Das schwarze Ungetüm fuhr sich wie ein riesiges Schiff, es glitt schwer und seidig dahin, und dabei war es im Innenraum absolut still. Der Gorilla war von sich aus auf der Beifahrerseite eingestiegen, sodass Luc ans Steuer musste. Einen gründlicheren Blick in den Kofferraum hatte er lieber nicht geworfen. Er hatte Angst, dass er sich dagegen entscheiden würde loszufahren, wenn er das Zeug sah.
Nun fuhren sie, eben kamen die Ausläufer der Stadt in den Blick, die weniger romantisch waren als die Altstadt. Direkt neben der Schnellstraße mit ihren Brücken und Kurven standen die Wohnblöcke spanischer Bauart, nicht ganz so trostlos wie in den französischen Banlieues, aber nicht minder baufällig. Hier wohnten die, die sich die malerische Altstadt nicht leisten konnten. In der Ferne ragten die Bergkuppen der Pyrenäen auf. Lag da noch Schnee? Schwer vorstellbar, Mitte Mai. Immer noch waren nur Schäfchenwolken am Himmel.
Das Ziel war schon eingestellt, es war zweihundertelf Kilometer entfernt. Zwei Stunden und achtzehn Minuten. Luc traute sich nicht, genauer nachzusehen.
Ihm fiel der Brief wieder ein, und er drückte im Armaturenbrett den Knopf für die Soundanlage, wählte CD aus. Es dauerte eine Sekunde, dann war da ein Rauschen und dann … drei Takte, vier …
Luc stöhnte auf. Schnell schaltete er die Anlage wieder aus, so hektisch, dass er das Lenkrad verriss.
»Ey, was soll das? Pass auf, Idiot!«, herrschte ihn der Gorilla von der Seite an.
Luc schaffte es, den schweren Wagen wieder unter Kontrolle zu kriegen und scherte auf die Autobahn ein, die sie nach Francia bringen würde.
Es gelang ihm, sich wieder zu beruhigen. Er hatte das Stück sofort erkannt. Er hatte es schon einmal gehört, vor vielen Jahren, in einem edlen Salon – im Bois de Boulogne. Er würde diesen Mistkerl finden. Er würde …
Luc hielt sich exakt an das Tempolimit von 120. Er wollte nicht wegen einer Dummheit angehalten werden. Die Umgebung wurde grün und sehr verlassen, rechts die Berge, links in der Ferne einige verstreute Höfe.
Die Straße verlief kurvenreich, die Grenze kam rasch näher. Ein Seitenblick: Der Gorilla schien nervös zu sein. Seine Hand hinterließ einen feuchten Fleck auf dem schwarzen Ledersitz. Sie durchfuhren die erste Mautstelle, der Wagen hatte einen Badge, der es ihm erlaubte, die Spur ganz links zu nehmen, die Schranke öffnete sich, ohne dass Luc anhalten musste. Eine geniale Erfindung. Erst recht für Drogenkuriere.
Das Schild: Francia 2000 m. Die Grenze, in Sichtweite. Sie war am Übergang von Bidasoa verbunden mit einer Mautstation, die schon zu Frankreich gehörte. Die Autobahn wurde hier breiter, fast zwanzig Kassenhäuschen, automatische Bezahlstationen. Ein lang gezogener Gürtel. Luc wusste, dass hinter den Häuschen Männer von Police nationale und Douane standen, dem Zoll. Er hatte schon oft genug genaue Kontrollen an diesem wichtigsten Übergang in Frankreichs Südwesten angeordnet.
»Fahr in Spur vierzehn«, sagte der Gorilla.
Luc lenkte ein Stück nach rechts. Spur vierzehn war eine Télépéage-Spur. Auch hier musste er dank des Badges nicht anhalten.
Er wurde langsamer, bremste den Wagen peu à peu ab, bis er die 30 einhielt, die er in dieser Spur fahren durfte. Er sah die Mautstelle näher kommen, dahinter standen blaue Wagen, Polizeiwagen. Alles wie immer.
Doch als sie noch näher kamen, er ihre Gesichter erkennen konnte, sah er, wie sie sein Auto fixierten. Sie wussten, dass er kam. Da standen Dutzende Beamte, in Uniform, kugelsicheren Westen.
»Wenn sie dich anhalten wollen, fahr weiter«, sagte der Gorilla.
»Wie?«, fragte Luc, und seine Stimme klang heller, als er gewollt hätte. Sein Herz klopfte. Eine Polizeisperre könnte er nicht durchbrechen.
