Die großen Wellen umhüllten ihn, immer wieder schwappten sie über seinen Kopf hinweg, und er tauchte unter, zog sich mit kräftigen Zügen vorwärts, das Licht drang nur noch ganz schwach durch die Wasserschichten, hier unten war alles blau und still. Immer mehr Körperstellen meldeten sich, die Prügelei der Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Er tauchte immer weiter, hielt die Luft an, sicher mehr als eine Minute, dann öffnete er den Mund, ließ die restliche Luft in kleinen Blasen nach oben strömen, erst dann tauchte er auf, stieß durch die Wasseroberfläche und atmete gierig ein. Immer noch fielen die Tropfen, erstaunlich warmer Regen, der auf seinen Kopf prasselte. Er schwamm noch ein Stück, die Regentropfen schlugen um ihn herum auf der Wasseroberfläche ein, kleine Kreise, die auseinanderstoben, immer größere Kreise zogen, ein bizarres Bild, ein Meer im Meer.
Es hatte zu regnen begonnen, als er vorhin von seinem Hotel zum Strand gegangen war. Das Pflaster war nass und rutschig gewesen, der Alderdi-Eder-Park menschenleer. Auch am Strand waren nur zwei oder drei Spaziergänger mit Hunden unterwegs, er war der Einzige gewesen, der sich auszog und eine Weile an der Wasserkante stehen blieb. Er hatte das Panorama betrachtet: die Bucht mit ihren gewaltigen Ausmaßen, mittendrin die fast runde Insel mit ihrem steilen Felsen, grün und voller Bäume, nur in der Mitte stand ein großes Haus, am Rande der Insel lag ein Boot, an einem Anleger festgemacht. Links und rechts der Bucht die Felsen des Festlands, links hoch und steil, obenauf ein Luxushotel, rechts die Ausläufer der Altstadt, das Aquarium, die Promenade, dort hinten am Fischerhafen waren die besten Fischrestaurants der Stadt, all die Doraden, Seezungen, auch die Hummer wurden hier abgeliefert und dann im La Rampa frisch zubereitet, mit jeder Menge Knoblauch. Auch das eine Erinnerung an ein Wochenende hier. Dahinter kamen dann nur noch die Felsen, an die die Wellen krachten, dass es hinaufspritzte bis zu den schauenden Touristen, die dann jauchzten und wegrannten, denn wer nicht aufpasste, wurde einfach von den Beinen geholt. Es waren hohe dunkelblaue Berge, die hineinrauschten und mit weißem Schaum an die Felsen spritzten. Es war ein Wunder, wie die Wellen selbst in so einer geschützten Bucht mit dieser Kraft ankommen konnten.
Hinter ihm saßen die Menschen im Hotel de Londres y de Inglaterra nach einer erholsamen Nacht beim Frühstück. Er hatte keine Ruhe gefunden, weil draußen vor dem Fenster der Pension die jungen Leute weitergefeiert hatten, es war bereits vier Uhr gewesen, als es endlich ruhiger geworden war. Die Neonreklame hatte die ganze Zeit zum Fenster hineingeschienen. Um acht war er schon wieder wach, verfroren und wie gerädert. So war er an den Strand gekommen.
Nun drehte er sich auf den Rücken, dass der Regen auf sein Gesicht fiel, und ließ sich auf der Wasseroberfläche treiben. Mal abgesehen vom Plätschern der Tropfen war es vollkommen still hier draußen. Doch sein Kopf arbeitete unermüdlich. Noch hatte er keine Nachricht auf das Handy bekommen, das, in seiner Hose versteckt, am Strand lag. Wann würden sie sich melden? Was würden sie ihm sagen? Und wer – zur Hölle noch mal! – waren sie?
Der Regen wurde stärker, er musste die Augen schließen, weil die dicken Tropfen auf sein Gesicht einprasselten, schließlich drehte er sich wieder auf den Bauch. Er sah, wie weit er abgetrieben war, er war ein gutes Stück hinter der Plattform gelandet, von der die Kinder im Hochsommer ins Wasser sprangen, der Atlantik hatte auch hier tückische Strömungen. Ganz in der Nähe lagen die Fischerboote der harten Männer von San Sebastián, die alltäglich, noch in tiefer Nacht, hinausfuhren auf dieses wilde Meer, um Doraden, Seezungen, Langusten und Schwertfische zu fangen. Die Stege begrenzten die Altstadt, vom Boot kamen die Fische direkt in die Restaurants am Hafen. Direkt daneben lagen die Yachten der oberen Zehntausend.
Er schwamm los, ging ins Kraulen über und brauchte dennoch bestimmt fünfzehn Minuten, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dann stand er am Strand und spürte, wie er zitterte. Er nahm das dünne, fast fadenscheinige Handtuch, das er aus dem Hotel mitgenommen hatte, und trocknete sich ab. Ein Blick aufs Handy. Nichts. Er hatte keinen Moment daran gezweifelt, dass sie sich – wie es der Mann in der Kirche gesagt hatte – erst am Nachmittag melden würden. Dennoch musste er nachschauen. Er fühlte sich wie ein Getriebener. Er hasste das.
