Das Klingeln weckte ihn erst beim vierten oder fünften Mal. Er kannte es nicht, also erkannte er es nicht. Als er aber verstand, dass es sein Handy war, saß er aufrecht im Bett und griff nach dem leuchtenden Ding, das auf dem Nachttisch lag.
»Ja?«
Eine elektronisch verzerrte Stimme. Luc hörte genau hin. Ein Mann, ganz sicher. Vielleicht vierzig Jahre? Schwer zu sagen. Nicht jünger als vierzig in jedem Fall.
»Guten Tag, Monsieur Verlain. Dies ist eine automatische Ansage, es gibt keine Wiederholung, also passen Sie gut auf: Sie können treffen, wen Sie so dringend treffen wollen. Sie haben ja auch echt was nachzuholen. So viele Jahre hat Ihre Tochter schon ohne Sie verbringen müssen. Nun sind es aber erst einmal noch drei Schritte, die Sie gehen müssen. Der erste geschieht heute in der Dämmerung. Am Strand von Zurriola. Es ist nicht ganz ungefährlich – also passen Sie gut auf. Alles, was Sie brauchen, erhalten Sie hinter Tür Nummer 49. Machen Sie bitte nicht wieder das Schloss kaputt. Der Schlüssel liegt unter der Matte. Und keine Sorge, heute gibt es keinen Kampf mit einem Gorilla. Ihr eigentlicher Kampf wird später stattfinden. Diesmal ein Kampf auf Leben und Tod. Schönen Abend, Monsieur Verlain.«
Es piepte im Hörer, dann war das Gespräch beendet. Luc war hellwach, dennoch musste er sich die Augen reiben, weil er stundenlang geschlafen hatte wie ein Toter. Er war direkt nach dem Restaurant wieder ins Bett gegangen und offenbar sofort weg gewesen. Nun schwang er sich hoch.
Tür 49. Die Constitución Plaza. Er würde schon wieder in eine Wohnung einbrechen müssen.
Was erwartete ihn hinter der Tür? Er konnte es sich nicht vorstellen. Es hatte mit dem Strand zu tun und mit dem Ozean. Das Wasser war sein Element. Und dennoch: Was wollten sie von ihm?
Er überlegte, Anouk mit dem Handy anzurufen. Sie würden es abhören. Dann wäre sie in Gefahr. Er verwarf den Gedanken.
Verdammt. Er vermisste sie, wie er noch nie einen Menschen vermisst hatte.
49. Die Zahl prangte über dem Fenster der Wohnung ganz links, diesmal in der zweiten Etage. Luc stand auf dem Platz und beobachtete den Balkon. Wieder war niemand zu sehen.
Während Lucs langem Schlaf hatten sich die Wolken und der Regen über der Stadt verzogen, und die Sonne beschien das noch feuchte Pflaster. Der Platz war leerer als in der Nacht, nur ein paar Cafégäste saßen auf den Terrassen, eine Touristengruppe schoss Fotos von den ungewöhnlichen Nummern über den Wohnungen. Den Nummern, mit deren Hilfe ein ungutes Spiel mit ihm gespielt wurde.
Er zuckte mit den Schultern und ging zu der großen Haustür, die sich ausgerechnet in dieser Sekunde öffnete. Zwei Kinder kamen heraus, kleine Jungs, der eine hielt einen Fußball in Händen, der andere trug das blau-weiße Trikot von Real Sociedad, der lokalen Mannschaft, die dieses Jahr sogar mit Real Madrid und dem FC Barcelona mithalten konnte. Luc hielt die Tür auf und sah ihnen lange und versonnen nach, dann betrat er das Gebäude. Wie schon in der Nacht stieg er leise zwei Etagen höher und ging den Flur entlang, wieder auf jedes Geräusch lauschend.
Am Ende des Flurs war er angekommen. 49.
Er bückte sich und hob die hellbraune Fußmatte hoch. Darunter lag tatsächlich ein Schlüssel. Luc nahm ihn, die Fingerabdrücke waren eh nicht mehr sicherzustellen. Er schloss auf, leise und vorsichtig. Kein Gorilla würde auf ihn warten, hatten sie geschrieben. Aber er wusste, dass sie nicht fair spielten. Er drückte die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um, dann ging er in den Raum hinein, der taghell war, die Gardinen waren offen, der Platz, auf dem er eben noch gestanden hatte, lag draußen vor den Sprossenfenstern im Sonnenschein.
Die Wohnung war genauso geschnitten wie die Nummer sieben, aber sie war nicht leer. Sie war vielmehr wohnlich eingerichtet, Esstisch, Stühle, Couch, Schränke mit Büchern. Als wenn der Besitzer jeden Moment nach Hause kommen könnte, nach einem langen Arbeitstag.
Er musste aber nicht lange suchen. Es stand an die Couch gelehnt. Ein Surfbrett. Ein Shortboard, vielleicht sechs Fuß lang. Schlank geschnitten, aus hellem Holz mit einer wunderschönen Maserung. Es war perfekt aufbereitet, das sah Luc auf den ersten Blick, es glänzte wie neu.
