Luc erwachte aus einem merkwürdigen Traum, vielleicht war es auch nur ein Bauchgefühl, das ihn aus den Tiefen eines stillen Schlafes geholt hatte – aber das lag nicht daran, dass er ohne Sorgen war, er war einfach nur so erschöpft gewesen wie nie zuvor in seinem Leben.
In der Nacht hatte er die Wunde neu verbunden, der Oberarm sah nicht gut aus. Salzwasser war für eine frische Wunde die Pest, Luc wusste das, weil er oft genug als jugendlicher Surfer auf einen Seeigel getreten war oder sich die Finne des Brettes ins Bein gerammt hatte. Jetzt, am Morgen, schmerzte der Schnitt am Arm immer noch.
Er hob die Beine aus dem Bett und stand auf, nach dem Sturm war die Szenerie vor dem Fenster nun sanft und gefällig – die Sonne hatte die Stadt wieder ergriffen.
Sein Blick fiel auf seine Hose, aus deren Gesäßtasche das kleine alte Handy herausgerutscht war. Verdammt. Er griff danach, drückte eine Taste und erschrak. 6 Anrufe in Abwesenheit. Er suchte im Menü nach den Uhrzeiten der Anrufe.
0.10 Uhr
0.40 Uhr
1.20 Uhr
1.50 Uhr
7.20 Uhr
7.50 Uhr
So eine Katastrophe. Er hatte vor dem Surf das Handy lautlos gestellt und dann wegen all des Adrenalins vergessen, es wieder laut zu stellen. Sie hatten die halbe Nacht versucht, ihn zu erreichen. Wenn sie nun in Panik gerieten – was würde das für Lea und Aurore bedeuten?
Andererseits: Er besah sich noch einmal die genauen Uhrzeiten der Anrufe. Es war jeweils auf die Minute angerufen worden. Das passte zu ihm. Zu diesem Mann. Dem Teufel.
Inzwischen war es 8.19 Uhr. Wenn es passte …
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, da blinkte das Handy lautlos. Er hob sofort ab. Es war eine automatische Ansage, die Stimme verstellt und tief, wie beim letzten Mal.
»Monsieur Verlain, ich möchte nicht, dass Sie mir noch einmal eine so schlaflose Nacht bereiten. Sie spielen nicht nach meinen Regeln. Das ist die letzte Warnung. Verstanden? Hören Sie: Wir sind sehr froh, dass Sie unser kleines Abenteuer auf dem Meer überstanden haben. Denn nun können Sie uns noch hilfreicher sein. Die Wohnungstür für diesen Tag ist die 77. Gehen Sie direkt dorthin. Verlieren Sie keine Zeit. Sollten Sie später als um zehn Uhr dort eintreffen, dann wird etwas sehr Schlimmes geschehen. Und zwar nicht nur Ihnen. Gute Fahrt, Monsieur Verlain, gute Fahrt.«
Luc war in Nullkommanichts angezogen, griff das Telefon und verließ sein Zimmer. Der Rezeptionist sah ihn an, einen Moment zu lang, wie Luc befand. Hatte er das Fax der Polizei auch bekommen? Die Fahndung nach ihm? Nun, dann würde er es nicht ändern können. Andererseits wirkte diese Herberge durchaus so, als würden hier dann und wann zwielichtige Gestalten absteigen. Er sprintete die Treppe hinunter. In der leeren Gasse musste er sich kurz orientieren. Nach rechts, dort vorne leuchtete die Constitución Plaza in der Morgensonne. Er hätte gerne einen Kaffee getrunken, aber er verwarf diesen Gedanken. Gute Fahrt. Was sollte das nun wieder bedeuten?
Luc ging schnurstracks auf den Platz zu. Er wollte nicht rennen, nicht einer Polizeistreife auffallen, nicht jetzt, nicht so kurz vorm Ziel. Er spürte, dass er kurz vorm Ziel war. Die dritte Aufgabe. Sollte es wirklich die letzte sein?
Wieder ging er also die Nummern an den Balkonen durch, die Sonne stand in seinem Rücken, sie fiel ganz knapp über die Dachspitze des einstigen Rathauses und tauchte die blanken Bodenkacheln in ein diffuses Licht. Mitten auf dem Platz parkte eine schwarze Limousine, ein Mercedes. Merkwürdig. Luc hatte hier noch nie ein Auto stehen sehen.
Wohnung 77. Ein Balkon wie all die anderen. Er würde endlich jemanden fragen müssen, was es damit auf sich hatte.