Sie hatten befohlen, dass er nicht nach den Hintermännern suchen durfte.
Suchen Sie nicht nach uns. Sie hatten nichts von Aurore und seiner Tochter gesagt. Er nahm die Treppe, die hinauf auf die Strandpromenade führte. Der weiße Zaun erstreckte sich mit der Promenade über die ganzen drei Kilometer westwärts, immer an diesem Strand entlang, gegenüber der Straße lagen alte und moderne Hotels und Wohnungen mit großen Fensterfronten zum Meer für die, die es sich leisten konnten. Wer hier wohnte, hatte den Ozean im Wohnzimmer.
Im Sommer liefen auf der breiten Promenade Tausende Menschen entlang, sie joggten, fuhren Fahrrad, nahmen diese merkwürdigen Roller, mit denen man sich gegenseitig umbrachte. Heute war hier niemand. Was für ein Wetter. Das war das Baskenland. In Frankreich wurde immer behauptet, nirgendwo regne es so häufig wie in der Bretagne. Jeder, der das sagte, war noch nie im Baskenland.
Die Wolken, die sich noch gerade so über die Pyrenäen gekämpft hatten, setzten sich hier hinter den Bergen fest und blieben – manchmal wochenlang. Das war der Preis, den man zahlte, wenn man in einer der schönsten Städte der Welt wohnte, die San Sebastián zweifelsohne war – man wurde relativ häufig nass. Dafür war es hier wie im Landesinnern das ganze Jahr über grün, und es gab stets das beste Obst und Gemüse des ganzen Landes – und sehr guten Wein.
Er nahm jetzt den Weg nach Osten, ging an der Mauer entlang, vorbei an dem modernen Bau, der einem Boot glich, und in dem nachts die jeunesse dorée hoch oben über dem Meer feierte. Weiter hinten kam die Rampe, die den Hafen einfasste und an der die Boote ankerten.
Durch das Stadttor ging er wieder hinein in die kleinen und verwinkelten Gassen. Wäre er nicht ganz sicher gewesen, dass es dieselben Straßen waren wie in der Nacht zuvor, er hätte es niemals geglaubt. In der Nacht voller Menschen, alle Bars geöffnet, laute Musik, noch lautere Gespräche – doch nun, am Morgen, wie ausgestorben. Lucs Schritte hallten auf dem nassen Pflaster. Eine einsame Straßenkehrmaschine beseitigte die Spuren der Nacht, der Fahrer rauchte aus dem offenen Führerhäuschen.
Die Besitzerin des Tabakladens zog gerade den Rollladen hoch. Die Bars und Restaurants waren noch geschlossen. Bis auf eines, links auf der Portu Kalea. Das Santa Lucía war den ganzen Tag über geöffnet, Luc trat ein. Es schien der Stammladen für die arbeitenden Basken zu sein, die auf ein kleines Frühstück vorbeischauten. Da saßen Müllfahrer, ein Postbote hatte sein Wägelchen in die Ecke gestellt, zwei Fischer tranken das erste Bier des Tages, der für sie fast beendet war, während er für die meisten Bewohner noch nicht richtig begonnen hatte. Sie alle saßen auf harten Holzbänken im Neonlicht, der Ort verströmte den Charme einer alten Bahnhofshalle.
Luc bestellte am Tresen beim Wirt einen Kaffee und ein süßes Gebäck. Als der alte Mann die Tasse vor ihn stellte, sah Luc ihn fragend an.
»Oui?« Er fragte tatsächlich auf Französisch. War ihm seine Nationalität auf die Stirn gezeichnet?
»Entschuldigen Sie. Ich suche jemanden.«
»Hmm …«
Der Alte hatte die Stimme von einem, der täglich mehr als eine Schachtel Zigaretten rauchte. Deutlich mehr. Die Furchen auf seiner Stirn waren regelrechte Canyons.
»Ich suche eine junge Frau und ein Mädchen. Franzosen. Mit Nachnamen heißen sie Poulain.«
»Hmm …« Der Mann sagte das wegwerfend, als wäre es eine ganz und gar abenteuerliche Sache, in einer großen Stadt nach zwei einzelnen Menschen zu suchen. Und doch hätte Luc wetten können, dass in seinem Gesicht etwas passiert war. Als wenn er seine Augen ein Stück weiter geöffnet hätte.
»Nein?«, fragte Luc, diesmal noch vorsichtiger. Doch der Alte antwortete nicht mehr, er stand hinter der Pfanne und schlug zwei Eier hinein. Unfreundlicher Kerl. Der Commissaire zuckte mit den Schultern, ließ sich auf eine Bank fallen und trank seinen furchtbar starken und viel zu malzig schmeckenden Kaffee.
Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal derart allein gefühlt hatte.