Die große Unbekannte –
Part 1

Die besondere Herausforderung meiner täglichen Laufstrecke, Sie wissen es bereits, sind die Steigungen. Wie oft habe ich schon gedacht: »Auf so einer ganz ebenen Strecke, da muss es sich ja supereinfach laufen.« Vor meinem inneren Auge sah ich Best-Pace-Zeiten und eine hoch motivierte, nie außer Atem kommende Nicole.

Und welche Stadt eignet sich am besten, um diese Theorie in die Praxis umzusetzen? Richtig: Hamburg.

Beruflich verschlägt es mich recht häufig in die von mir so sehr geliebte Stadt, und die Laufsachen haben ohnehin ihren festen Platz im Koffer. Daher kam der Tag schneller, als ich dachte, und die schöne Alster wollte von mir erlaufen werden.

Die Alsterrunde in Hamburg ist 7 ,5 Kilometer lang und vermutlich eine der meistfrequentierten Laufstrecken in Deutschland.

Während ich in der Eifel beim Laufen immer nur auf eine Handvoll Menschen treffe, und die wenigsten davon sind Läufer, eher Wanderer oder Spaziergänger, ist es an der Alster ein regelrechtes Hordenlaufen.

 

Zwei Dinge durfte ich hier sehr schnell lernen:

  1. Anders als in der Eifel grüßt man sich nicht.

    Ich habe es die ersten Minuten noch versucht und bemerkte schnell die irritierten Blicke. Es sind die gleichen irritierten Blicke, die Sie ernten, wenn Sie in der Eifel NICHT grüßen.

  2. Alles darf sein.

    Nie habe ich mehr Diversität beim Joggen erlebt als hier.

Ich sah die:

Ich sah die mit Handicap und die, die es in die Wiege gelegt bekommen haben.

Und alles war so richtig.

Jeder und jede durfte sein.

Keiner oder keine wurde schräg angeguckt oder genervt überholt.

Jeder lief in seinem Tempo und mit seinem Lebensrucksack, den man ja von außen nicht sieht.

 

Ich empfand diese Beobachtung als nahezu philosophisch.

Wir Menschen sind zum Laufen gemacht.

Und zwar jede/r so, wie er/sie kann, will und macht.

Und ich war eine von ihnen.

Es fühlte sich großartig an, Teil dieses Hordenlaufens zu sein.

Leider war das das Einzige, was sich großartig anfühlte.

Denn entgegen meiner Erwartung, eine solch ebene Strecke sei für meine Kondition ein Klacks, gestaltete sich diese Runde zum schwersten Lauf ever. Es fühlte sich so mühselig an, dass mir zum Schluss sogar die Tränen kamen. Ich habe mich selbst bemitleidet und stellte plötzlich das Laufen überhaupt infrage.

Leider hatte ich niemanden, dem ich die Schuld hätte geben können, und glauben Sie mir, der Wunsch, jemanden zu beschimpfen oder gar zu verprügeln, war omnipräsent. Und blöd an der Alster rumheulen wollte ich auch nicht. Also bin ich ziemlich frustriert ins Hotel zurückgegangen.

Ohne Hochgefühl.

 

Was war passiert?

Warum brachte mich eine fremde, aber doch so schöne Strecke (ich meine, Hamburg! Alster!) so durcheinander?

Warum hatte ich derartige Probleme mit Atmung, Kondition und Motivation?

Gemessen an dem, was ich sonst laufe, hätte es mir von den Fähigkeiten her doch leichtfallen müssen.

»Du hast es in den Beinen. Aber dir fehlt es im Kopf!«, sprach ich zu mir selbst.

Heißt das etwa, dass Laufen eine genauso blöde Kopfsache ist wie alle anderen Themen?

Ist die körperliche Verfassung zweitrangig im Vergleich zur persönlichen Haltung?

Aber das würde ja wiederum bedeuten, dass es komplett an mir liegt. Und zwar an meinem Kopf und nicht an meinem VO2 Max- oder Laktatwert.

Gut, wenn das so ist, dann versuche ich es morgen noch mal.

Sooo schnell lasse ich die Alster nicht hinter mir.

 

Tags darauf schlüpfte ich mit frischem Kopf, Dankbarkeit und Gelassenheit wieder in meine Turnschuhe.

»Das passiert mir nicht noch einmal. Jetzt freue ich mich auf den Lauf, genieße die Umgebung und bin dankbar dafür, dass ich es kann und mache.«

Gesagt, getan.

Den Kopf zurechtgerückt.

Turnschuhe an, Jacke zu, los ging’s.

Und ja, meine Damen, es gab einen großen Unterschied zum ersten Lauf.

Denn die Tränen der Verzweiflung kamen schon bei Kilometer fünf.

»Was für eine Kacke tust du dir hier eigentlich an? Du könntest auch echt lieber mal ’ne Stunde länger schlafen, als hier an der saublöden Alster langzulaufen. Und wie voll es hier ist …«, rief meine innere Stimme mir zu.

Ich kenne diese innere Stimme.

Ich überhöre sie gern so lange, bis sie verstummt.

An diesem Tag verstummte sie nicht.

Ich habe nicht abgebrochen, ich bin die 7 ,5 Kilometer zu Ende gelaufen, und es hat bis zum Schluss keinen Spaß gemacht.

Eine weitere Erkenntnis: Man kann eben auch 7 ,5 Kilometer ohne Spaß laufen.

Aber warum mir eine fremde Strecke so zu schaffen gemacht hat, das bleibt tatsächlich zumindest zu diesem Zeitpunkt unbeantwortet.