»Luc?«
Keine Antwort.
»Luc?«
Yacine fragte nun lauter, vor einem Monat hatte sein Vorgesetzter ihm das Du angeboten. Der Commissaire schreckte hoch. »Ja, was?«
»Ich hab mir langsam Sorgen gemacht. Ich bin vor zwei Stunden ins Büro gekommen, und da saßt du da schon, hast aus dem Fenster gesehen und sahst aus, als hättest du die ganze Nacht nicht geschlafen. Und nun schaust du immer noch hinaus und sagst kein Wort, ignorierst das Telefon, und ich überlege, ob du einen Schlaganfall hattest.«
Luc rang sich ein Lächeln ab. »Das Telefon hat geklingelt?«
»Dreimal.«
»Was Wichtiges?«
»Nein.«
»Na, siehst du.«
»Luc.«
»Ja?«
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Du denkst immer noch an die Frau, oder?«
Luc sagte nichts, sondern sah wieder aus dem Fenster und beobachtete das Ausflugsschiff von Bâteaux-Mouches, das ein Deck voller Touristen über die Seine schipperte, gerade passierten sie den Quai des Orfèvres, das Hauptquartier der Pariser Polizei, das sicher nur die wenigsten kannten, sie alle warteten auf die Vorbeifahrt an der Kathedrale von Notre-Dame. Er aber saß hier drinnen, hinter den dicken Sandsteinmauern in der dritten Etage dieses altehrwürdigen Baus.
Yacine hatte recht, er dachte an die Frau, aber eigentlich dachte er noch mehr an den Mann, der die Frau umgebracht hatte. Er dachte an Franck Le Pagardier. Seit zwei Monaten dachte er ununterbrochen an ihn. Er hatte sogar schon eine kleine Affäre mit einer Frau beendet, weil sie ihn angefahren hatte, er sei ja mit seiner Arbeit verheiratet und überhaupt nicht bei der Sache, wenn er mit ihr zusammen sei. Es stimmte. Auch sie hatte recht. Er konnte nicht mit ihr essen gehen, nicht mit ihr ins Musée d’Orsay, nicht mit ihr feiern, nicht mit ihr schlafen, solange dieser Mann da draußen frei herumlief.
Es war ein Gefühl, das er nicht kannte, diese miese Hilflosigkeit. Er war schon eine Weile bei der Mordkommission, und er hatte bis hierher jeden seiner Fälle gelöst. Doch diese Serie schien nun abzureißen. Er kam nicht weiter. Er hatte nichts in der Hand. Keine Indizien oder Beweise, nicht mal ein Motiv. Es gab keine Spuren vom Ehemann an der Leiche, der Politiker hatte sogar bereitwillig eine DNS-Probe abgegeben. Sie hatten vor zwei Wochen einen Landstreicher festgenommen, der im Sechzehnten zwei Einbrüche verübt hatte, die er beide zugab. Einen Einbruch oder gar einen Mord im Hause Le Pagardier wies er aber weit von sich. DNS-Spuren auch hier: absolute Fehlanzeige.
Luc hatte den Politiker noch mehrfach besucht. Immer war der ausgesucht höflich geblieben. Und dennoch war Lucs Bauchgefühl nicht verschwunden. Er war es. Er hatte seine Frau umgebracht. Ihr die Kehle aufgeschnitten.
Vor drei Wochen hatte Luc genug gehabt. Er hatte begonnen, in Le Pagardiers Vergangenheit zu wühlen. Hatte sich Steuerakten kommen lassen und die Handelsregisterauszüge des Unternehmers. Sie waren aufschlussreich, aber Verbrechen gingen daraus nicht hervor – bloß Ungereimtheiten. Nichts, gar nichts, das einen Mord auch nur annäherungsweise erklärte.
Die Wahlen standen kurz bevor, in einer Woche würde gewählt – und dann hätte Le Pagardier die Immunität eines Abgeordneten. Klar, die würde sich aufheben lassen, wenn Luc doch noch Beweise fand – aber die waren nicht in Sicht, und Ermittlungen gegen einen Mann vom Kaliber Le Pagardiers würden sich im Verborgenen schlecht führen lassen.
»Ich muss mal an die frische Luft«, sagte Luc, stand auf und streifte seine Lederjacke über, noch war der Frühsommer in Paris nicht recht angekommen.
»Kann ich mitkommen?«, fragte Yacine, aber Luc reagierte nicht darauf und ging hinaus. Er wollte allein sein – mehr noch: Er musste allein sein, weil er etwas vorhatte.