DREISSIG


»Keller«, sagte sie. »Ich war fest davon überzeugt, du wärst tot.«

»Tot? Ich habe doch grade mit dir telefoniert.«

»Davor«, sagte sie. »Jetzt steh doch nicht so rum. Komm rein. Was war, Keller? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du die Crosby Street raufgegangen. Wo hast du die letzten vier Tage gesteckt?«

»In Jacksonville.«

»Jacksonville, Florida?«

»Das ist das einzige Jacksonville, das ich kenne.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass es auch in North Carolina eins gibt«, sagte sie. »Und sicher gibt es auch noch anderswo welche. Aber jetzt, was hast du in Jacksonville, Florida, gemacht?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Ich war im Kino«, sagte er. »Ich habe bei ein paar Briefmarkenhändlern vorbeigeschaut. In meinem Motelzimmer ferngesehen.«

»Einen Makler angerufen? Dir ein paar Häuser zeigen lassen?«

»Nein.«

»Das ist ja schon mal etwas. Aber ohne wie deine Mutter klingen zu wollen, Keller, warum hast du dich nicht gemeldet?«

Er dachte kurz nach. »Weil ich mich geschämt habe.«

»Du hast dich geschämt?«

»Ja, so kann man es wohl nennen.«

»Worüber hast du dich geschämt?«

»Über mich.«

Sie verdrehte die Augen. »Sehe ich wie eine HNO-Ärztin aus, Keller?«

»Eine HNO-Ärztin?«

»Warum muss ich dir eigentlich immer alles einzeln aus der Nase ziehen? Natürlich hast du dich über dich geschämt. Über jemand anderen kann man sich nicht schämen. Weswegen hast du dich über dich geschämt?«

Warum rückte er nicht damit heraus? Er holte tief Luft. »Ich habe mich über etwas geschämt, was ich getan habe. Ich habe einen Mann umgebracht, Dot.«

»Du hast einen Mann umgebracht.«

»Ja.«

»Möchtest du dich setzen, Keller. Soll ich dir was zu trinken bringen?«

»Nein, danke. Nicht nötig.«

»Jedenfalls hast du einen Mann umgebracht.«

»In Jacksonville.«

»Das ist, was du machst, Keller. Das machst du schon dein ganzes Leben lang. Na ja, vielleicht nicht dein ganzes Leben lang, als Junge vielleicht noch nicht, aber …«

»Diesmal war es was anderes, Dot.«

»Was war daran anders?«

»Ich sollte ihn nicht töten.«

»Du sollst niemanden töten, Keller. Das bekommen die Kinder schon in der Sonntagsschule beigebracht. Es ist gegen die Regeln. Aber du verstößt schon eine ganze Weile gegen die Regeln.«

»Ich habe gegen meine eigenen Regeln verstoßen«, sagte er. »Ich habe jemand getötet, den ich nicht hätte töten sollen.«

»Wen?«

»Ich weiß nicht mal, wie er heißt.«

»Ist das, was dich stört? Dass du seinen Namen nicht weißt?«

»Dot, ich habe unseren Mann getötet. Ich habe den Kerl getötet, den wir engagiert haben. Er ist nach New York gekommen, um einen Auftrag auszuführen, einen Auftrag, den wir ihm erteilt haben, und er hat alles genau so gemacht, wie er es machen sollte, und ich bin ihm von New York nach Jacksonville gefolgt und habe ihn kaltblütig ermordet.«

»Kaltblütig.«

»Vielleicht auch heißblütig. Keine Ahnung.«

»Komm mit in die Küche«, sagte sie. »Setzt dich erst mal. Ich mache dir eine Tasse Tee, und dann erzählst du mir alles.«

 
• • •
 

»Das war’s im Wesentlichen«, sagte er. »Ein Grund, warum ich in Jacksonville geblieben bin, war, dass ich mir erst klar darüber werden wollte, warum ich es getan habe, bevor ich zurückkomme und es dir erzähle.«

»Und?«

»Na ja, ich verstehe es immer noch nicht. Ich hätte noch einen Monat bleiben können und hätte es nicht herausbekommen.«