Er steuerte auf die Spur vierzehn zu, nur noch wenige Hundert Meter, die Polizisten dahinter gingen in Stellung. War das … Das konnte doch nicht sein … Doch, er war es, Luc war sich beinahe sicher. Er durchfuhr die Spur mit Tempo 30, der Badge piepte, die Mautstrecke war damit bezahlt, die Schranke fuhr hoch, und er glitt darunter hindurch, da winkte der erste Polizist mit einer Kelle.
»Gib Gas«, knurrte der Gorilla, und Luc sondierte die Lage, links standen die Beamten des Zolls, rechts die der Police nationale, sie standen in Formation, und mittendrin Commissaire Schneider, ein Handy in der Hand. Filmte er? Das konnte doch nicht sein.
Luc bremste nicht, obwohl sie winkten, er beschleunigte stattdessen. Er sah den Zollbeamten ganz links eine rot-blaue Stange auf die Straße werfen.
»Was ist das?«, schrie der Gorilla, und kurz bevor Luc darübergefahren wäre, lenkte er den Wagen ein kleines Stück nach links, wich aus, so als wäre die riesige Limousine ein wendiger Kleinwagen. Dann beschleunigte er weiter, 50, 70, 100, 140, 170 und sah im Rückspiegel, wie sie ihnen erst nachstarrten, dann nach elendig langen Sekunden zu ihren Motorrädern rannten.
»Was war das, dieser Stab?«
»Ein Stop-Stick«, sagte Luc. »Sind Spitzen drin, die den Reifen nicht sofort platzen lassen, sondern nur anpiken, und dann verliert er seine Luft langsam und kontrolliert. Man kann noch eine oder zwei Minuten weiterfahren, und dann ist Feierabend.«
Der Gorilla nickte.
»Sie werden uns folgen«, sagte Luc, »was soll ich tun?«
»Fahr weiter. Die kriegen uns nicht.«
»Wenn sie uns kriegen, dann sind wir am Arsch. Dann gehen wir …«
»Die kriegen uns nicht, verstanden?«
Aber die Stimme des riesigen Glatzkopfs klang weniger selbstsicher, als er es vermutlich gewollt hätte.
Luc hielt die 200 km/h, er raste vorbei an den Ausfahrten nach Urrugne, Saint-Jean-de-Luz und Bidart.
»Die Motorräder sind schnell«, versuchte es Luc erneut. Er dachte an das Kokain im Kofferraum. Die ganze Zeit. An Lea und Aurore. Und an Anouk und das Baby. Sollte er den Gorilla bitten, ihm sein Telefon zu leihen? Absurde Idee.
»Fahr«, sagte der Mann nur.
Luc fuhr an Biarritz vorbei, dann an der Kathedrale von Bayonne; sie überquerten den Adour-Fluss, und die Autobahn verließ das Baskenland, sie kamen in die Landes. Luc hatte noch weiter beschleunigt, 230 km/h, er flog über die linke Spur, alle vor ihm schienen unverzüglich Platz zu machen, sobald sie die schwarze Limousine im Rückspiegel erblickten.
»Dort vorne«, sagte der Gorilla. Luc sah das Schild der Raststätte. Labenne Est. Er setzte den Blinker, zog auf die Bremsspur und ließ den Wagen ausrollen.
»Hinten, bei den Lkw«, sagte der Beifahrer. Luc fuhr über den vollen Rastplatz, er stand voller Sattelschlepper, die A63 war eine der meistbefahrenen Routen für den Lastverkehr zwischen Nordeuropa, Frankreich, Spanien, Portugal und Marokko.
»Halt dort«, wies ihn der Mann an, und sie kamen hinter einem Kleinwagen zum Stehen. Ein Seat Ibiza. Französisches Kennzeichen.
»Los, mach schnell.« Der Gorilla stieg zuerst aus und ging zum Kofferraum. Er öffnete ihn und entnahm ihm eine dunkle Reisetasche, die genau wie die aussah, die Luc gestern übergeben hatte. Ein Nike-Logo in Weiß schmückte die Seite der Tasche.
»Nimm die andere«, befahl er. Luc tat, was der Mann sagte, und hievte die schwere Tasche aus dem Kofferraum des Mercedes in den Kofferraum des Seat.
»Einsteigen.«
Luc setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Er wollte gerade den Motor anlassen, als es hinter ihnen hupte. Verdammt. Luc sah in den Rückspiegel. Das konnte doch nicht sein!
Er erwartete, dass der Gorilla neben ihm ausflippte, eine Waffe zog, doch er blieb ganz ruhig sitzen. Die hintere Tür öffnete sich, und der Mann, der aus dem Wagen hinter ihnen gestiegen war, nahm auf dem Rücksitz Platz. Er lächelte.
