Er hatte sie anlügen müssen. Seine Freunde. Natürlich war er nicht erst am Ufer der Gironde auf Le Pagardier gekommen.
Es war eine Sisyphosarbeit gewesen. Die Arbeit von Jahren. Er hatte Franck Le Pagardier praktisch in dem Augenblick zu verfolgen begonnen, als der sich aus Frankreich abgesetzt hatte. Von da an hatte Luc ihn im Visier.
Er war sich sicher, dass Le Pagardier seine Frau umgebracht hatte – er hatte nie daran gezweifelt, nicht für einen Moment. Und er war sich spätestens nach den ersten Ansichtskarten sicher, dass der Mann auf Rache sann – auch wenn Luc das Ausmaß seines Hasses nicht klar gewesen war. Nachdem sich Le Pagardier endgültig in San Sebastián niedergelassen hatte, war die Stadt für Luc zu einem ständigen Reiseziel geworden. Nach Feierabend, an langen Wochenenden, zweimal hatte er sogar seinen Urlaub hier verbracht. Beharrlich hatte er über diesen reichen Unternehmer, der sich die Stadt langsam aber sicher untertan machte, Informationen gesammelt – doch der Gegenstand seiner Geschäfte ließ sich auch beim besten Willen nicht ausmachen. »Import/Export« hieß es, mehr war nicht rauszukriegen, und Luc wollte nicht mit der Polizei sprechen, es war ein Gefühl – nur nicht zu früh die Pferde scheu machen.
Als Udaletxea von den Bauarbeitern gesprochen hatte, wäre Luc allerdings fast ein »Ich weiß« herausgerutscht. Denn auch er hatte mit einem Bauarbeiter gesprochen, nachts, ein sehr betrunkener Mann in einer Bar in der Altstadt. Irgendwann, nach mehreren Schnäpsen und nachdem mehrere hundert Euro Bargeld den Besitzer gewechselt hatten, hatte der Mann von den Arbeiten erzählt, wie sie den Ozean untertunnelt und den Tunnel ausgeschalt hatten, von den Unmengen Beton, die hineingeflossen waren.
Eben ging Luc am Eingang zum städtischen Bad vorbei, das genau unterhalb der Strandpromenade lag. Einige Meter weiter war in die Mauer ein Strandkiosk eingelassen, dahinter die öffentliche Toilette. Die Tür stand offen. Er ging hindurch, die Eingänge für Männer und Frauen waren zwei Stahltüren auf der rechten Seite. Ganz hinten war eine kleine Tür, auf der »Durchgang verboten« stand. Luc sah sich um und öffnete sie mit dem Schlüssel, den er nach zwei Jahren Suche hatte nachmachen lassen. Hätte sein Plan nicht funktioniert, wäre spätestens jetzt ein bewaffneter Mann hinter ihm aufgetaucht und hätte ihn aufgehalten. Doch im Tunnel war absolute Stille. Alle waren ausgeflogen. Auf dem Weg zu Cecilia.
Er hätte sich besser gefühlt, wenn seine Freunde jetzt bei ihm gewesen wären. Sie hatten ihm in den schwierigen Momenten der letzten Tage Zuversicht gegeben. In den Momenten, in denen Le Pagardier ihn gezwungen hatte, die furchtbarsten Dinge zu tun. In Momenten, in denen Luc langsam wirklich anfing zu zweifeln, ob er hier lebend rauskommen würde.
Doch dann hatte er im Vorbeigehen immer mal wieder einen Blick erhascht. Mal war es Hugo gewesen, den er im Tross der Nachtschwärmer gesehen hatte. Mal Lou, der in der Pintxo-Bar neben ihm gestanden hatte. Vorhin, vom Balkon seines Hotels aus, hatte er Richard Lecœur gesehen, der am Strand nervös um sich blickte. Nur Etxeberria hatte sich zurückgehalten, sein Gesicht durfte unter keinen Umständen auffallen, dafür war er unter den Polizisten hier unten immer noch zu bekannt.