»Irgendeine Ahnung musst du doch haben.«

»Na ja, ich war frustriert«, sagte er. »Das hat sicher eine gewisse Rolle gespielt. Wie viele Monate zerbrechen wir uns jetzt schon wegen Roger den Kopf? Mit dieser Aktion wollten wir ihn endgültig aus dem Verkehr ziehen. Ich habe ihn sogar schon ziemlich gut zu sehen bekommen, aber dann ist er mir durch die Lappen gegangen. Entweder hat er den Braten gerochen, oder der Kerl, der Maggie getötet hat, ist ihm entwischt. Jedenfalls bin ich bei Roger nicht zum Zug gekommen.«

»Und deshalb musstest du einfach jemand umbringen.«

Darüber dachte er kurz nach, dann schüttelte der den Kopf. »Nein, es musste dieser Typ sein.«

»Warum?«

»Es ist total verrückt, Dot. Ich war sauer auf ihn.«

»Weil er deine Freundin umgebracht hat.«

»Es ist vollkommen widersinnig, findest du nicht auch? Er war es, der abgedrückt hat, bloß dass er gar nicht abgedrückt hat, weil er keine Schusswaffe verwendet hat, nicht, wenn es wie ein Unfall aussehen sollte. Wie hat er es übrigens gemacht, weißt du das zufällig?«

»Er hat sie ertränkt.«

»Ertränkt? In einem Loft im vierten Stock?«

»In ihrer Badewanne.«

»Und es hat wie ein Unfall ausgesehen?«

»Jedenfalls hat es nicht nach was anderem ausgesehen. Entweder ist sie ohnmächtig geworden, oder sie ist ausgerutscht und hat sich den Kopf am Wannenrand angeschlagen. Dabei ist ihr Kopf unter Wasser geraten, aber sie hat trotzdem noch tief Luft geholt.«

»Wasser in der Lunge?«

»So heißt es.«

»Dieses Schwein«, sagte Keller. »Er hat sie ertränkt. Wenigstens war sie nicht bei Bewusstsein, als es passiert ist.«

»Vielleicht.«

»Wie könnte er es sonst getan haben? Sie muss vorher bewusstlos gewesen sein.«

»Um ihn das zu fragen, ist es zu spät«, sagte Dot. »Bloß, wenn er sie bewusstlos schlägt, muss er sie ausziehen und in die Wanne legen, und dabei könnte er Spuren hinterlassen, die nicht zu dem Eindruck passen, den er erwecken will.«

»Wie hätte er es sonst anstellen können?«

»Wie würdest du es machen, Keller?«

Er dachte stirnrunzelnd nach. »Sie mit einer Pistole bedrohen. Oder meinetwegen auch mit einem Messer. Sie zwingen, sich auszuziehen und die Wanne einlaufen zu lassen, und dann hineinzusteigen.«

»Und dann ihren Kopf unter Wasser drücken?«

»Das Einfachste wäre, sie an den Füßen hochzuheben. Dann gerät der Kopf automatisch unter Wasser.«

»Und wenn sie sich wehrt?«

»Hilft ihr das nichts. Und überhaupt spritzt sie nur ein bisschen mit Wasser rum.«

»Vor ein paar Jahren«, sagte sie, »bei einem deiner Jobs – aber frag mich nicht, bei welchem – ist ein Mann ertrunken.«

»Das war in Salt Lake City.«

»Hast du es damals so gemacht? Ihm eine Pistole unter die Nase gehalten?«

»Er war bereits in der Badewanne, als ich aufgetaucht bin. Er war eingenickt. Ich hatte eine Pistole, ich wollte ihn eigentlich erschießen, aber er hat in der Wanne gesessen und hat geschlafen.«

»Und du hast ihn einfach an den Füßen hochgehoben?«

»Davon hatte ich mal gehört«, sagte er, »vielleicht auch gelesen, keine Ahnung. Ich wollte sehen, ob es funktioniert.«

»Und? Hat es das?«

»Bestens. Er ist zwar wach geworden, aber er konnte nichts dagegen tun. Und er war ein großer, kräftiger Kerl. Ich habe das verspritzte Wasser aufgewischt. Wahrscheinlich hat es der Typ in der Crosby Street auch so gemacht, mit einem Handtuch alles aufgewischt.«

»Er hat das Wasser laufen lassen.«

»Und dann? Ist die Wanne übergelaufen? Wenn sie übergelaufen ist, hat sich nicht mehr feststellen lassen, ob es zu einem Kampf gekommen ist.«