»Nun schauen Sie nicht so. Fahren Sie, Verlain.«
Luc ließ den Motor an und lenkte den Wagen auf die Autobahn. Stumm. Geschlagen. Wie viel Macht hatten diese Leute?
»Commissaire Schneider«, sagte er nach einer Weile.
»Sie sind ja ein richtiger Rallyefahrer«, gab der Mann zurück, der ihn erst hatte verhaften lassen – und ihn dann wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. In Lucs Kopf raste es. Was war der Plan?
»Was soll das?«, schrie Luc und schlug auf das Lenkrad. »Was soll das alles? Sie sind ein flic wie ich. Was tun Sie hier?«
»Ach, nun seien Sie doch nicht so weinerlich, Verlain, Herrgott, das ist ja nicht zum Mitanhören. Ich habe Sie immerhin in Sicherheit gebracht, eben an der Grenze. Ich habe den Kollegen gesagt, sie sollen unbedingt in Biarritz von der Autobahn abfahren, Sie würden sich dort verstecken. Und alle haben auf mich gehört. Schade, dass sie nichts finden. Aber ich habe Sie ja immerhin gefunden. Nicht wahr, Iwan?«
Schneider und der Russe gaben sich die Hand.
»Gut, Sie wiederzusehen, Commissaire«, stammelte Iwan.
»Und nun haben wir noch sehr viel Zeit, um in dieser winzigen Paella-Schüssel an unser Ziel zu schaukeln. Mann, hätte der Chef nicht die Autos genau umgekehrt vergeben können? In dem Daimler hätten wir die längere Strecke viel entspannter zurückgelegt.«
»Kannst du bald Daimler kaufen, Commissaire«, sagte der Russe lachend.
»Stimmt auch wieder.«
»Was tun wir hier, Schneider?«, fragte Luc und kam sich selbst bescheuert vor.
»Der Chef hat mich gebeten, Ihnen nicht zu viele Details zu erzählen. Das will er morgen selber machen.«
»Der Chef … Wissen Sie, wer Ihr Chef ist?«
»Ach, kommen Sie. Wollen Sie mir jetzt sagen, mein Chef ist der Innenminister? Dieser Lappen? Sie können ja so leben, Verlain. Aber ich will ein gutes Leben haben, ein sorgenfreies Leben. Nicht dieses knauserige Beamtenleben.«
Schneiders Gesicht war eine Fratze geworden.
»Aber mal im Ernst, Verlain, wir haben nun viel Zeit. Sie sollten mir erzählen, wo Sie die zwei Tage waren, nachdem Sie den Brief vom Chef erhalten haben. Wir dachten, Sie fahren direkt in den Süden, um Ihre Tochter zu finden. Stattdessen haben wir Sie verloren, direkt in Bordeaux – und wir haben etwas Sorge, dass Sie eine Dummheit begangen haben könnten.«
Luc spürte die Veränderung in Schneiders Stimme. Er entspannte sich und lenkte den Wagen in Richtung Norden, nun mit einem angemessenen Tempo von 130 km/h. Er sah in den Rückspiegel.
»Ich musste damit klarkommen, das ist doch logisch, oder? Ich hatte keine Ahnung von einer Tochter, gar keine, und dann bekomme ich so einen Brief. Da musste ich erst mal nachdenken. Ich bin in eine alte Anglerhütte von Freunden meines Vaters gefahren, sie ist genau an der Stadteinfahrt von Bordeaux – und da habe ich mir einen Wein aufgemacht und nachgedacht.«
»Und dann sind Sie in die Innenstadt gefahren und haben Cecilia Brückner entführt.«
»Was habe ich?«
»Sie haben Cecilia Brückner entführt. Ihre Affäre. Mit der Sie Anouk betrogen haben. Sie dachten, dass Sie nun aufräumen müssten.«
»Ich …«
»Sagen Sie, was passiert ist, verdammt.« Schneider war plötzlich aufgebracht, sein Kopf wurde regelrecht rot. »Sagen Sie es …«
»Ich habe keine Ahnung, was mit Cecilia passiert ist, Commissaire. Ehrlich. Ist ihr denn etwas passiert?«
»Sie ist verschwunden«, sagte Schneider knapp. »Man hat Blut gefunden …«
»Blut? Von Cecilia?«
»Stellen Sie sich doch nicht dumm, Verlain. Wir sind nicht doof.« Schneider legte den Arm auf Lucs Lehne. »Aber gut, machen Sie es, wie Sie wollen. Sie werden den Preis bezahlen.«
Danach war Ruhe. Niemand sprach mehr. Luc hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt, das Radio angestellt, RTL2 spielte französischen Pop. Links und rechts rasten die Wälder der Landes vorbei, hohe grüne Seekiefern, so weit das Auge reichte. Ein braunes Schild wies auf die Strandorte hin, die links der Autobahn lagen, manchmal nur zehn, manchmal dreißig Kilometer entfernt.
