NEUNUNDZWANZIG


Die Economy Class war ausgebucht, aber in der ersten Klasse hatten sie noch zwei Plätze frei. Sie ließen die First-Class-Passagiere zusammen mit allein reisenden Kindern und allen, die auf fremde Hilfe angewiesen waren, als Erste an Bord. Man musste nicht vor den anderen einsteigen, man konnte sich auch Zeit lassen, aber Keller wusste nicht, was das bringen sollte. Er saß in der dritten Reihe. Wenn Roger denselben Flug nahm, wenn er jetzt oder in letzter Minute an Bord kam, musste er an Keller vorbei, um an seinen Platz zu kommen.

Außer er flog die Maschine selbst oder hatte sich als Stewardess verkleidet.

Die Passagiere kamen einer nach dem anderen in die Kabine, und Keller musterte sie aufmerksam, als sie an ihm vorbeidefilierten. Als er den Mann in der schwarzen Windjacke einsteigen sah, zuckte er innerlich zusammen, rief sich aber rasch in Erinnerung, dass das zu erwarten gewesen war. Er hatte bereits gewusst, dass Maggies Mörder diesen Flug nehmen würde, und nur deshalb war er an Bord.

Es überraschte ihn ein wenig, dass der Mann ebenfalls erster Klasse flog. Er saß so nahe bei ihm, dass Keller ihn fast hätte berühren können, wenn er die Hand ausstreckte. Keller saß direkt am Gang auf 3-B, und Maggies Mörder war eine Reihe vor ihm auf der anderen Seite des Mittelgangs auf 2-E.

Angenommen, sie wären nebeneinander zu sitzen gekommen. Angenommen, der Mann hätte sich als Plaudertasche entpuppt.

Das war zwar unwahrscheinlich, aber man konnte nie wissen. Kellers Sitznachbarin war eine Frau mittleren Alters, die bereits in das Buch vertieft war, das sie mitgebracht hatte und das dick genug war, um sie für mehrere Flüge um die Welt mit Lesestoff zu versorgen. Sie hatte keine Probleme damit, Keller zu ignorieren. Entsprechend hatte auch er keine Hemmungen, sie zu ignorieren.

Die Maschine legte pünktlich vom Flugsteig ab. In der ersten Klasse gab es noch einen freien Platz, aber Roger tauchte nicht in letzter Minute auf, um ihn in Beschlag zu nehmen. Keller ließ sich in den breiten, bequemen Sitz zurücksinken, streckte die Beine aus und entspannte sich.

 
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Es war nicht das erste Mal, dass Keller erster Klasse flog. In der Regel vermied er das, weil es absurd teuer war, und wozu auch? Man hatte einen breiteren Sitz und mehr Beinfreiheit und bekam besseres Essen und kostenlose Getränke. Und wenn schon. Man kam deshalb keine Minute früher an.

Fiel man in der ersten Klasse außerdem nicht stärker auf? Konnten sich die Stewardessen, weil sie einem mehr Aufmerksamkeit schenkten, nicht besser an einen erinnern?

Keller spähte immer wieder unauffällig über den Mittelgang, um sich einen Eindruck von dem Mann auf 2-E zu verschaffen. Flog dieser Dreckskerl immer erster Klasse? Leisten konnte er es sich vermutlich. In seiner Branche verdiente man so gut, dass man bei den Spesen nicht auf jeden Cent achten musste. Er konnte sich zwar nicht erinnern, was sie diesem Verkleidungskünstler geboten hatten, damit er Maggie umbrachte; er war nicht einmal sicher, ob Dot ihm das überhaupt gesagt hatte. Aber vermutlich war es vergleichbar mit dem, was er selbst für einen Auftrag erhielt, und das reichte für einige Flugtickets.

Dem Dreckskerl gefiel es anscheinend, Geld auszugeben. Kaufte sich Hüte und Schals und Jacketts und ließ sie einfach irgendwo liegen. War es nicht riskant, seine Klamotten einfach wegzuwerfen? Wahrscheinlich nicht. Wenn man sich neuer Sachen entledigte, wenn man sie nicht mehr brauchte, befanden sich keine Wäschereibelege oder sonst etwas in ihnen, womit sich ihr Besitzer feststellen ließ. Außerdem ließ man die Sachen nicht direkt am Tatort zurück. Wenn daher ein Hut oder ein Jackett irgendwo auf der Straße lagen, kam niemand auf die Idee, die Sachen in ein forensisches Labor zu bringen. Sie landeten im Müll oder in einem Secondhand-Laden.

Wo dieser komische Vogel sie nie mehr zu sehen bekäme. Er war nämlich nicht der Typ, der in Secondhand-Läden einkaufte.

Der Mann war kein Briefmarkensammler.