»Und?«

»Was es sonst noch zur Folge hatte?« Er überlegte eine Weile. »Es hat jedenfalls so ausgesehen, als wäre es passiert, als das Wasser eingelaufen ist. Sie ist ausgerutscht, als sie in die Wanne gestiegen ist, sie hat das Bewusstsein verloren und ist ertrunken, bevor sie wieder zu sich gekommen ist.«

»Oder Drogen. Sie ist in die Wanne gestiegen, als das Wasser eingelaufen ist, und ist von den Drogen, die sie genommen hat, bewusstlos geworden.«

»Was für Drogen?«

»Sie war Künstlerin, hat in SoHo gelebt.«

»In NoHo.«

»Häh?«

»SoHo ist der Teil südlich der Houston«, erklärte er ihr. »Davon kommt der Name, South of Houston Street. Sie hat aber ein paar Straßen nördlich der Houston gewohnt. Deshalb heißt dieses Viertel NoHo.«

»Danke für den Erdkundeunterricht, Keller. Jedenfalls, sie war in einer Bar, hat einen draufgemacht, einen Typen aufgegabelt und nach Hause abgeschleppt. Da ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ein bisschen mit Chemie nachgeholfen hat. Aber egal, wir kommen vom Thema ab. Wo ist das Wasser hin?«

»Das Wasser?«

»Das Wasser. Wo ist es hingeflossen?«

»Auf den Boden natürlich«, sagte Keller.

»Und dann?«

»Ach so.«

»Klar. Und die Leute unter ihr haben bei ihr geklopft, und als sie nicht reagiert hat, haben sie die Polizei gerufen. So kann man dem Auftraggeber auch mitteilen, dass der Job ausgeführt worden ist. Man braucht nicht zu warten, bis der Geruch die Nachbarn alarmiert. Daran hättest du in Salt Lake City auch denken sollen.«

»Das stand nicht zur Debatte«, sagte er. »Außerdem war es ein Haus in einem Vorort. Wenn da die Wanne überläuft, fließt das Wasser in den Keller.«

Dot nickte. »Es könnte tagelang laufen, ohne dass jemand was merkt.«

»Wahrscheinlich.«

»Aber was für eine Wasserverschwendung. Und das auch noch in Salt Lake City? Das liegt doch mitten in der Wüste, oder?«

»Tja.«

»Du hast natürlich recht«, sagte sie. »Wen interessiert das schon? Wie sind wir überhaupt darauf gekommen? Ach so, klar, du wolltest wissen, wie sie gestorben ist.«

»Tatsache ist jedenfalls«, sagte er, »dass ich den Kerl, der sie umgebracht hat, umbringen wollte. Und das ist völlig widersinnig, Dot. Wenn man wollte, könnte man es sogar so sehen, dass ich derjenige war, der sie getötet hat.«

»Weil du, wenn du dich nicht auf sie eingelassen hättest …«

»Nein, in einem viel direkteren Sinn. Ich habe den Auftrag erteilt, ich habe sie umbringen lassen.«

»Wenn du es schon so genau nehmen willst«, sagte Dot, »dann war ich es, die den Auftrag erteilt und alles ins Rollen gebracht hat.«

»Vielleicht war ich in Wirklichkeit auf dich wütend«, sagte er. »Und auf mich. So hat es sich aber nicht angefühlt. Ich habe im Flugzeug gesessen und diesen Kerl gehasst, Dot. Ihn und sein Toupet und seinen falschen Schnurrbart und seine ständigen Verkleidungen. Dabei hat er nur getan, was er tun sollte und wofür wir ihn bezahlt haben, und ich habe ihn dafür gehasst.«

»Langsam fange ich an zu verstehen, was du meinst«, sagte sie.

»Und der andere, Roger, ist uns entwischt. Wir haben diesen Wahnsinnsaufwand betrieben, und Roger hat währenddessen friedlich geschlafen – oder was er eben sonst gemacht hat – und wir müssen uns weiter Gedanken über ihn machen. Vielleicht hat er in der Crosby Street auf der Lauer gelegen, als die Nachbarn die Polizei gerufen haben, vielleicht hat er gesehen, wie sie die Leiche nach draußen gebracht haben. Roger habe ich nicht vor die Flinte bekommen, aber dafür diesen Kerl, auf den ich stinksauer war. Also habe ich abgedrückt.« Er schüttelte den Kopf. »Roger ist inzwischen zu Hause und ärgert sich über sein Pech. Er weiß nicht, dass ich ihm die Drecksarbeit abgenommen habe.«