Es war diesmal eine andere Eingangstür, nicht unter den Arkadenbögen, sondern im mittleren Gebäude des Platzes. Die Tür stand offen, weil gerade ein Müllfahrer zwei Tonnen auf einmal aus dem Eingang schob. Luc grüßte und schlüpfte hinein. Er stieg zwei Etagen hinauf und glaubte ein Déjà-vu zu haben. Es war bereits, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Die Tür, eine blanke Holztür. Er sah sich um, nahm den Schlüssel unter der Matte hervor und steckte ihn ins Schloss. Dann sprang die Tür auf. Er trat hinein und wollte sofort wieder einen Schritt zurückmachen. Flucht – oder Kampf? schoss es durch seinen Kopf. Da saß der Mann, direkt hinter der Tür, auf einem Stuhl, er sah ihn an, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Es war der Gorilla. Die Wunde auf seiner Stirn, die Beule daneben – beides Lucs Werk und beides immer noch deutlich zu sehen. Luc stand da wie angewurzelt. Der massige Typ mit der Glatze sagte: »Kommen Sie.«
Sein Akzent war wirklich osteuropäisch. Der Commissaire suchte ihn mit den Augen nach einer Waffe ab. Auf den ersten Blick war keine zu sehen.
»Los. Reinkommen.« Die Stimme war nun ernster, drängender. Luc trat ein.
»Tür zu.« Der Commissaire blickte zurück. Wenn er die Tür schloss, waren sie allein. Andererseits war ihm, mal abgesehen von dem Müllmann, in diesen Häusern noch niemand begegnet. Also zog er die Tür hinter sich zu.
»Setz dich.« Der Gorilla wies auf einen Stuhl am anderen Ende des Raumes. »Nein, ich stehe.«
»Mir egal. Wir werden eine Reise machen.«
»Wohin?«
»Der Chef sagt, du wirst dich freuen. Es geht nach Hause.«
»Mein Zuhause?«
Der Gorilla nickte. Was hieß das? Carcans-Plage? Bordeaux? Paris?
»Wann geht’s los?«
»Jetzt.«
»Was machen wir dort?«
Der Typ zog einen Zettel aus der Tasche. Er gab ihn Luc, dabei ließ er ihn nicht aus den Augen, als erwartete er einen neuen Angriff. Der Commissaire faltete den Brief auseinander. Dieselbe Handschrift. Verdammt. Er hasste es. So viel Post hatte er zuletzt im Lycée bekommen, in der Phase, als die Mädchen die Jungs wöchentlich mit neuen poetischen Briefen bedachten.
»Monsieur Verlain, ist das nicht eine angenehme Reisebegleitung, die ich Ihnen da zugedacht habe? Sie haben sich ja schon so viel miteinander beschäftigt, jetzt können Sie mal einige Stunden nebeneinander verbringen. Sie lieben doch Roadtrips, Monsieur Verlain.
Ihre dritte Aufgabe ist nämlich ein Roadtrip.
Mein junger Angestellter, er heißt übrigens Iwan, ist ein freundlicher, allerdings etwas wortkarger Mann. Dafür habe ich Ihnen eine CD ins Auto gelegt. So haben Sie ein wenig Ablenkung.
Ich will, dass es keine bösen Überraschungen gibt, deshalb werde ich keine Geheimnisse vor Ihnen haben. Im Kofferraum der S-Klasse, die auf dem Platz auf Sie wartet, befinden sich rund hundert Kilogramm reinsten Kokains, verpackt in den Paketen, die Sie so gut kennen.
Gestern haben Sie uns ja schon geholfen, auf unserer gut studierten und bewährten Route Drogen an Bord zu bringen. Nun wollen wir mit Ihrer Hilfe aber noch etwas Neues ausprobieren.
Im Navigationssystem ist alles eingegeben, was Sie wissen müssen. Die Zielzeit ist 13.45 Uhr, keine Minute später. Denn die Hubbrücke über die Garonne öffnet um 13.30 Uhr. Iwan wird Ihnen erklären, was dann passiert.
Sollten Sie später sein oder sollte etwas schiefgehen, werde ich hier mein Werk vollenden – ein Werk, das Ihnen und Ihrer Tochter nicht gefallen wird.
Aber, Monsieur Verlain, das hat mich der gestrige Tag gelehrt: Ich traue Ihnen das zu. Sie haben jede Menge kriminelle Energie, wie es scheint. Sie werden das hinkriegen. Meine Empfehlung: Genießen Sie die Fahrt, die Umgebung, den Zielort. Es ist das letzte Mal, dass Sie diesen Weg fahren werden. Einmal noch die Heimat sehen. Zehren Sie davon.
Gestern waren wir uns schon ganz nah. Gelingt Ihnen heute Ihre Aufgabe, werden wir uns morgen begegnen.
Deshalb: viel Glück. Und bonne route.«
Luc zerknüllte das Schreiben, besann sich dann aber. Der Gorilla beobachtete ihn. Kokain. Fast einhundert Kilo. Marktwert mehr als zwei Millionen Euro. Über die Grenze schmuggeln. Er.
Der Commissaire schloss die Augen. Er atmete tief ein und aus. Dann ging er zur Tür und sagte: »Gehen wir.«