Unwillkürlich musste Keller bei diesem Gedanken grinsen. Er fand, er stellte ihn auf eine Stufe mit Sherlock Holmes. Der Mann flog erster Klasse, der Mann kaufte jede Menge Kleidung, die er sofort wieder wegwarf, und der Mann gab Geld aus, als wüsste er nicht, wohin damit. Das hieß, er konnte kein Briefmarkensammler sein, denn ein Briefmarkensammler wusste immer, wohin mit seinem Geld. Er kaufte sich Briefmarken damit. Wurde Keller vor die Wahl gestellt, sich zwischen Economy und First Class zu entscheiden, begann er automatisch, den Differenzbetrag in potentielle philatelistische Erwerbungen umzurechnen. Bei diesem Flug hätte der Preisunterschied für zwei hochwertige Marken aus dem Satz gereicht, den Kanada 1898 anlässlich von Victorias Krönungsjubiläum herausgebracht hatte. Hätte Keller die Wahl gehabt, hätte er sich für den unbequemeren Sitz und die Marken entschieden. Der Mörder auf der anderen Seite des Mittelgangs wusste nichts Besseres mit Briefmarken anzufangen, als sie auf ein Kuvert zu kleben.

Als Keller wieder einmal zu dem Mann hinüberschaute, trug er eine schwarz-silberne Schlafmaske. Sein Kopf war nach hinten gesunken, die Hände lagen entspannt in seinem Schoß. Da hatte dieser Kerl eben ein unschuldiges Mädchen umgebracht, und doch schlief er friedlich wie ein Lamm.

Eines stand für Keller fest: Er war froh, dass dieser Dreckskerl keine Briefmarken sammelte.

 
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Als sie das Essen brachten, legte der Mann auf der anderen Seite des Mittelgangs einen gesunden Appetit an den Tag. Der Mord, den er in der Crosby Street begangen hatte, schien ihm nicht auf den Magen geschlagen zu haben. Das konnte Keller, der selbst ordentlich Hunger hatte, dem Kerl nicht verdenken. Hatte ihm jemals nach der Durchführung eines Auftrags das Essen nicht geschmeckt?

Soweit er sich erinnern konnte, nicht.

Das Essen, das sie erhielten, war sicher deutlich besser als der Fraß, den sie den armen Schweinen in der Economy Class vorsetzten, und man bekam sogar Gläser und Porzellangeschirr und richtiges Besteck statt des Plastikmülls, mit dem sie sich im hinteren Ende des Flugzeugs begnügen mussten.

Keller schaute auf die andere Seite des Gangs. Der Killer war mit dem Essen fertig und trank seinen Wein. In der ersten Klasse bekam man eine halbe Flasche Wein, weißen oder roten, und Maggies Mörder hatte sich für roten entschieden. Außerdem hatte er sich vor dem Essen schon einen Scotch on the rocks genehmigt. Warum auch nicht? Sein Auftrag war erledigt, er war auf dem Weg nach Hause, und für ihn bestand keine Notwendigkeit mehr, einen klaren Kopf zu behalten. Von Roger wusste er ja nichts.

Keller, der Wein nicht besonders mochte, hatte dankend abgelehnt und sich vor dem Essen mit einem Orangensaft begnügt. Er wusste, dass das kein Grund war, sich dem anderen Mann moralisch überlegen zu fühlen. Trotzdem tat er das. Er saß da und beobachtete den Kerl, wie er bei dem blutroten Wein mit den Lippen schnalzte.

 
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In Jacksonville schaffte es Keller, das Flugzeug als Erster zu verlassen. Er führte die Schlange der Passagiere an und hielt nach Roger Ausschau. Er blickte sich nach einer braunen Windjacke und einer Baseballkappe um, aber auch nach dem Gesicht, das er in dem Café an der Ecke gesehen hatte.

Der Mann war nirgendwo zu sehen.

Als der Killer aus dem Flugzeug kam, stand Keller bereits unter dem Monitor mit den Abflugzeiten und tat so, als studierte er ihn. Dann folgte er dem Mann zum Delta-Gate, wo in etwas weniger als einer Stunde eine Maschine nach Atlanta starten sollte.

Keller musste hilflos zusehen, wie der Mann an den Schalter ging und sein Ticket vorzeigte. Es gab jede Menge Direktflüge von New York nach Atlanta. Über Jacksonville dorthin zu fliegen, war ein Umweg, der eindeutig dem Zweck diente, einen Verfolger abzuschütteln. Und wenn man erster Klasse flog, dachte Keller, war es auch ziemlich kostspielig. Egal, wie viel sie diesem Dreckskerl zahlten, musste es nicht gerade wenig sein, wenn er es sich leisten konnte, so hohe Spesen zu machen.

Und Keller war inzwischen sicher, dass Atlanta nicht der letzte Stopp seiner Reise wäre. Atlanta war ein Delta-Knotenpunkt, und der Killer würde dort einen Anschlussflug nehmen, und kein Mensch konnte sagen, wohin der ging.