»Wie hast du es angestellt, Keller?«

»Ich bin ihm in den Raucherbereich gefolgt und habe ihn erstochen.«

»Du hast ihn erstochen?«

»Ich habe mich vorgebeugt, damit er mir Feuer geben konnte, und ich hatte ein Messer in der Hand, und plötzlich hat es in seiner Brust gesteckt.«

»Ein Messer.«

»Ja.«

»Wie hast du es durch die Sicherheitskontrolle gebracht?«

»Es war schon da.«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Ich musste erster Klasse fliegen«, sagte er, »und dort servieren sie einem richtiges Essen, wie in einem Restaurant. Inklusive Stoffserviette, Porzellangeschirr und Metallbesteck. Als ich mit dem Essen fertig war, habe ich das Messer einfach eingesteckt.«

»Du hast es bereits vorgehabt.«

»Daraus ich habe jedenfalls gelernt«, sagte er, »wie man sich bewaffnen kann, wenn man mal durch den Metalldetektor gegangen ist. Zu diesem Zeitpunkt bestand nämlich noch die Möglichkeit, dass Roger in Jacksonville auf uns wartet.«

»Und dann hättest du ihn mit deinem Buttermesser abgemurkst.«

»Es war kein Buttermesser.«

»Nein, es war bestimmt so ein Riesendolch wie der, mit dem Davy Crockett einen Bären getötet hat.«

»Die Klinge hatte einen Wellenschliff«, sagte er. »Damit konnte man Fleisch schneiden.«

»Um Himmels willen. Und jeder darf so eine tödliche Waffe haben? Sie sollten einem die Fingerabdrücke abnehmen, bevor sie die Dinger verteilen.«

»Es hat jedenfalls hervorragend funktioniert«, sagte er. »Zwischen die Rippen und mitten ins Herz. Er wäre nicht schneller gestorben, wenn ich ein Zwölf-Inch-Bowiemesser verwendet hätte. Am anderen Ende der Raucherlounge haben zwei Frauen miteinander geredet, und sie haben nichts mitbekommen.«

»Und du hast das Messer entsorgt.«

»Und die Zigaretten.«

»Und hast ein paar Tage in Jacksonville verbracht und über alles nachgedacht.«

»Ja.«

»Und nicht zum Telefon gegriffen.«

»Ich habe es mir überlegt.«

»Das kommt dem ja schon ziemlich nahe. Wenn Gedanken Flügel hätten, hätte ich sie flattern gehört. Stattdessen habe ich gedacht, du wärst tot.«

»Das tut mir leid, Dot.«

»Ich dachte, Roger hätte dich und den anderen Killer erwischt. Ich dachte, er hätte einen Hattrick geschafft.«

»Für einen Hattrick sind aber drei nötig.«

»Weiß ich, Keller. Der alte Mann stand auf Eishockey, weißt du noch? Kannte die Namen aller Rangers-Spieler bis zurück zu den Anfängen des Teams. Ich habe immer Spiele mit ihm geschaut.«

»Ich wusste gar nicht, dass du auf Eishockey stehst.«

»Tue ich auch nicht. Ich habe es sogar gehasst. Aber was ein Hattrick ist, weiß ich. Drei Tore in einem Spiel, vom selben Spieler erzielt.«

»Genau.«

»Deshalb dachte ich, Roger hätte einen Hattrick geschafft.«

»Roger hat die ganze Zeit nur auf der Bank gesessen«, sagte Keller. »Er hat in diesem Hauseingang gestanden und Däumchen gedreht, während ich den Killer für ihn ausgeschaltet habe. Aber auch so wäre es kein Hattrick. Wenn er mich und den Killer getötet hätte, wären das zwei. Wer ist der Dritte?«

»Deine Freundin.«

»Meine – Maggie meinst du?«

»Ja. Ich soll sie zwar nicht deine Freundin nennen, aber ich vergesse es immer wieder.«

»Sie geht aber nicht auf Rogers Konto.«

»Bist du dir da sicher, Keller?«

Er sah sie an und versuchte, ihre Gedanken zu lesen. »Wir haben gesehen, was passiert ist, Dot. Sie hat einen Typen mit nach Hause gebracht, und als er gegangen ist, hat unser Killer bei ihr geklopft, und dann ist er gegangen, und kurz darauf ist bei dem Maler unter ihr Wasser durch die Decke gekommen.«

