Der Kies spritzte nach allen Seiten, als Luc in hohem Tempo auf den engen Weg fuhr, der durch das schmiedeeiserne Tor zum Portal des Schlosses führte. Die Weinreben ringsum trugen Blüten, in vier Monaten würden es feste rote Trauben sein.
Er parkte den Jaguar vor der ausladenden Kulisse des Château Lecœur, diesem Märchenschloss mit seinen Türmchen und Zinnen. Die Erinnerung an den Todesfall beim Marathon du Médoc kam ihm augenblicklich in den Sinn, doch Luc schob sie fort – keine Zeit dafür.
Er betrachtete die Wagen vor dem Château: den kleinen Citroën der Police municipale aus Lacanau. Den zivilen Polizeiwagen der Brigade criminelle aus Bordeaux. Eine kleine Ente, ein 2CV mit einem ausländischen Kennzeichen, NF, Nordfriesland, Deutschland. Einer fehlte – aber so schnell konnte nicht mal Yacines 7er BMW sein, dass er es in drei Stunden von Paris hierher geschafft hätte.
Luc stieg aus, ging zu den Weinstöcken hinüber und berührte die Blüten – unglaublich, dass daraus bald ein großer Wein wurde. Andererseits: So unglaublich nun auch wieder nicht, er hatte es erlebt, schon so oft.
Luc brauchte keinen Portier, er kannte dieses Schloss seit Kindertagen. Sie hatten das ganze Château als ihren Spielplatz benutzt, hatten in der Produktionshalle Verstecken gespielt.
Er ging durch das große Portal hinein – edles Holz, Marmorböden, ebenso alte wie ehrwürdige Eisengeländer. Die Wendeltreppe hinunter in den Keller, wo die Schätze lagen. Die Fackeln, aufgebaut wie für den Empfang einer Sekte. Hatte Richard da etwas falsch verstanden?
Er ging den Gang entlang, links lagerten die Flaschen der alten Jahrgänge, rechts die Fässer, die bald auf Flaschen gezogen werden sollten, alte Eiche, jedes Fass allein achthundert Euro wert, mit dem Wein darin wurde es unbezahlbar.
Sie saßen alle da, um den großen Holztisch, den Richard nur zu ganz besonderen Anlässen nutzte, wenn jemand gestorben oder geboren war, bei Hochzeiten von Freunden, bei einem Jahrhundertjahrgang. Und heute. Auf Lucs Anruf hin.
Da saßen: Richard Lecœur, der Besitzer und Winzer des Château Lecœur Saint-Julien, Lucs Schulfreund aus Kindertagen. Robert Dubois, der Journalist und Reporter der regionalen Zeitung Sud Ouest, der mit Luc schon seit über einem Jahr eng zusammenarbeitete – sie waren Freunde geworden. Lou, der Chef der Police municipale von Lacanau, der heimliche Bürgermeister der ganzen Küste, der Dritte aus der Troika der Grundschule von Sainte-Hélène – neben Richard und Luc. Gilen Etxeberria, der Commissaire, der vor Lucs Ankunft in Bordeaux die Einheit geleitet hatte. Der Baske, der erst Feind und dann Freund geworden war. Und der vor Jahren in einem Skandal mit Schimpf und Schande aus dem Baskenland nach Bordeaux verjagt worden war. Hugo Pannetier, der Brigadier, früher Beamter der Festnahmeeinheit CRS, nun einer von Lucs Assistenten, ein verlässlicher und familienbewusster Polizist. Und schließlich: Cecilia Brückner, Deutsche aus Husum, seit zwei Jahren in der Gegend, Surflehrerin in dem kleinen Dorf Carcans-Plage, Luc hatte kurz nach seiner Ankunft eine heftige sommerliche Affäre mit ihr gehabt. Zum Herbst hatte Cecilia in Bordeaux zu studieren begonnen, der Kontakt war weniger geworden, doch nie ganz abgerissen.
Es war Richard, der zuerst das Wort ergriff: »Luc«, sagte er, »du bist endlich da.«
Der Commissaire wollte eben antworten, da hörten sie durch die dicken Sandsteinmauern ein Hupen.
»Warten wir noch«, sagte Luc und lächelte, obwohl ihm nicht nach Lächeln zumute war.
Und richtig, es war Yacine, der hereinkam, den Commissaire per Handschlag grüßte, eine sehr kurze Umarmung, und dann am Tisch Platz nahm und zu ihm aufsah. Yacine Zitouna, Kind algerischer Einwanderer, der fast auf die schiefe Bahn geraten wäre, doch dann hatte Luc ihn in Paris unter seine Fittiche genommen, er hatte ihn in seine Einheit geholt, und seitdem war Yacine sein Partner. Nun, wo der Algerier in Paris und Luc in Bordeaux war, blieb ihnen die Freundschaft.
Luc blickte auf die Runde, die im Kerzenschein saß wie ein Geheimbund aus ferner Zeit, und er spürte ein warmes Gefühl: Wann immer es wirklich drauf ankäme, wäre das hier genau die Truppe, die er sich an seine Seite wünschen würde, um sich zu verteidigen. Und jetzt kam es darauf an. Mehr als jemals zuvor. Er betrachtete ihre Gesichter. Erwartend. Furchtlos. Unerschrocken.
