Die dreihundert Meter von der Pension bis hinunter an die Strandmauer war ein Spießrutenlauf gewesen. Er hatte keine Ahnung, ob ihn jemand erkannt hatte – aber es hatte sich auf jeden Fall angefühlt, als folgten ihm Tausende Augen.
Luc Verlain. Staatsfeind Nummer eins. In diesem Moment sicherlich.
Er hatte sich durch die Gassen geschlagen, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, dabei hatte er versucht, niemanden anzusehen, dabei aber zugleich jeden zu beobachten. Es war schrecklich.
Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Wach in seinem Bett gelegen. Ans Fenster. Hinaussehen. Wieder ins Bett. Er hatte sich gewälzt, bis auch das Laken schweißnass gewesen war. Morgens um vier war er kurz eingenickt, aber die Albträume hatten ihn eingeholt, bevor es fünf Uhr war. Ein kleines, gesichtsloses Mädchen, ein Mann mit einem Messer. Der Mann hatte ein Gesicht gehabt. Das Gesicht von Franck Le Pagardier. Sein Lachen. Dann hatte sich das Gesicht verändert. Es war zu Lucs Gesicht geworden. Das Lachen aber, das scheußliche Lachen war geblieben.
Um sechs hatte er es gewagt, er hatte die Pension verlassen und war eine Stunde durch die menschenleere Stadt gelaufen. Er war nur drei Betrunkenen begegnet, sonst war niemand in den Straßen. Er hatte die frische Luft gespürt, die Kühle, den Wind vom Meer. All das hatte ihn besänftigt. Doch zurück in der Pension, war die Angst wiedergekommen. Und die Wut. Auf den Mann. Und auf sich selbst. Warum war er nicht noch besser vorbereitet gewesen? Auf diesen teuflischen Plan.
Er fühlte sich krank, ausgelaugt, fiebrig. Gleichzeitig wusste er, dass all das zu einem Ende kommen würde. In Kürze schon. Es würde kein gutes Ende nehmen. So weit war er jetzt. Und er war bereit dafür. Wenn er nur Lea retten könnte. Aurore. Und Anouk.
Er vermisste Anouk so sehr, dass es körperlich wehtat. Wo war sie? Warum war sie so lange nicht zu Hause gewesen?
Es war fünf vor zwölf, als er auf Umwegen den Alderdi-Eder-Park erreichte. Es war leer hier, zu leer. Luc erschrak, als er sah, warum. Er verschwand sofort in einer Häuserecke in der Hernani Kalea und spähte von dort hinüber.
Da standen gepanzerte Fahrzeuge der CNP, der Policía Nacional, also nicht der baskischen Autonomiepolizei, sondern der Truppen aus Madrid, und auf dem Platz sah er die dazugehörigen Beamten verteilt, alle in Uniform. Sie sahen unruhig hin und her. Es waren sicher zwanzig Polizisten. Neben ihnen standen zwei weitere Männer in dunklen Anzügen mit Knöpfen in den Ohren. Sie sahen aus wie die Leibwächter eines wichtigen Politikers.
Was ging hier vor? Luc wagte sich nicht aus der Deckung. Er sah auf die Uhr gegenüber. Eine Minute vor zwölf.
Er hörte das Röhren, bevor er sah, woher es rührte. Ein Bootsmotor, satt und voll, ähnlich dem, den er vor zwei Nächten schon einmal gehört hatte.
Nein, nicht ähnlich. Es war dasselbe Boot. Er sah es in der Ferne, es raste auf den Strand von La Concha zu. Heute sah er es also im Hellen. Ein schickes Holzboot, einer Yacht ähnlich, mit tiefen Aufbauten, das Deck war so blank poliert, als würde das Boot an einem Concours teilnehmen. Der Motor und die Schraube hinterließen ein Muster im blauen Wasser, symmetrisch, strotzend vor Kraft.
Er sah das Boot kurz vor dem Strand bremsen, dann verschwand es aus seinem Blickfeld. Sekunden später erstarb das Röhren. Nach einer weiteren Minute sah er sie, sie kamen die weiße Treppe vom Strand herauf, in einem Pulk, doch er war zu weit weg, um sie genau zu erkennen. Er sah nur eine Frau und ein Kind, ein Mädchen. Die Frau, die zweifelsohne Aurore war, beugte sich hinab und sagte etwas, und das Kind rannte los. In Richtung Park, in Richtung Karussell. Aurore drehte sich kurz um, und der Mann nickte ihr zu. Luc erkannte ihn sofort. Franck Le Pagardier. Er war es. Sein Nicken hieß, dass Aurore gehen könne. Zu ihrer Tochter. Zu seiner Tochter. Zu Lea.