»Richtig.«

»Der Typ, den sie nach Hause mitgenommen hat«, sagte Keller. »Wenn er Roger war … das heißt, er kann es gar nicht gewesen sein, weil wir ihn gesehen haben. Außerdem hat sie noch gelebt, als er gegangen ist. Er hat seine Schlüssel vergessen, und sie hat sie ihm runtergeworfen.«

»Seine Geldbörse.«

»Dann eben seine Geldbörse. Roger hat jedenfalls nichts weiter getan, als in einem dunklen Hauseingang rumzustehen und in einem Café zu essen, und das ist das einzig Gute an der ganzen Sache, Dot. Weil ich ihn nämlich bei dieser Gelegenheit gut zu sehen bekommen habe. Damals hatte ich keine Ahnung, wer wer war, aber inzwischen weiß ich es, und ich werde ihn erkennen, wenn ich ihn wieder sehe.«

»Den Mann mit der Baseballkappe und der Windjacke.«

»Genau, Roger.«

»Du würdest ihn erkennen, wenn du ihn sähst.«

»Auf jeden Fall.«

»Schon möglich, dass du ihn erkennen würdest«, sagte sie. »Aber das lässt sich nun nicht mehr überprüfen. Du wirst ihn nämlich nicht mehr zu sehen bekommen.«

»Häh?«

»Keller«, sagte sie, »setz dich lieber mal.«

»Ich sitze bereits. Schon seit zwanzig Minuten.«

»Und das ist auch gut so«, sagte Dot. »Steh jetzt auch nicht auf, Keller. Bleib, wo du bist.«

 
• • •
 

Es war wirklich gut, dass er saß. Was sie ihm jetzt erzählte, hätte ihn vielleicht nicht unbedingt umgehauen, aber ausgeschlossen hätte er es nicht. Sicher war nur, dass es schwer zu verdauen war.

»Er war Roger«, sagte er.

»Richtig.«

»Der Typ mit dem Hut und dem Schal. Der Typ, der in dem Haus gegenüber am Fenster gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht hat.«

»Das machen die meisten Raucher so, Keller. Sie rauchen eine nach der anderen, nicht alle gleichzeitig.«

»Der Kerl, der zu Maggies Loft hochgegangen ist. Wenn er Roger war, warum hat er dann Maggie umgebracht? Er hat nichts dafür bekommen. Er hat den Auftrag sogar abgelehnt. Und dann hat er sich auf die Lauer gelegt, um die Konkurrenz auszuschalten.«

»Vollkommen richtig.«

»Er hat also das Haus beobachtet und darauf gewartet, dass der Killer zuschlägt. Dachte er, der Typ den sie mit zu sich rauf genommen hat, wäre der Killer? Wohl kaum. Er muss gesehen haben, was wir gesehen haben, dass sie ihm die Geldbörse runtergeworfen hat. Er hat gewusst, dass sie noch am Leben war, als er zu ihr raufgegangen ist.«

»Und er wusste, dass sie tot war, als er gegangen ist.«

»Womit er sich der Möglichkeit beraubt hat, den Mann ins Visier zu nehmen, der den Auftrag hatte, sie zu töten. Deshalb hat er seinen Hut weggeworfen und ist nach Hause gegangen.«

»Mit dir dicht auf den Fersen.«

»Warum ist er aus New York abgereist, ohne den Mann zu töten, den er eigentlich töten wollte? Und warum hat er dem Killer die Arbeit abgenommen? Was hat er damit bezweckt? Dass er das Gesicht verliert und sich selbst umbringt? So was mag in Japan funktionieren, aber …«

»Er hat es bereits getan, Keller.«

»Was hat er getan?«

»Den Killer ausgeschaltet. Und übrigens können wir aufhören, ihn so zu nennen. Er hieß Marcus Allenby. Diesen Namen hat er zumindest angegeben.«

»Wo?«

»Im Woodleigh«, sagte sie. »Und er hatte zwei andere Namen auf dem Ausweis in seiner Geldbörse stehen, aber Allenby war keiner davon, und er hat sich mit einem Laken erhängt. Das alles war immerhin so aufsehenerregend, dass sie in der Post ein Bild von ihm gebracht haben. Auf dem Foto hat er zwar weder die Baseballkappe noch die Windjacke getragen, aber er war es. Eindeutig.«