Capbreton, Moliets-et-Maa, Vielle-Saint-Girons, Contis-les-Bains, Mimizan-Plage, Biscarrosse-Plage.
Luc kannte jeden dieser Orte. Kleine Ferienorte, in denen im Winter nur wenige wohnten, wie bei ihm daheim in Carcans-Plage. Im Sommer aber wuchs die Bewohnerzahl dieser Weiler am Ozean auf das Hundert-, manchmal gar das Tausendfache ihrer normalen Population an. Waren im Winter manchmal nur zwanzig Cabanes bewohnt, platzten die Ferienwohnungen, die Häuser, die Mobilhomes auf den Zeltplätzen im Sommer aus allen Nähten. Im Winter waren hier Sturm und Einsamkeit die Gebieter – und es brauchte schon eine Flasche guten Rotweines und ein knisterndes Kaminfeuer, um nicht depressiv zu werden. Im Sommer aber, der Zeit der ausgebuchten Unterkünfte, der stressenden Pariser, der durchreservierten Restaurants, sehnten die Bewohner der Strandorte den Winter herbei. Oder zumindest den Herbst – wenn sie noch im Meer surfen konnten, die Pariser aber schon wieder im Büro sitzen mussten.
Die Autobahn war schnurgerade, links und rechts hatte die Szenerie gewechselt, nun waren es Holzplantagen, riesige Ansammlungen von Baumstämmen, aus gigantischen Sprinkleranlagen wurde Wasser verspritzt, damit das Holz immer feucht blieb. Minuten später dann Mais, endlose Felder mit Mais, noch weit von der Ernte entfernt.
Luc begann die Fahrt zu genießen, er dachte an den Brief, der ihn dazu aufgefordert hatte, und entschied, dass er sie nicht deshalb genoss. Diese Gegend war sein Sehnsuchtsort. Und mit jedem weiteren Monat, den er hier verbracht hatte, war es ihm schwerer geworden zu verstehen, wie er es überhaupt in Paris ausgehalten hatte.
Die salzige Luft, die Weite, die endlosen Wälder, der Wein, die Leichtigkeit der Menschen – wo sonst in Frankreich, ach, auf der Welt, gab es das?
»Sagen Sie, Schneider«, fragte Luc, »was ist das eigentlich mit diesen Nummern über den Fenstern? In San Sebastián, meine ich. Auf dem Platz. Diese dämliche Schnitzeljagd, die Sie mit mir spielen, ich wusste es mal, aber kriege es nicht mehr zusammen.«
»Genial, oder?«, sagte Schneider und schien es wirklich ernst zu meinen. »War die Idee des Chefs. Diese Nummern … Die spinnen, die Basken. Bei uns im Elsass gibt es so etwas nicht. Ja, es ist eine herrliche Geschichte. Früher wurde die Constitución Plaza für Stierkämpfe benutzt. Es gab Karten zu kaufen – und zwar allen Ernstes für die Balkone ringsum, die schon damals zu Wohnungen gehörten. Damit man wusste, auf welchem Balkon der eigene Platz war, gab es an den Balkonen und auf den Karten übereinstimmende Nummern. Und der Besitzer der Wohnung musste den Billet-Inhaber durch die eigene Wohnung auf den Balkon lassen. Ist das nicht verrückt?«
»So verrückt wie Sie. Und Ihr Chef.«
»Diese Bitterkeit, Verlain. Sie passt nicht zu Ihnen.«
»Und Ihrem Chef gehören die Wohnungen?«
Schneider lachte.
»Dem gehören nicht nur diese drei Wohnungen. Dem gehört der halbe Platz – und darüber hinaus die halbe Stadt. Er ist ein durch und durch beeindruckender Mann.«
»Davon hab ich wohl eine Vorstellung.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Schneider misstrauisch. Aber Luc antwortete nicht.
Die Ausfahrt zur Autobahn 660 nach Arcachon wurde angezeigt. Arcachon. Der Fall im letzten Winter. Die toten Jungs, an die Pfähle gebunden, mitten im Bassin, die Pfähle, die die Grenzen der Austernzüchter zogen. Was für eine Tragödie. An deren Ende er erfahren hatte, dass Anouk schwanger war. Kurz vor Weihnachten.
Bordeaux kam rasend schnell näher. Er war jedes Mal auf dieser Strecke überrascht, wie schnell man von Spanien bis in seine Stadt gelangte. Wie schnell die Landschaften wechselten.