Sie alle waren in San Sebastián gewesen, um Luc abzusichern, für ihn Recherchen durchzuführen. Sie glaubten, dass es am nächsten oder übernächsten Tag zu einem Showdown kommen würde. Und Luc ließ sie in diesem Glauben. Denn diesen Showdown, den, den er nun herbeiführte, musste er alleine bewältigen. Er wollte nicht auf den letzten Metern doch noch zum Mörder werden, weil er einen seiner Freunde wissentlich in eine Katastrophe führte. Wer wusste schon, was ihn auf Santa Clara erwartete.
Genau deshalb hatte er auch Anouk nicht eingeweiht. In keinen Teil der Geschichte. Die Liebe seines Lebens, das Baby in ihrem Bauch und diese lebensgefährliche Aktion – nein, nicht auszudenken.
Doch nun vermisste er seine Freunde. Sie würden ihm nicht mehr zu Hilfe kommen können, denn sie wussten ja nicht, wie sie das hätten anstellen können. Der Tunnel war immer sein Geheimnis geblieben.
Er stieg die steinernen Treppen hinab ins Dunkel, es roch modrig, nach Meer und Salz und Moos. Weiter oben war die Treppe noch schwach beleuchtet gewesen, doch mit jeder Stufe schwand das Licht. Es waren sicher dreißig oder vierzig Meter. Unten angekommen schaltete er die Taschenlampe ein, die er vorhin in einem Eisenwarenladen gekauft hatte. Er leuchtete nach vorne, die Röhre unter dem Meer schien endlos, ein gerader Tunnel, der leicht abfiel. Es musste eine ungeheure Arbeit gewesen sein, dieses Projekt durchzuführen – und das auch noch, ohne Aufsehen zu erregen. Wo hatten sie all die Erde und all das Gestein gelassen?
Er befühlte die Wände, sie waren nicht glatt geputzt, sondern hatten eher das Aussehen einer Tropfsteinhöhle. Die Arbeiter hatten sich beeilt, die Fertigstellung war außergewöhnlich schnell gegangen, hatte sein Informant gesagt.
Luc hasste enge Höhlen wie diese, in denen man den Ausgang nicht sah. Er ging weiter, ein wenig schneller als gewöhnlich, er spürte, wie sein Herz schlug, er spürte es im Hals, er wollte hier raus, wollte wissen, wie es am anderen Ende aussah. Er hatte immer gewusst, dass er nur einmal auf diese Insel gelangen würde – einmal lebendig. Heute war es so weit. Die Lampe setzte einzelne Lichtpunkte in der Röhre, er musste aus der Ferne wie ein Glühwürmchen aussehen. Er hoffte allerdings, dass niemand dieses Glühwürmchen sah – wären noch Wachen hier unten, dann würde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Sonnenaufgang nicht mehr erleben.
Luc wusste nicht, wie lange er gelaufen war, er hatte keine Ahnung, wo genau er war, er spürte nur die Beklemmung durch das Wissen, dass er allein war in einer winzigen Tunnelröhre und über ihm der Ozean rauschte, dreißig Meter Wasser, von ihm nur getrennt durch viel Erde und wenig Beton.
Sein Atem ging rascher, offenbar stieg die Röhre wieder an. Und richtig, da vorne war das Ende, kein Licht, nein, die Taschenlampe traf vielmehr auf eine Stahltür, eine dunkelgrüne Wand mit einem Drehrad, wie in einem U-Boot. Er ging darauf zu, dann berührte er das kalte Metall. Er lehnte sich mit dem Kopf dagegen, schloss kurz die Augen und atmete durch. Jetzt galt es. Die nächsten Minuten würden über Tod und Leben entscheiden. Seines. Aurores. Leas.
Luc musste den Mann, der hier wohnte, überraschen. Darauf kam es an.
Er drehte das Rad, und die Tür sprang erstaunlich leicht auf. Dahinter war eine Treppe. Von oben kamen frische Luft und ein zarter Lichtstrahl. Der Mond.
Er stieg langsam und vorsichtig die Stufen empor. Bevor er sich umsehen konnte, sagte die kühle Stimme hinter ihm:
»Also, Commissaire, in dem Hotel in Bordeaux war Cecilia jedenfalls nicht. Wo ist sie denn nun?«
Als er sich umdrehte, stand da Le Pagardier, eine Pistole in der Hand, die Mündung auf ihn gerichtet. Und sagte: »Willkommen auf Santa Clara, Monsieur Verlain.«