»Roger ertränkt Maggie«, rekapitulierte Keller. »Dann geht er ins Woodleigh, in Allenbys Zimmer … Allenby?«

»Irgendwie müssen wir ihn ja nennen.«

»Verschafft sich Zutritt dazu, knüpft den Kerl auf und geht wieder.«

»Ich glaube, er war vorher schon im Woodleigh. Er ist Allenby ins Hotel gefolgt, und in sein Zimmer ist er wahrscheinlich gekommen, indem er sich als Cop oder Hotelangestellter ausgegeben hat. Das dürfte nicht allzu schwer gewesen sein. Er hat Allenby überrumpelt.«

»Und ihn umgebracht? Warum ist er dann noch mal zurückgekommen, nachdem er Maggie getötet hat?«

»Vielleicht hat er Allenby nur gefesselt und noch lebend im Hotel zurückgelassen«, sagte sie. »Und nachdem er sie umgebracht und das Wasser laufen gelassen hat, damit sich der Todeszeitpunkt feststellen lässt, ist er noch mal ins Woodleigh gefahren und hat das NICHT STÖREN -Schild entfernt, sich mit dem Schlüssel, den er Allenby bei seinem ersten Besuch abgenommen hat, aufgeschlossen und den armen Teufel mit einem Bettlaken erhängt. Und dann hat er den Abschiedsbrief geschrieben.«

»Welchen Abschiedsbrief?«

»Habe ich das nicht erwähnt. Auf Hotelbriefpapier. ›Ich kann das nicht mehr länger tun. Möge Gott mir vergeben.‹«

»In Allenbys Handschrift?«

»Wie will das jemand nachprüfen?«

Keller nickte. »Maggie sieht wie ein Unfall aus, aber der Kunde, der den Auftrag erteilt hat …«

»Also wir.«

»… weiß, dass jemand nachgeholfen hat, und denkt, dass Allenby alles zu viel geworden ist und er so von Gewissensbissen geplagt worden ist, dass er sich selbst das Leben genommen hat. Entweder hat Roger Allenby am Leben gelassen, als er losgezogen ist, um Maggie umzubringen …«

»Ziemlich riskant.«

»… oder er hat ihn schon bei seinem ersten Besuch umgebracht, denn die Gefahr, dass die Leiche entdeckt würde, war sehr gering. Und selbst wenn, was hätte schon groß passieren können? Da er aber noch mal zurückgekommen ist, konnte er aus Allenbys Zimmer einen Anruf machen, damit sich der Todeszeitpunkt unabhängig von den forensischen Beweisen anhand der Telefonunterlagen feststellen ließ.«

Keller runzelte die Stirn. »Viel zu kompliziert und zu vieles, was schiefgehen kann.«

»Er war raffiniert.«

»Apropos raffiniert. Hast du nicht gesagt, er hat sich mit einem Bettlaken erhängt? Das machen Häftlinge im Gefängnis, aber würdest du dich mit einem Laken aufhängen, wenn dir noch andere Dinge zur Verfügung stünden?«

»Ich würde mich gar nicht aufhängen, Keller.«

»Trotzdem, mit einem Laken. Warum nicht mit einem Gürtel?«

»Vielleicht trug Allenby Hosenträger. Oder es war ein Teil von Rogers Spielchen.«

»Er hat gern Spielchen gespielt«, pflichtete er ihr bei. »Das Ganze war ein Spiel für ihn, oder? Ich meine, wer fährt schon kreuz und quer durch die Gegend, um Leute umzubringen, die in derselben Branche sind wie man selbst. Dahinter stand vermutlich die Absicht, sein Einkommen zu erhöhen. Bloß, hätte er das damit überhaupt erreicht? Letztlich hat es ihn nur eine Menge Zeit gekostet, von dem Geld für die Flugtickets erst gar nicht zu reden.«

»Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten also nicht besonders clever, würdest du sagen?«

»Dafür konnte er sich schlauer vorkommen als wir. Schlauer als alle anderen. Ständig die Kleider zu wechseln, sich einen Schnurrbart anzukleben und ihn wieder abzuziehen. Lauter billige Tricks. So was würde vielleicht irgend so ein Trottel von der CIA machen, aber ein Profi?«

»So schlau war er nun auch wieder nicht, Keller. Er hat das Pärchen in Louisville umgebracht, das in deinem alten Motelzimmer gelandet ist, und dann den Kerl in Boston, der deinen Mantel geklaut hat.«