Das hier war eine Armee. Seine Armee. Die Luc-Armee.
Er hatte jedem von ihnen eine Nachricht geschrieben, am Morgen, nachdem er die Wohnung am Place Canteloup verlassen hatte.
Nur eine Nachricht. Jetzt saßen sie alle um diesen Tisch. Luc spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, er wischte sie weg. Nicht jetzt, die Rührung würde warten müssen.
Er ging zu ihnen, sie hatten den Stuhl am Kopfende freigehalten. Er nahm den Stuhl und setzte sich damit an die Längsseite des Tisches, setzte sich zwischen Robert und Cecilia in ihre Mitte. Nicht ihretwegen. Sondern seinetwegen. Er wollte bei ihnen sein, ihre Kraft spüren. Weil er sich so alleine fühlte.
»Danke, Leute«, sagte er und ließ seinen Blick schweifen. »Ihr seid alle da.« Sie lächelten, Cecilia blinzelte ihm aufmunternd zu.
»O.k., Leute. Hier passieren Dinge, die ich nicht steuern kann. Ich sage es ganz ehrlich: Ich habe Angst.«
»Was ist los, Luc? Was ist passiert?« Es war Richard, der Winzer, der mit dieser ersten Frage gewissermaßen das Ruder übernahm. Luc hatte ihm vor einem Dreivierteljahr, nach dem Mord an dem Winzer aus Saint-Émilion, sprichwörtlich den Arsch gerettet.
»Ich habe diesen Brief bekommen, vorhin, er lag vor der Wohnungstür.« Er reichte Richard das Schreiben, der es überflog und an seinen Sitznachbarn Hugo weiterreichte – und dann umrundete es den Tisch wie bei einem Stille-Post-Spiel, und die Mienen verfestigten sich, wurden entschlossener. Hatte es vielleicht noch den einen oder anderen gegeben, der gehofft hatte, dies hier sei wirklich bloß ein Spiel, eine Art Junggesellenabschied oder so etwas, dann sah Luc jetzt in allen Mienen, was er fühlte: Das hier war Ernst.
»Ich habe mich jetzt mit dem Gedanken abgefunden, dass ich eine Tochter habe.« Er wagte es nicht mehr, Cecilia anzusehen. »Aber die Frage ist: Warum hat sich jemand darum gekümmert? Warum gibt es jemanden, der die Geschichte dazu so genau kennt? Erinnert Ihr euch an den Einbruch? In die Cabane? Lou. Du hast die Ermittlungen damals geführt.«
Der Polizist aus Lacanau nickte. »Der Einbrecher hat den alten Gaston niedergeschlagen.«
»Mit einem Totschläger, ganz genau«, bestätigte Luc. Gaston war der Wirt aus Carcans-Plage, er hatte im September Licht in Lucs Hütte gesehen und versucht, den Eindringling zu stellen – und der hatte ihn ins Krankenhaus befördert.
»Da meint es jemand ernst.«
»Aber wer kann das sein, Luc?« Es war Yacine, dessen Stimme besorgt klang. Aber auch ungläubig: Wer sollte seinem Chef, Luc, etwas Böses wollen?
»Hört zu: Ich saß jetzt für einige Stunden am Ufer der Gironde. Ich habe nur dort gesessen und auf den Fluss geschaut. Ich habe nachgedacht. Ich habe mich gefragt, wer mich derart hassen könnte. Wer derart obsessiv sein könnte, um sich nun schon ein Jahr mit mir zu beschäftigen. Ihr wisst, ich habe schon viele Menschen festgenommen und hinter Gitter gebracht, es kommen also diverse Leute infrage. Andererseits: Der gemeine Verbrecher ist nicht rachsüchtig. Und viele von denen sitzen auch noch. Mir ist nur einer eingefallen, dem ich wirklich übel mitgespielt habe – und zwar abseits des Gesetzes. Ein Mann, den ich um die Karriere – und vielleicht die ganze Existenz – gebracht habe, die ihm quasi garantiert schien. Einer, zu dem auch handgeschriebene Karten passen.«
»Sag schon, Luc, wer will dir ans Leder?«
»Der Mann heißt Franck Le Pagardier – ich bin mir sicher, dass er für all das verantwortlich ist, und wir werden jetzt besprechen, was wir gegen ihn tun können.«
Yacine war der Erste, der reagierte – auf Yacine-Art: Er hieb auf den Tisch, dass die Gläser der anderen tanzten, und der wertvolle Grand Cru aus dem Jahr 2008, den Richard eigens zu diesem Anlass entkorkt hatte, in bedrohlichen Wellengang geriet. »Der seine Frau umgebracht hat?!«
»Genau der«, sagte Luc mit fester Stimme.
»Sag schon, was können wir tun?«, fragte Lou, der es gewohnt war, sofort die Initiative zu ergreifen.
»O.k., Leute«, sagte Luc beinahe feierlich, und alle rückten näher an ihn heran, »das ist der Plan.«