Auch in dem Seat hatten sie eine Navigation eingebaut. Das Ziel war voreingestellt worden. Noch vierzig Minuten bis zum Zielort. Neunundfünfzig Kilometer. Sie waren zu gut in der Zeit.
»Wir werden früher da sein – ist das in Ordnung?«, fragte Luc. Jean-Jacques Goldman sang gerade Je te donne.
»Nein, das ist nicht möglich«, hörte er Schneider vom Rücksitz blaffen, er schien immer noch übelster Laune. »Wir fahren durch die Stadt.«
Luc nickte und lenkte den Wagen rechts auf die Rocade, den Stadtring um Bordeaux. Er hatte auf diese Antwort gehofft. Im Stillen plante er etwas. Die Vororte flogen vorbei, Motels, Tankstellen, Hochhäuser. Dann Pessac, Talence, Bègles.
Er blickte auf die Uhr im Armaturenbrett. Kurz nach halb eins. Sie waren viel zu früh.
»Durch die Stadt also …«
»Hab ich doch gesagt, Verlain.«
Er fuhr vor dem Pont François Mitterrand von der Rocade ab und nahm dann den Zubringer, der sie am grauen Fluss entlang in die Innenstadt führte. War hier früher eine Industriebrache rund um den alten Schlachthof, hatte nun auch hier der Bordelaiser Bauboom zugeschlagen. Dutzende neue Hotels waren entstanden, futuristische Bürobauten, dazu das neue Museum für zeitgenössische Kunst, ein weißer Kubenbau, der die Bewohner der Stadt so begeisterte wie die Touristen. Wieder einmal dachte Luc, wie sehr sich diese Stadt verändert hatte: von der düsteren Schlafstadt, die Bordeaux zu seiner Kindheit gewesen war, zu einer Metropole, die in ihrer Anziehungskraft sogar Paris den Rang abzulaufen drohte, erst recht, seit der TGV die sechshundert Kilometer in die Hauptstadt in zwei Stunden bewältigte. Seitdem waren die Pariser wie wild auf der Suche nach Immobilien an der Garonne, so wild, dass sich mancher Bordelais den Schnellzug schon wieder fortwünschte. Bordeaux war in aller Munde – und auch Luc musste zugeben, dass er nach anfänglichen Zweifeln schnell eingesehen hatte, wie viel höher die Lebensqualität in Bordeaux war.
Es war wie ein Déjà-vu, diese Strecke, die er vor einem Jahr auch genommen hatte – bei seiner Retour in die Aquitaine. Damals hatte er Angst gehabt, dass er wieder in seiner alten Heimat feststecken blieb, in der vermeintlichen Langeweile der Provinz.
Jetzt, heute in diesem Auto, neben einem Verbrecher und einem Bullen, der offensichtlich Dreck am Stecken hatte, konnte er darüber nur müde lachen: Sollten sie ihre Drohung wahr machen, könnte dies wirklich seine letzte Fahrt durch Bordeaux sein.
Luc ließ den Bahnhof links liegen, nahm die breite Prachtmeile, die sie nach einer Weile bis zur Place de la Bourse bringen würde. Er räusperte sich.
»Was ist?«, fragte Schneider.
»Ich würde ungern mit dem Auto auf irgendeinem Parkplatz stehen und warten. Besser, wir bleiben in Bewegung. Kann ich durch die kleinen Gassen der Altstadt fahren?«
Der Mann im Fond überlegte.
»Ja, mach das, Verlain.«
Kurz vor dem Pont Pierre blinkte Luc an der Ampel und bog nach links ab, sofort wurde der Asphalt von altem Kopfsteinpflaster abgelöst. Der Wagen holperte hinein in die vieille ville, vor ihnen tauchte riesig und erhaben die Basilika Saint-Michel auf, der hohe Glockenturm, der getrennt von dem Kirchenschiff auf dem Platz thronte. Wie oft hatte er diese Kirche in den letzten Monaten gesehen, aus ihrem Fenster. In einem leichten Bogen fuhr er um die Kirche herum, sein Blick fest auf ein Ziel gerichtet. Er bremste und hielt rechts auf dem Seitenstreifen.
»Was machst du?«
»Muss schon seit einer Stunde pinkeln. Kann ich schnell in das Café?«
Er beobachtete, wie Schneider im Rückspiegel auf seine Uhr sah. »Los, beeil dich.«
»Soll ich mitgehen?«, fragte der Gorilla.