Luc beugte sich weiter vor, um die drei nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Einer der Männer im schwarzen Anzug trat zu Le Pagardier und sagte ihm etwas. Daraufhin sah der sich um, und sein Blick suchte, nein, traf vielmehr zielgerichtet genau auf Luc. Es lag etwas Verwundertes darin, aber nur für Sekundenbruchteile, dann lächelte Le Pagardier – lächelte tief und wissend. Er nickte Luc zu. Dann hob er die Hand, es sollte wohl ein Winken andeuten, es lag etwas Huldigendes darin.
Luc wollte sich ohrfeigen, dass er nicht vorsichtiger gewesen war. Sie wussten in jeder Sekunde, wo er steckte. Wenn sie wollten, könnten die Männer in Schwarz ihn jetzt umlegen – oder die Polizisten auf dem Platz ihn verhaften.
Doch als er sein mieses Versteck kurzerhand aufgab und die leere Straße überquerte, schien es, als würden die Uniformierten ihn gar nicht wahrnehmen, es war, als würden sie sich immer genau dann wegdrehen, wenn er gerade in ihr Blickfeld geriet. Beim ersten Mal dachte Luc, es sei Zufall, beim dritten Mal war er sich nicht mehr so sicher. Hatte Le Pagardier all diese Polizisten bestochen? Das war doch nicht möglich.
»Monsieur Verlain«, sagte er laut einmal über den Platz, er stand unter einem der Schatten spendenden Tamarindenbäume und er sah so aus, wie Luc ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte, damals im feinen Haus am Bois de Boulogne. Er schien nicht ein Jahr älter geworden zu sein. Irgendwie hatte er aber seinen Stil verändert. Sah er damals aus wie ein konservativer Politiker – Zweireiher, Weste, breite Krawatte –, so gab er jetzt den erfolgreichen Unternehmer moderner Prägung, der oberste Knopf des weißen Hemdes stand offen, dazu ein schlichter blauer Anzug. Eine nonchalante Erscheinung, und dennoch war nichts in seinem Gesicht einprägsam – das fiel Luc sofort wieder auf.
Sie standen sich gegenüber, und ringsum schien sich alles zu verlangsamen, als wäre das der Showdown, auf den sie beide so lange gewartet hatten.
Wahrscheinlich war es genau so. Luc jedenfalls hatte Jahre darauf gewartet.
»Monsieur Le Pagardier«, sagte er leise und spürte, dass er in diesem Moment nicht einen Bruchteil der Selbstsicherheit hatte, die sein Gegenüber verströmte. Er blickte sich immer noch nervös um. Die Männer in Schwarz standen in Reichweite, aber auch sie blickten nicht zu ihnen hin, sondern suchten die Gegend ab.
»Sie brauchen nicht nervös zu sein«, sagte Le Pagardier gönnerhaft, als hätte er Lucs Gedanken erraten. »Sie sind hier in Sicherheit. Wir sind alle – quasi – zu Ihrem Schutz hier. Kommen Sie, setzen wir uns dort vorne hin, dann können Sie sehen, weshalb Sie gekommen sind.«
Er führte Luc zu einer weißen Bank, von der aus man einen guten Blick auf das Karussell hatte. Luc stockte der Atem.
Aurore. Und das Mädchen. Das von hier aus so aussah wie er selbst auf Kinderfotos. Er erinnerte sich an das Foto auf dem Kaminsims im Haus seines Vaters. Luc als Achtjähriger. Lea war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wuschelige dunkle Haare. Der dunkle Teint. Er löste sich, wollte auf das Karussell zugehen, doch Le Pagardier beschleunigte ebenso, und sein Ton veränderte sich augenblicklich.
»Setzen Sie sich auf die Bank, Verlain. Jetzt … Keinen Schritt weiter …«
Luc drehte sich zu ihm um. »Und wenn ich das nicht tue?«
»Dann wird Ihre Tochter miterleben, wie ein ihr völlig fremder Mann in einem sonnigen Park von mehreren Polizisten auf den Boden geworfen und mit Handschellen abgeführt wird.« Le Pagardiers Ton war schneidend. »Und Aurore wird denken, wie gut sie es doch mit mir hat. Wird den Kopf schütteln und mir nie Fragen danach stellen, was hier passiert ist. Was auch besser für sie sein wird. Und an Sie, Verlain, komme ich auch im Gefängnis ohne Probleme ran. Verstanden? Also, hinsetzen.« Luc warf einen Blick auf Lea, die von ihrer Mutter eben in der ersten Etage des historischen Karussells auf ein Pferd gesetzt wurde. Aus den Lautsprechern dröhnte Yellow Submarine. Dann setzte er sich auf die Bank, und Le Pagardier nahm neben ihm Platz.