Daneben stand eine dunkle Reisetasche, der Reißverschluss war nicht zugezogen. Er wandte sich noch einmal um und ging in den anderen Raum. Da war niemand.
Er ging zurück, kniete sich hin und sah hinein. Er stockte. Das war …
Die quadratischen Pakete, in schwarze Folie gewickelt, er berührte eines ganz vorsichtig, es war schwer und dicht gepresst, er nahm es heraus, da waren noch drei, nein, sechs, nein, es waren neun, neun Pakete. Die Pakete glichen haargenau denen, die am Strand von Hourtin angespült worden waren – die Pakete, deren Inhalt einen kleinen Jungen ins Koma befördert hatte.
Das hier war Kokain. Kein Zweifel. Eine Reisetasche voller Kokain. Er wog das Paket in der Hand. Neun Päckchen à fünfhundert Gramm, also viereinhalb Kilogramm. Er überschlug die Schwarzmarktpreise, die er aus Paris kannte. Wenn die Reinheit so war, wie bei dem Stoff am Atlantikstrand, dann waren das hier hundertfünfzigtausend Euro. In einer Reisetasche.
Er spürte, wie die Ader an seinem Hals zu puckern begann. In seinem Kopf raste die Wut. Er wünschte, es würde doch ein Gorilla auftauchen, dann …
Er nahm die Pakete aus der Tasche, sie waren alle gleich verpackt. Darunter lag der Zettel, den er erwartet hatte. Dieselbe Handschrift.
Monsieur Verlain, hier ist Ihre zweite Aufgabe:
Sie sind doch Surfer – jedes Mal, wenn ich Sie beobachtet habe, im Verborgenen auf der Düne hinter Ihrem Haus, mit meinem wunderbaren Fernglas, dann musste ich zugeben, dass Sie auf Ihrem Brett eine gute Figur machen. Das brachte mich auf eine Idee. Wir haben bei Ebbe manchmal Probleme, die Fracht an Bord unserer Boote zu bringen. Die baskischen Polizisten sind noch nicht ganz gewiss darüber, was wir an ihrer Küste treiben, und ich will auch nicht, dass sich das schnell ändert. Deshalb suche ich nach neuen Möglichkeiten, meine wunderbaren Produkte in hoher Qualität auf den Weg in den Norden zu schicken. Die lokalen Experten sagen mir, es sei quasi unmöglich, mit einem Surfbrett um die Felsen vor Zurriola herumzufahren. Zu hohe Wellen, zu viel Brandung.
Was mich an dieser Einschätzung stört, ist das Wörtchen »quasi«. Ich frage mich dann, ob es nicht vielleicht doch möglich ist. Und wer könnte das besser ausprobieren als Sie, Verlain, wo Sie doch sowieso bald ein toter Mann sind.
Surfen Sie heute um Mitternacht hinaus hinter die Felsen von Monpas östlich von Zurriola Beach. Dort wartet mein Boot. Übergeben Sie die Tasche dort. Scheitern Sie, enden Sie dort, wo Sie ohnehin enden werden. Schaffen Sie es, werden wir uns bald sehen.
Ach, und wenn Sie auf die Idee kommen, es nicht zu versuchen – oder zu anderen unlauteren Mitteln greifen, um mich zu finden –, dann wird das sehr schlecht ausgehen, und zwar nicht nur für Sie, sondern auch für Ihre Tochter und für Aurore.
Also, Verlain, einen guten Abend-Surf!
Er ließ das Papier sinken. Er war ein Mann mit jeder Menge innerer Ruhe und mit einem großen Bedürfnis nach Harmonie. Und nun? Er verspürte Mordlust. Auf diesen Mann, der ihn an der Nase herumführte. Der ihn in Gefahr brachte. Der ihn einen toten Mann nannte.
Er sah das Kokain an. Würde er dabei mithelfen, dass es nach Nordeuropa kam? Er? Der Polizist? Würde er dabei mithelfen, Jugendliche abhängig zu machen? Andererseits: Das Koks würde wahrscheinlich auf dem Meeresboden enden, genau wie er.
Er war ein guter Surfer gewesen, in seiner Jugend. Das schon. Aber die Zeiten waren lange her. Er surfte heute nur noch zum Spaß, ein- oder zweimal in der Woche. Und die langen weißen Sandstrände von Carcans-Plage mit ihren gerade laufenden Wellen waren etwas gänzlich anderes als die Felsenbucht von San Sebastián mit ihren kreuz und quer laufenden Brechern und den gefährlichen und spitzen Felsen, die über und unter der Wasseroberfläche lauerten. Die Haare an seinen Armen stellten sich auf, seine kalten Hände griffen nach der Tasche.
Er musste es versuchen. Für Lea. Für Aurore. Um diesem Mann gegenüberzustehen. Und ihn für immer aus dem Weg zu räumen.