekommen kann und sie noch einmal in die Arme schließen will, aber dann, kaum hat sie die Tür aufgeschlossen, fliegt sie nach innen auf, und ein Fremder platzt herein, drückt ihr eine Hand auf den Mund, packt sie mit der anderen am Hals …

Stopp!

Keller pfiff sich zurück. Es ging nicht darum, wie der Killer in ihr Loft gekommen war oder wie sie reagiert hatte oder um sonst etwas. Die einzige Frage war, ob Roger in diesem Moment in der Nähe gewesen war oder ob er irgendwo friedlich geschlafen hatte.

Keller wurde klar, dass sich das nicht beantworten ließ, wenn ihm der Kerl nicht zufällig am Flughafen über den Weg lief. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu bleiben, wo er war, bis die Passagiere für den Flug nach Jacksonville aufgerufen wurden. Sobald der Mann, der Maggie umgebracht hatte, diese Maschine bestieg, konnte ihm nichts mehr passieren. Und für Keller sah es immer mehr so aus, dass Roger irgendwann das Handtuch geworfen hatte. Wenn er geschlafen hatte, als der Killer zugeschlagen hatte, konnte er kaum etwas davon mitbekommen haben.

Was würde Roger demnach voraussichtlich tun? Er würde sich in der Crosby Street wieder in einem Hauseingang postieren und darauf warten, dass etwas passierte. Wenn Keller jetzt gleich zurückfuhr – oder sobald die Maschine nach Jacksonville gestartet war –, standen die Chancen gut, dass er Roger in der Crosby Street antraf. Zudem hätte er diesmal Gewissheit, dass der Mann Roger war. Er müsste nicht mehr warten, bis er in Aktion trat. Stattdessen konnte er jetzt selbst in Aktion treten. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?« »Klar, zehn vor … arrrggghhhh!« Ihn einfach auf der Straße abmurksen, Fall erledigt.

Allerdings würde in absehbarer Zeit die Polizei in das Loft in der Crosby Street gerufen werden, und dann konnte er das Ganze vergessen. Roger würde merken, dass er seine Chance verpasst hatte, und sich schleunigst aus dem Staub machen. Deshalb war das Vernünftigste, sofort zurückzufahren und zu hoffen, Roger überrumpeln zu können, bevor die Cops anrückten.

Bis zum Start der Maschine nach Jacksonville würde er aber noch warten. Bloß weiß er Roger nirgendwo sehen konnte, hieß das nicht, dass er nicht zum Flughafen gekommen war. Hätte er an Rogers Stelle etwa am Gate gewartet, während sich die Minuten dahinschleppten? Sicher nicht. Er wäre in letzter Minute mit dem Ticket in der Hand angestürmt, um gerade noch an Bord gelassen zu werden, bevor sie die Türen schlossen.

Deshalb beschloss Keller zu bleiben, wo er war, und zu warten, ob im letzten Moment noch ein Fluggast angelaufen kam, und wenn es Roger war …

Ja, was dann? Wenn Roger auftauchte, hatte er bestimmt ein Ticket und eine Bordkarte, sodass sie ihn anstandslos an Bord ließen. Und was wollte Keller dann tun?

Oder angenommen, Roger war, was keineswegs auszuschließen war, ein richtig cleverer Bursche. Angenommen, er hatte den Killer schon früh entdeckt und war ihm ins Woodleigh Hotel gefolgt. Wie schwer konnte es für einen findigen Kerl wie Roger schon gewesen sein, in das Hotelzimmer des Killers zu kommen? Angenommen, er hatte dort ein Flugticket gefunden und somit gewusst, wohin sein Opfer fliegen wollte.

Würde er dann nicht einen anderen, früheren Flug nehmen und am Flughafen von Jacksonville auf ihn warten?

In Kellers Augen gab es nur eine Möglichkeit, die Sache durchzuziehen.