»Wo soll er denn hin?«, fragte Schneider voller Hohn, »er muss doch seinen Auftrag erfüllen, sonst …«
Luc ballte die Fäuste, dann stieg er aus und ging in die Bar Saint Michel, eine typische Tabac-Bar, rote Markise, Metalltische und Stühle vor der Tür, drinnen ein Wirrwarr von Stimmen und Gerüchen, das Zischen der Kaffeemaschine, man war irgendwo zwischen Mittagessen und Kaffeezeit.
Luc ging schnellen Schrittes die Treppe hinunter, schloss sich in der Kabine ein und legte den Kopf an die Wand. Atme.
Er hatte eine Ahnung, wie man unter Druck zum Mörder werden konnte. Jetzt hatte er eine Ahnung. Er hätte alles dafür getan, dass dieser Albtraum endete und er sein Kind, seine Exfreundin, Anouk, sein ungeborenes Baby, all die Menschen, die er liebte, unbeschadet in Sicherheit wüsste.
Zwei Minuten später ging er wieder hinauf, und in dem Moment, in dem er in den Raum trat, traf ihn der Blick des jungen Wirtes, ein Vietnamese, den Luc gut kannte und mochte – schließlich saß er mit Anouk praktisch jeden Morgen vor dieser Bar für den ersten Kaffee.
Er ging dicht an den Tresen heran, und der Mann trat auf ihn zu, beugte sich vor, flüsterte: »Commissaire … Das sind Sie in der Zeitung, oder? Der Mann, nach dem alle suchen. Ich …«
»Hören Sie, Vinh, ich bitte Sie, mir zu glauben, ich habe mit all dem, was geschrieben wird, nichts zu tun. Ich bitte Sie, rufen Sie nicht die Polizei. Ich bin hergekommen, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie Anouk gesehen haben. Ich muss sie finden.«
Vinh sah ihn traurig an. Luc wurde fast wahnsinnig vor Angst.
»Ich habe sie seit Tagen nicht gesehen«, sagte der Wirt schließlich, »sie ist … Ich weiß auch nicht. Sie war zuletzt mit Ihnen hier, letzten Freitag. Danach nicht mehr. Ich habe natürlich die Zeitung gelesen, wir alle hier sind besorgt, und ich habe danach immer wieder rübergesehen. Einmal war ich sogar drüben und habe geklingelt. Aber die Fensterläden sind zugeklappt, sehen Sie doch selbst …«
»O.k., danke. Hören Sie, wenn sie kommt, dann sagen Sie ihr, dass es mir gut geht. Sie muss sich keine Sorgen machen. Wir sehen uns bald wieder. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen will, dann soll sie sie Ihnen geben. Ich melde mich.«
Vinh nickte.
»Merci. Merci beaucoup, wirklich. Ich muss leider los.«
»Luc?«
Es war das erste Mal, dass ihn der Mann beim Vornamen nannte.
»Ja?«
»Niemals hätte ich geglaubt, was da steht.«
»Danke.«
Er ging hinaus, der Gorilla und Schneider betrachteten ihn prüfend. Als er wieder einstieg und den Motor anließ, sagte der Commissaire von hinten leise: »Sie ist nicht da, Verlain, Sie hätten uns einfach fragen können. Wir suchen doch auch nach ihr, Ihrer schwangeren Traumfrau.«
Luc war noch nicht angefahren, deswegen schlug er den Gang förmlich heraus, drehte sich um und brüllte: »Du Wichser, lass sie in Ruhe, ich warne dich, wenn ihr Anouk irgendwas antut, du und deine Schergen, dann bringe ich euch um. Alle.«
Er versuchte, nach dem Mann zu greifen, aber der Gorilla, der erst überrascht gewartet hatte, nahm nun seinen Arm und hielt ihn in einem Klammergriff.
»Schon gut, schon gut«, sagte Luc, aber als der Gorilla ihn losließ, setzte er hinzu: »Hast du das verstanden, Schneider?«
Doch der Polizist saß mit verschränkten Armen auf dem Rücksitz und grinste ihn an. »Der Commissaire der Herzen zeigt Nerven. Gut gebrüllt, Bulle. Ich sag mal so: Sie haben es in der Hand, dass niemandem etwas zustößt. Fast niemandem … Also, fahren Sie.«
Luc drehte sich wieder um, legte den Gang ein und fuhr über den Platz. Ein Blick nach links, das vierte Haus vor der Straßenecke, es war wie Vinh gesagt hatte, die Fensterläden waren geschlossen. Anouk war nicht zu Hause. Wo konnte sie nur sein?
Langsam ließ er den Wagen durch die kleinen Gassen rollen und fuhr dann am Stadttor Porte de Bourgogne vorbei, um gleich darauf auf die Quais abzubiegen.
