Sie ließ das Handy sinken, und es fiel ihr aus der Hand. Merde. Sie hatte keine dramatische Geste geplant. Und nun stand sie hier, mit offenem Mund, sah aus dem Fenster und griff sich aus Reflex an den Bauch, der sich wölbte. Sie wollte es schützen, dieses Baby. Doch es war noch etwas anderes: Sie fühlte sich so allein und wollte Kontakt zu dem anderen Menschen im Raum. Luc war weg. Es war nicht zu fassen. Er saß in Haft, keine zwei Stunden von hier, doch nach diesem Telefonat war ihr klar: Er war unerreichbar.
Was war das für ein Kerl? Commissaire Schneider. Seine Stimme hatte düster geklungen. Fies. Sie hatte Gänsehaut bekommen.
Als Luc vor zwei Tagen aus der Wohnung gestürmt war, hatte er einen Ausdruck in seinen Augen gehabt, den sie an ihm noch nie gesehen hatte: Da waren Traurigkeit und Entschiedenheit gewesen – sie hätte nicht sagen können, welches Gefühl überwog. Er hatte sie nicht mehr anschauen können, sondern hatte mit glasigen Augen durch sie hindurchgesehen, dann hatte er seinen Autoschlüssel genommen und war losgerast.
Sie hatte sich erst mal auf das Bett setzen müssen, in dem sie zusammen eine sorgenfreie Nacht verbracht hatten. Andererseits: Hatte Luc wirklich nichts geahnt? War er wirklich sorgenfrei gewesen?
Sie hatte eine Weile überlegt, dann war sie hinunter in die Stadt gegangen. Sie war ziellos durch die Straßen gelaufen, irgendwann, kurz vor der Place Saint-Pierre hatte sie seine Nummer gewählt. Sofort war die Mailbox angesprungen. So wie beim nächsten und übernächsten Mal. Und in der folgenden Nacht. Sie hatte sich gewälzt, das Baby hatte in ihrem Bauch rumort, und sie hatte sich so allein und fremd gefühlt. Sie hatte überlegt, einfach direkt loszufahren – aber was hätte sie tun sollen? Er wollte offenbar nicht, dass sie ihm half.
Sie wollte doch nur ihren Luc zurück. Sie hatte viel geweint in dieser Nacht.
Den nächsten Tag, Sonntag, hatte sie wie in Trance verbracht. Am Montag war sie ins Commissariat gegangen, doch das Büro war wie ausgestorben. Kein Hugo, kein Etxeberria. Niemand wusste, wo die Männer waren. Merkwürdig – was war hier los? Dann, kurz darauf in der Stadt, klingelte ihr Telefon. Unbekannte Nummer.
Der fiese Commissaire erzählte ihr von der Festnahme. Mit Luc hatte sie nicht sprechen können. Aber sie hatte ihn im Hintergrund husten hören, am Ende des Gesprächs. Es hatte nicht nach ihm geklungen – und doch: Es war ein Rhythmus gewesen, dieses Husten, drei kurze Huster, dann drei lang gezogene, und zum Schluss wieder drei kurze, es klang wie ein Anfall und war doch die Nachricht, die sie nach Sekunden entschlüsselt hatte: S-O-S.
Luc war in Gefahr – und er hatte sich entschlossen, es ihr mitzuteilen.
Anouk war sofort wieder ins Commissariat gerannt, so schnell ihr wachsender Bauch das zuließ. Sie war in Preud’hommes Büro gestürmt. Der hatte auf seinem Stuhl gesessen und hielt den Schreibtisch umklammert. Er sah aus, als wäre er innerhalb weniger Tage um zwanzig Jahre gealtert. Er reichte ihr wortlos den Fahndungsaufruf, Lucs Foto oben auf dem Papier. Darunter sein Name. Und der Tatvorwurf: Mord. Er sollte Karim Abdoulahi umgebracht haben. Sie hatten ihn an einem Strand im Baskenland gefunden. Er. Luc. Ein Mörder.
Sie hatte weinen wollen, aber es ging nicht. Sie war einfach zu wütend, zu verletzt. Und sie sorgte sich: um Preud’homme, der grau und krank aussah. Um Luc. Um ihr gemeinsames Baby. Nur um sich sorgte sie sich nicht. Sie wusste, dass sie handeln musste.
»Ich muss los«, sagte sie nur, dann stürmte sie aus dem Büro, holte den Autoschlüssel des zivilen Polizeiwagens und war eine halbe Stunde später auf der A63 in Richtung Spanien.