»Da habe ich Glück gehabt.«

»Eher war er ein bisschen zu schlau. Wahrscheinlich hat er Allenby schnell entdeckt. Wie wir. Allenby hat nicht damit gerechnet, von irgendjemand entdeckt zu werden – sieht man mal von seinem Opfer ab. Und dann hat Roger das lange Warten satt bekommen – was ich gut nachvollziehen kann. Uns ist es auch gewaltig auf die Nerven gegangen. Du hast irgendwann sogar vorgeschlagen, beide umzubringen, damit das Ganze endlich ein Ende hat.«

»Ja, stimmt.«

»Warum noch warten, nachdem er Allenby entdeckt hatte? Er brauchte ihm nur in sein Hotelzimmer zu folgen und ihn umzubringen, was er ja auch getan hat.«

»Aber Maggie hätte er nicht umzubringen gebraucht«, sagte Keller.

»Wie du dich vielleicht erinnerst, wurde der Auftrag aber immer erledigt. Das war Rogers Markenzeichen. Er hat immer gewartet, bis der Killer den Job erledigt hat, und dann hat er sich den Killer vorgenommen. Diesmal hat Roger den Killer schon früh aus dem Verkehr gezogen, weshalb er es als seine Aufgabe angesehen hat, die Sache selbst zu Ende zu bringen. Vielleicht dachte er, das gehörte sich für einen Profi.«

»Vielleicht.«

»Aber es ist ihm zum Verhängnis geworden.«

Keller saß eine Weile schweigend da. Dot redete weiter und ging alles noch einmal durch, und ihre Worte gingen ihm bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus, ohne dass er viel von dem mitbekam, was sie sagte. Er hatte Maggie gerächt, was ihm damals wichtig erschienen war, aus Gründen, die jetzt überhaupt keinen Sinn mehr ergaben. Er versuchte, sie sich vorzustellen, und merkte, dass ihr Bild bereits verblasste, kleiner wurde, Farbe und Konturen verlor. Es verblich genau so, wie alles andere verblich.

Und endlich hatte Keller von Roger nichts mehr zu befürchten. Monatelang war er vor einem gesichtslosen Killer auf der Hut gewesen, und jetzt war diese Bedrohung aus der Welt geschafft. Und er hatte es selbst getan. Er hatte zwar nicht gewusst, dass er es getan hatte, aber er hatte es getan.

»Wenn ich das Richtige getan hätte«, sagte er, »wäre er uns entwischt.«

»Wer? Roger?«

»Mhm. Ich wäre in dem Glauben, dass Roger nicht auftauchen würde, nach Hause geflogen und hätte den echten Roger entkommen lassen, und wir wüssten keinen Deut mehr über ihn. Weder seinen Namen, noch wo er wohnt. Das alles wüssten wir nicht.«

»Das wissen wir auch jetzt noch nicht«, rief ihm Dot in Erinnerung.

»Aber jetzt müssen wir es auch nicht mehr wissen.«

»Nein.«

»Der Mittelsmann, der Allenby für uns aufgetrieben hat, will die zweite Hälfte des Gelds.«

»Wie viel hat er bekommen, eine Hälfte im Voraus?«

»Der Rest fällig bei Erledigung des Auftrags, und der Mittelsmann stellt sich auf den Standpunkt, dass der Auftrag erledigt worden ist. Die Frau ist tot, und es hat wie ein Unfall ausgesehen. Wir sollten also zufrieden sein. Wenn Allenby hinterher von seinem Gewissen geplagt wird und sich selbst umbringt … was geht das uns an? Er hat Selbstmord begangen, ohne den Auftrag in der Crosby Street zu vermasseln. Wir haben bekommen, was wir bestellt haben.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Natürlich nicht, was tatsächlich passiert ist.«

»Hätte mich auch gewundert.«

»Er dachte, ich hätte im Auftrag eines Kunden gehandelt, und deshalb sollte der Kunde zahlen. Ich habe ihm zwar recht gegeben, aber zugleich war uns beiden klar, dass Allenby nichts von dem Geld bekommen würde, weil Allenby nicht mehr lebt, um es zu kassieren.«

»Der Mittelsmann hätte alles behalten.«

»Klar. Deshalb habe ich gesagt: ›Hören Sie, Ihr Mann hat Selbstmord begangen, was wirklich ein Jammer ist, weil er gute Arbeit geleistet hat.‹«