Der Verkehr wurde dichter, Luc hoffte, dass sie nicht in einen Stau gerieten, dass sie nicht doch zu spät ihr Ziel erreichten. Links kam die Place de la Bourse in den Blick, ihre hochherrschaftlichen Bauten, die den Ruf Bordeaux’ als Handelsmetropole von Weltrang einst begründet hatten. Da drüben tobten die Kinder auf dem Miroir d’Eau, dem größten Wasserspiegel der Welt, der alle halbe Stunde Fontänen von zerstäubtem Wasser ausstieß. Luc sah ihr Lachen, ihre Freude, wie gern würde er hier mit seiner Tochter hingehen, eines Tages, mit seinen Töchtern, er korrigierte sich in Gedanken. Das durfte einfach kein unerreichbarer Traum bleiben.
Er blickte schnell wieder auf die Straße, der Verkehr ging im Stop-and-go-Modus voran, sie passierten die alten Sandsteinhäuser des Quai des Chartrons, es war das Viertel, in dem es früher riesige Weinlager gegeben hatte, später hatten entlang des Flusses die Weingroßhändler Quartier genommen, stets darauf bedacht, ihren Reichtum nicht allzu auffällig zur Schau zu stellen. In Bordeaux war immer Geld gewesen, man zeigte es eben nur nicht.
Rechts passierten sie die zu modernen Einkaufszentren umgebauten alten Hafenhallen. Dann – er hatte es den ganzen Weg über geahnt, weil er spürte, dass all das von einem finsteren Genie geplant worden war – kam die Brücke zu ihrer Rechten, und tatsächlich, es war eine Minute vor halb zwei, und die Schranken waren schon heruntergelassen worden. Die Passage über die Garonne war auf diesem Weg nun für die nächsten anderthalb Stunden gesperrt. Der Brückenkörper des neuen Pont Jacques Chaban-Delmas, benannt nach dem früheren Premierminister und Bürgermeister der Stadt, begann eben, sich zu heben. Luc hatte das erst einmal aus der Nähe gesehen, ein gigantisches Hebewerk, eine der höchsten Hubbrücken der Welt, der ganze Mittelteil der Brücke wurde an vier futuristisch aussehenden Türmen in die Höhe gezogen, es dauerte gerade mal zwölf Minuten, die Brückentafel anzuheben.
»Los, wir sollten uns beeilen.«
Schneider.
»Wohin fahren wir?«
»Folgen Sie der Navigation, Verlain.«
»Wohin …«
»Fahren Sie.«
Luc betrachtete die Brücke noch einen Moment, dann blickte er auf die Zielanzeige. Noch vierzehn Minuten. Zehn Kilometer. Was hatten die vor? Und was hatte das mit der Brücke zu tun? Er trat aufs Gas, nun ging es einmal quer durchs Viertel von Bacalan, auch hier hatte man früher nachts die Türen des Autos verriegelt, heute war es eines der Shoppingviertel von Bordeaux, rechts stand das futuristische Weinmuseum, die Cité du Vin, die die Form eines Weindekanters hatte. Luc raste weiter, die Navigation schickte ihn bald nach links, an der alten U-Boot-Basis vorbei, dann nach rechts, erneut in Richtung Rocade. Er stutzte, als ihn das System tatsächlich wieder auf die Ringautobahn wies.
»Wirklich?«, fragte er. »Ich soll wieder auf die Rocade fahren?«
»Fahren Sie«, sagte Schneider nur. Luc spürte, wie angespannt die Stimmung im Auto war. Er bog auf die dreispurige Straße. Vor ihm lag eine starke Steigung, die Rampe zum Pont d’Aquitaine, neben der Hubbrücke eine der fünf Querungen der Garonne, die Brücke, über die die A630 ging.
»In achthundert Metern haben Sie das Ziel erreicht«, teilte das Navigationssystem mit.
»Aber das ist mitten auf der Brücke«, sagte Luc.
»Wissen wir«, sagte der Gorilla, der bisher weitgehend geschwiegen hatte.
»Wie soll ich da anhalten? Das hier ist eine Autobahn.«
»Du hältst.«
Sie waren schon ein gutes Stück auf der riesigen Brücke, die viel höher war als jene in der Stadt, genau dreiundfünfzig Meter. Auch Kreuzfahrtriesen sollten vom Atlantik bis in die Altstadt von Bordeaux gelangen können, was die Brücke gewährleistete. Noch dreihundert Meter. Luc fuhr auf die rechte äußere Spur. Zweihundert Meter. Rechts war das rote Geländer, unter ihnen der Fluss. Er senkte die Geschwindigkeit. Der Lkw hinter ihnen gab Lichthupe und setzte zum Überholen an. Einhundert Meter. Es war 13.42 Uhr.
