Vendredi 2 juin, 17:30

Hatte er einen Plan gemacht? In einem dicken Buch – mit allen Stationen, Zeiten, Karten? Oder auf einem großen Flipchart, ein Foto von Luc in der Mitte und von ihm ausgehend Schnüre zu allen anderen Personen, zu Aurore, Lea, Anouk, Karim – so, wie es bei diesen merkwürdigen Fernsehsendungen immer war, wo autistische Menschen Ermittler spielten.

Luc fragte sich das wirklich: Wie hatte Le Pagardier dies alles geplant – sein ganzes teuflisches Werk?

Jeder Mensch kann zum Mörder werden. Luc hatte diesen Satz schon so oft gehört. Auf der Polizeischule, im Krimi, später im Polizeihauptquartier am Pariser Quai des Orfèvres. Er hatte ihn verinnerlicht, wie ihn jeder Polizist verinnerlicht hatte. Er hatte genickt, wenn er auf Partys danach gefragt worden war. Stimmt das wirklich? Glauben Sie das, Commissaire? Dass jeder Mensch töten könnte?

Ja, hatte er gesagt. Weil er es so gelernt hatte. Aber wenn er ganz ehrlich war, hatte er es gleichzeitig für viele Menschen in seinem Leben, ganz sicher für Anouk, für Alain, seinen Vater und auch für sich selbst ausgeschlossen. Natürlich hatte er schon in Notwehr schießen müssen, doch er hatte immer auf

Zum Mörder zu werden, einem Menschen ganz bewusst und willentlich das Leben nehmen – undenkbar. Zu groß war Lucs Respekt vor dem Gesetz, vor den Regeln, die seine Republik zusammenhielten, vor den Menschenrechten. Und sicher auch die Angst vor dem Töten selbst.

Doch nun, heute, in diesem Hotelzimmer, das so weit oben über der Straße thronte, dass er den Eindruck hatte, direkt unter ihm würde das Meer beginnen, da hätte Le Pagardier hereinkommen können, und er hätte ihn ohne zu zögern getötet, und wenn es hätte sein müssen, mit bloßen Händen.

Diesen Mann, der alles aufs Spiel setzte: dass Luc seine Tochter kennenlernte. Dass er Aurore würde um Verzeihung bitten können. Dass er Anouk wiedersah. Anouk, die spurlos verschwunden war. Dass sein Baby einen Vater hatte. Sein Bauch krampfte sich so sehr zusammen, dass er sich krümmte.

Er ging zum Balkonfenster und öffnete es, stieß es weit auf und atmete tief ein. Beim Blick von hier oben, aus der vierten Etage dieses hundert Jahre alten Belle-Époque-Hotels, gab es nur drei Farben: das helle Gold des Sandes, das tiefe Dunkelblau des Wassers, das überging ins helle Blau des Himmels, ein Azur, das seine Augen beinahe schmerzen ließ, weil es so hell und strahlend war und ihn an die schönsten Tage seines Lebens erinnerte – heute, an einem der dunkelsten Tage.

Der Ausblick aus seinem Zimmer war wirklich atemberaubend. Wenn da nicht diese Insel gewesen wäre mit der besonderen Rolle, die sie für sein Leben spielte. Santa Clara. Der bewaldete Felsen inmitten der Bucht. Der seine Blicke magisch anzog. Wenn er genau hinsah, konnte er die Fenster erkennen, die mitten in den Stein gehauen waren. Dort wohnte

Er sah, wie das Wasser gegen den Strand brandete, in dieser lang gezogenen Kurve, die die Bucht nachzeichnete, drei Kilometer breit, ein perfekter Halbkreis. Hier kamen die Wellen nur noch mit verminderter Kraft an, doch er konnte auch zwei Kilometer weiter nach Norden sehen, dort, wo die großen Wellen aus dem offenen Meer anlandeten und an die Felsen krachten. Die Wetterseite der Isla Santa Clara. Ein Schauspiel, das von mörderischen Kräften erzählte. Unglaublich, dass er dort draußen mit dem Surfbrett überlebt hatte. Unglaublich, was ein Mensch alleine schaffen konnte. Er bekreuzigte sich am offenen Fenster, dankte Gott für diese Rettung, dann schloss er die Augen, atmete tief ein und aus, bevor er sie wieder öffnete und sich dem Zimmer zuwandte, dieser riesigen Suite, die in keinem Vergleich stand zu dem feuchten und miefigen Loch, in dem er vorher gewohnt hatte.

Hier hatte er zwei Zimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, mit alten hölzernen Möbeln und einem riesigen Himmelbett mit dicken weißen Daunendecken, es gab schwere Teppiche in Dunkelblau, ein Marmorbad mit Wanne und Dusche, und dazu diese bodentiefen Fenster mit ihrer schmiedeeisernen Brüstung, die hinaus aufs Meer gingen.

Er hatte den Smoking bisher ignoriert, doch nun ging er langsam darauf zu, er hing an der Garderobenwand im Wohnzimmer. Mit einer Stecknadel war eine Karte daran festgepinnt:

Willkommen im wohl schönsten Hotel Spaniens.

Mein Fahrer wird Sie um 20.30 Uhr abholen. Er wird Sie danach zu mir bringen. Bitte ziehen Sie den Smoking an, aus Respekt vor

Bis nachher, Verlain.

Ich freue mich auf Sie. Wirklich.

 

Franck Le Pagardier

Er betrachtete den feinen Zwirn, den glänzenden schwarzen Stoff mit den Aufschlägen aus Seide, das weiße Hemd, den Kummerbund, die schwarze Fliege.

Er würde Le Pagardier, wenn es sein musste, auch im Smoking erwürgen.

Die Müdigkeit ergriff Besitz von ihm, er hatte seit gefühlt drei Tagen nicht mehr geschlafen. Jetzt legte er sich in Klamotten auf das komfortable Bett und versank in der weichen Decke. Er schloss die Augen, hörte durch die offenen Fenster nur noch die Wellen und von fern leise Stimmen fröhlicher Menschen. Wie gern hätte er Anouk gehört, seine Anouk, die Stimme, die er von allen auf der Welt am meisten liebte, und mit diesem Gedanken schlief er endlich ein, glitt davon in einen tiefen und traumlosen Schlaf.