»Da wären wir«, sagte er, und seine Stimme war wieder kontrolliert und seidig.
»Was wollen Sie von mir, Monsieur Le Pagardier?«, fragte Luc, ohne den Blick von Lea zu nehmen. »Sagen Sie es mir, denn ich weiß es nicht. Was soll dieses ganze Theater?«
»Ach«, sagte der Mann mit einem Lächeln, »es tut so gut zu spüren, dass sich Geschichte eben doch wiederholen kann – mit verteilten Rollen. Erst haben Sie mich gejagt und auch bekommen, und nun ist es genau andersherum. Aber darüber sollten wir bei anderer Gelegenheit reden. Ich bin nur kurz herübergekommen, damit Sie noch einmal, oder besser: zum ersten und letzten Mal Ihre Tochter sehen können. Nun ist der Moment da. Ist sie nicht reizend? So ein Schatz. Ich sage es Ihnen.«
Luc ballte die Fäuste, während er Lea lächeln sah. Von einer hydraulischen Stange bewegt, trabte das Pferd im Kreis. Aurore stand neben ihr und hielt die Kleine fest, Luc konnte ihr Juchzen bis hierher hören. Beide gingen so im Moment auf, dass sie nicht zu ihnen herübersahen.
»Wenn Sie Lea auch nur ein Haar krümmen, Le Pagardier, ich schwöre es Ihnen, dann bringe ich Sie um. Und zwar so langsam und grausam, dass Sie …«
»Sparen Sie sich das, Verlain, Sie werden dazu keine Gelegenheit bekommen. Aber, um Sie zu beruhigen, mir geht es beileibe nicht um eine Sechsjährige. Mir geht es einzig und allein um Sie.«
»Was wollen Sie?«
»Sehen Sie, wir lassen die Damen jetzt noch zwei Runden fahren, und dann werden wir uns von hier verabschieden. Sie verlassen diese schreckliche Pension, in der Sie wohnen. Dazu müssen Sie noch nicht einmal dahin zurück. Ihre paar Habseligkeiten haben wir schon abgeholt. Ontze, der Rezeptionist, ist ein alter Freund von mir. Sie gehen nur die paar Meter dort hinüber ins Hotel de Londres y de Inglaterra, das beste Haus am Platz, wie Sie sich denken können. In Zimmer 411 ist alles für Sie vorbereitet. Ich wollte, dass Sie einen schönen letzten Ausblick haben. Einen Ausblick auf mein wundervolles Zuhause, wenn ich das hinzufügen darf. Es ist alles bezahlt. Im Zimmer finden Sie weitere Instruktionen. Wir werden heute Abend reichlich Zeit haben, um miteinander zu plaudern. Sehr viel Zeit. Ich freue mich sehr darauf. Hier ist Ihre Zimmerkarte. Gehen Sie nicht an die Rezeption, ich möchte nicht, dass Sie doch noch verhaftet werden.«
Er reichte Luc eine dieser typischen Chipkarten für das Öffnen von Hoteltüren. Weißes Plastik mit dem Logo des Hotel de Londres y de Inglaterra, das direkt hinter ihnen an der Strandpromenade lag.
»Sie sind in Eile, Le Pagardier, das spüre ich. Ich denke, dass Sie mit dem Feuer spielen. Aurore weiß gar nicht, dass wir uns kennen – und dass ich hier bin, richtig? Und sie darf es nicht erfahren, weil sie dann doch Fragen stellen würde.«
Le Pagardier sah ihn scharf an, räusperte sich und sagte dann mit seinem unnachahmlichen Timbre in der Stimme, diesem Säuseln, diesem Schwingen: »Sie haben immer schnell gedacht, Verlain. Damals, als Sie sich entschieden haben, mich gegen alle Gesetze zu verraten – und heute wieder. Aber heute wird sich das nicht wiederholen. Wenn Sie sich ihr zu erkennen geben, dann sterben alle. Sie, das Mädchen und Aurore. Verstanden? Wir sehen uns heute Abend.«
Er stand auf und gab seinen Männern ein Zeichen. Die beiden Typen in Schwarz traten näher und bauten sich vor Luc auf, während Le Pagardier zum Karussell verschwand.
»Sie gehen in die andere Richtung«, sagte einer der beiden. Luc blickte unverwandt zu Lea. Was, wenn es wirklich das letzte Mal wäre, dass er sie sah? Er versuchte, sich ihr Lachen einzuprägen. Die Farbe ihres gelben Sommerkleides. Aurores versonnenen Blick, sie schaute ihre Tochter so an, wie sie damals Luc angesehen hatte, und doch ganz anders: Die Liebe, die heute in ihrem Blick lag, war beständig. Noch nie hatte Luc Aurore so schön gefunden.