Ihm nach Jacksonville zu folgen, war einfach gewesen, aber jetzt wurde die Sache schon schwieriger. Der Flug nach Atlanta konnte durchaus in allen Klassen ausgebucht sein. Und selbst wenn Keller noch einen Platz bekam, musste er damit rechnen, die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, wenn er die Maschine bestieg. Wenn der Kerl so viele Sicherheitsvorkehrungen traf, schaute er sich bestimmt nach bekannten Gesichtern um. Egal, wo Keller saß, in der ersten Klasse oder in der letzten Reihe der Economy Class, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er entdeckt wurde.

Also? Egal, wo Roger war, hatte er offensichtlich die Witterung seiner Beute verloren. Wenn er bisher nicht aufgetaucht war, würde er auch nicht in einer Airport-Lounge in Atlanta oder Des Moines oder Keokuk auf der Lauer liegen, oder wohin Mr. Kein-Hut-Kein-Schal als Nächstes fliegen würde. Es war natürlich nicht ganz auszuschließen, dass Roger Namen und Adresse des Killers herausgefunden hatte, wie ihm das im Fall einiger früherer Opfer gelungen war. Das hätte Rogers Abtauchen erklärt. Vielleicht war er erst einmal nach Hause geflogen, um dem Killer erst in einer Woche oder einem Monat einen Besuch abzustatten und ihn dann in aller Ruhe auszuschalten.

Es gab nichts, was Keller daran ändern konnte. Was also tun? Diesem mordlustigen Scheißkerl kreuz und quer durchs ganze Land folgen, bis er endlich in seine Garage fuhr? Und selbst wenn ihm das gelang, was dann? Er konnte schon vor sich sehen, wie er auf der Veranda des Killers sein Lager aufschlug und geduldig darauf wartete, dass Roger endlich auftauchte.

Zeit einzupacken, sagte sich Keller. Zeit, ein Ticket für den nächsten Flug nach New York zu kaufen, diesmal allerdings in der Holzklasse. Er hatte schon genügend Geld für einen bequemen Sitz ausgegeben. Es gab bessere Möglichkeiten, sein Geld loszuwerden.

Apropos, gab es in Jacksonville vielleicht ein paar Briefmarkenhändler? Er hatte seinen Katalog nicht dabei, aber er hatte immer ein paar Listen in seiner Geldbörse, damit er nachsehen konnte, welche Marken er von bestimmten Ländern brauchte. Er konnte im Branchenbuch nachsehen und ein paar Händler aufsuchen, bevor er nach New York zurückflog. Sein Ausflug musste nicht total umsonst sein.

Worauf wartete er also noch?

Egal, was es war, hatte es zur Folge, dass er in der Nähe des Flugsteigs für die Maschine nach Atlanta blieb. Dort war er auch noch, als der Mann, der Maggie umgebracht hatte, an den Schalter ging und kurz mit der Frau dahinter redete, bevor er sich in die Richtung entfernte, in die sie gedeutet hatte.

Wohin wollte er? Nicht auf die Toilette. Sie war direkt gegenüber dem Gate und deutlich gekennzeichnet.

Ach so, klar.

Keller folgte ihm und machte kurz an einem Kiosk Halt, um Zigaretten zu kaufen. Wenn er sich täuschte, wenn der Mann nicht dahin wollte, wohin er glaubte, dass er wollte, hatte er die Packung Winston umsonst gekauft. Doch dann sah er ein Hinweisschild für die Raucher-Lounge, und dorthin war der Mann unterwegs.

Keller ließ sich etwas zurückfallen und wartete, bis der Mann die Lounge betreten und Platz genommen hatte. Als Keller die Tür öffnete und nach drinnen ging, hatte sich der Mann bereits eine Zigarette angezündet. Die Raucher-Lounge war ein von Glaswänden eingefasster Bereich, dessen Einrichtung sich auf zwei Reihen Couchen und jede Menge Standaschenbecher beschränkte. Der Killer saß an einem Ende des Raums, am anderen waren, wegen des Qualms kaum sichtbar, zwei Frauen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Und natürlich rauchten. Niemand begab sich in dieses stinkende Kabuff, wenn er nicht rauchen wollte.

Keller schüttelte eine Zigarette aus seinem Päckchen und steckte sie zwischen seine Lippen. Nachdem er seine Taschen abgeklopft und in die Innentasche seines Jacketts gegriffen hatte, steuerte er auf den Mann zu. »Entschuldigung«, sagte er. »Haben Sie vielleicht Feuer?« Und als in den Augen des Mannes Wiedererkennen aufleuchtete, fügte er hinzu: »Waren Sie nicht in der Maschine aus Newark? Was habe ich bloß mit meinen Streichhölzern gemacht.«

Der Mann fasste in eine seiner Taschen und holte ein Feuerzeug heraus. Keller beugte sich zu der Flamme hinab.