»Sie sollten sehr genau sein«, sagte Schneider. Lucs Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das hier war mörderisch. Es gab keine Standspur. Als das System meldete: »Sie haben das Ziel erreicht«, bremste er den Wagen komplett ab und schaltete die Warnblinkanlage ein. Sie standen. Mitten auf der Brücke, auf einer vielbefahrenen Autobahn. Die Polizei würde in wenigen Minuten hier sein.
»Aussteigen«, befahl Schneider knapp. »In drei Minuten kommt das Schiff. Nehmen Sie die Taschen aus dem Kofferraum. Und dann runter damit.«
»Ich soll …«
»Sie haben es schon verstanden.«
Luc betrachtete den Verkehr im Rückspiegel. Immer mehr Lkw kamen auf sie zu, einer riss offensichtlich unangenehm überrascht das Lenkrad herum, als er das Auto dort stehen sah, das Hupen war ohrenbetäubend.
»Das ist …«, begann Luc, doch dann entriegelte er entschlossen den Kofferraum, riss die Tür auf und kletterte hinaus, den Blick immer auf den nachfolgenden Verkehr, er schaffte es knapp vor einem heranrasenden Auto hinten an den Kofferraum, öffnete ihn und entnahm ihm die beiden Taschen, sie waren schwer – und der Inhalt …
Er blickte wieder auf die Autobahn, dann stieg er mit dem Fuß auf die Brüstung, die die Fahrbahn vom schmalen Fahrradweg trennte. Er hievte die Taschen darüber und sprang hinterher. Auf dem Weg war niemand unterwegs, wenigstens etwas. Er blickte in die Tiefe. Dort. Dort vorne kam es. Ein Frachtschiff mit gewaltigen Ausmaßen, ein weißer Koloss, der wer weiß was geladen hatte. Es war im Gegenlicht, an Bord war niemand auszumachen. Das Schiff kam auf ihn zu, Luc sah auf die Uhr. Noch eine Minute. Er versuchte den Namen des Schiffes zu erkennen, doch er war zu weit oben. Die Fahne war auch noch nicht zu sehen. Aber gut, er könnte es jederzeit herausfinden, die Kommandantur des Hafens führte Buch über alle Ein- und Ausfahrten. Wenn er jemals wieder Polizist sein könnte …
Noch zweihundert Meter. Einhundert. Das Schiff war gleich direkt unter ihm. Nun sah er es: ein Frachter, der helle Steine geladen hatte, Kiesel vielleicht.
Er hörte, wie jemand rief: »Zähl bis zehn, dann runter damit.«
Es war Schneider, der das Autofenster geöffnet hatte.
Zehn, neun, acht, Luc hievte die schwere Tasche aufs Geländer, sieben, sechs, fünf, er spürte, wie seine Hände zitterten, vier, drei, zwei, eins, dann warf er die erste Tasche in die Tiefe, hob schnell die andere an und ließ sie folgen, sie sauste hinunter. Er beugte sich über die Brücke, aber die Taschen waren nicht mehr zu sehen. Sicher waren sie in Sekundenbruchteilen auf dem Schiff aufgeschlagen.
Er drehte sich schnell um, kletterte wieder über die Brüstung, wartete, bis ihn der nächste Lkw passiert hatte, dann rannte er zum Wagen, stieg ein, schaltete – und raste los.
»Teufelskerl«, sagte Schneider. »Aber der Chef wusste, dass Sie gut sind.«
»Mir wäre es deutlich lieber gewesen, wenn ein Sattelschlepper Sie zermalmt hätte«, sagte Luc und blickte in den Rückspiegel. Doch die Anspannung war aus Schneiders Gesicht verschwunden, er lächelte ihn an.
»Wir fahren jetzt zurück. Den Weg kennen Sie ja. Mich lassen Sie in Bayonne raus. Und jetzt Ruhe bitte. Ich bin müde.«
Luc war es recht. Seine Hände beruhigten sich langsam. Er hatte eben Kokain auf ein Schiff geworfen, sehr viel Kokain. Es würde Tausende Jugendliche noch abhängiger machen, vielleicht würde es manche von ihnen töten. Es war nicht mehr zu ändern. Diese Feststellung brachte ihn beinahe um den Verstand. War es richtig, für seine Liebe all das zu tun? Nein. Seine Aufgabe wäre es, das hier aufzuhalten. Das alles. Und den Mann, der hinter ihm saß. Aber der Tag würde kommen, an dem er Schneider richten könnte. Und denjenigen, dessen Marionette er war. Hoffentlich.