»Alles, was er getan hat, war, in einem Hauseingang rumzustehen.«

»Würdest du mich vielleicht ausreden lassen? ›Er hat gute Arbeit geleistet‹, habe ich gesagt, ›aber er ist tot, und Sie werden ihn nicht bezahlen, und ich werde meinem Kunden nichts rückerstatten. Was halten Sie also davon, wenn wir uns das Geld teilen?‹ Und ich habe ihm die Hälfte von dem geschickt, was wir ihm geschuldet haben.«

»Hört sich fair an.«

»Ich weiß nicht, ob es was mit Fairness zu tun hat. Jedenfalls kann ich damit leben und er ebenfalls. Keller, wir sind aus dem Schneider. Alle Probleme gelöst und Roger unschädlich gemacht. Ist dir eigentlich klar, was das heißt?«

»Ich muss es erst noch verarbeiten.«

»Du hast das einzig Richtige getan«, fuhr sie fort. »Wenn auch aus einem falschen Grund. Das ist wesentlich besser, als anders herum.«

»Wahrscheinlich.«

»Es war nicht wegen des Mädchens. Deswegen wolltest du ihn nicht umbringen. Das hast du dir zwar selbst einzureden versucht, aber das war nicht der Grund.«

»Was dann?«

»Mach dir doch nichts vor, Keller. Dir hat doch gar nichts an ihr gelegen.«

»Jetzt jedenfalls nicht mehr.«

»Auch vorher nicht.«

»Hm.«

»Du hast bei diesem Kerl was gespürt. Du hast nicht gewusst, dass er Roger war, du hast gedacht, er wäre unser Mann, und er war dir total unsympathisch. Vermutlich hatte es was mit seiner Ausstrahlung zu tun.«

»Ich habe diesen Scheißkerl gehasst.«

»Und was ist jetzt mit ihm?«

»Jetzt?« Keller überlegte kurz. »Er ist tot. Was soll da noch groß mit ihm sein?«

»Genau wie sonst auch?«

»Ja.«

»Vielleicht liegt es an deinem Daumen.«

»Häh?«

»Dein Mörderdaumen, Keller. Vielleicht verhilft er dir zu deinem guten Riecher, vielleicht bringt er dir auch nur Glück. Jedenfalls finde ich, dass du ihn behalten solltest.«

Er betrachtete seinen Daumen. Als er sich seiner Ungewöhnlichkeit zum ersten Mal bewusst geworden war, hatte er ihn plötzlich nicht mehr ansehen wollen. Er war ihm eigenartig vorgekommen.

Jetzt sah er genau richtig für ihn aus. Vielleicht nicht wie jedermanns Daumen. Nicht einmal wie sein anderer Daumen. Aber er sah aus, als gehörte er an seine Hand. Er sah genau richtig aus.

»Hast du in Jacksonville ein paar Briefmarken gekauft, Keller?«

»Ja.«

»Hast du sie schon eingeklebt?«

»Man klebt sie nicht ein«, sagte er. »Damit würde man sie ruinieren.«

»Du hast mir mal erklärt, was du genau machst. Du ordnest sie ein.«

»Ja.«

»Hast du die schon eingeordnet?«

»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen.«

»Dann hast du also Briefmarken, die darauf warten, eingeordnet zu werden. Und wahrscheinlich hast du auch Post bekommen, als du weg warst.«

»Das Übliche.«

»Zeitschriften und Kataloge. Und hast du auch Marken zur Ansicht zugeschickt bekommen?«

»Ja, von einer Frau aus Maine.«

»Aber sie bleibt oben in Maine? Und du fährst sie nicht besuchen?«

»Weshalb sollte ich?«

»Du kannst also nach Hause fahren und dich mit deinen Marken beschäftigen.«

»Könnte ich«, sagte Keller. »Und wahrscheinlich werde ich das auch.«

»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Dot. »Und pass gut auf deinen Daumen auf, ja? Zieh ihn warm an und pass auf, dass er keinen Zug bekommt. Allenby ist nämlich tot und Roger ebenfalls, und tot sind auch die Leute, die Roger aus dem Verkehr gezogen hat. Das heißt, dass weniger Leute als je zuvor tun, was du tust, Keller, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das deine Auftragslage verschlechtern wird.«

»Nein«, sagte er und strich über seinen Daumen. »Da müssen wir uns keine Sorgen machen.«

 

ENDE