Die eben erwähnte Runde ist mir neu.
Also, nicht wirklich, denn wir gehen sie ziemlich oft mit dem Hund, aber wir GEHEN sie und laufen sie nicht.
Und gehen, das funktioniert völlig von selbst. Dabei achten wir gar nicht auf Steigungen oder Unebenheiten. Dieser Weg bedarf im Spaziergang-Modus keinerlei besonderer Konzentration. Ich kann mich auf meine Füße verlassen, wir quatschen unentwegt, sodass die gute Stunde oder mehr wie im Flug vergeht.
Im Laufmodus ändert sich aber die Perspektive.
Ich kenne diesen Weg nicht. Alles ist neu. Und wo kommen auf einmal die Berge her?
»Diese Steigung ist doch neu …«, keuche ich aus dem letzten Loch.
Der Liebste lacht nur.
Wir laufen durch Wohnsiedlungen, viel im Zickzack, und wenn man mich hier allein lassen würde, würde ich nie mehr heimfinden.
»Bitte zeig mir immer an, wo es langgeht«, bitte ich den Herrn an meiner Seite.
Es macht mich fertig, nicht zu wissen, welche Abbiegung wir nehmen.
Ich möchte wissen, was auf mich zukommt.
Es ist meine Erkenntnis des Tages:
Ich möchte wissen, was auf mich zukommt.
Und das, meine Damen, verhält sich beim Laufen völlig konträr zu meinem beruflichen Leben. Hier möchte ich nie wissen, was auf mich zukommt.
»Wir schicken Ihnen die Interviewfragen schon vorher zu«, sagte neulich eine Journalistin zu mir.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bitte nicht. Ich gehe gern unvorbereitet in Interviews«, bitte ich sie.
Gleiches gilt für TV -Auftritte.
»Der Moderator sagt Ihnen gleich, was er Sie fragen wird«, erklärt mir die Aufnahmeleiterin.
»O nein, bitte nicht. Ich persönlich mag das viel lieber spontan«, lautet immer, immer, immer meine Antwort.
Ich möchte in Seminaren nicht wissen, wer da vor mir sitzen wird.
Ich möchte nicht wissen, was für Fragen kommen, und ich möchte am Montag nicht wissen, was für Freitag in meinem Kalender steht.
So fällt es mir leichter, mich gänzlich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Geistesgegenwärtig.
Ich möchte mit meinem Geist hier und jetzt gegenwärtig sein.
Jegliche Vorbereitung steht dem für mein Empfinden völlig entgegen. Die grätscht mir in mein Heute und wirft das Licht auf etwas, was noch weit entfernt ist.
Mit der Aufnahmeleiterin möchte ich lieber bequatschen, wie ihr Tag bis hierhin gelaufen ist. Und von meiner Seminar-Auftraggeberin möchte ich lieber wissen, wie sich ihr Weiterbildungsprogramm sonst so gestaltet.
So schaffe ich es besser, mich in die Situation einzufühlen. Richtig reinzufühlen, alles zu spüren, zu riechen, zu tasten, zu schmecken.
Beim Laufen bekomme ich das nicht hin.
Warum?, frage ich mich an diesem Morgen.
Die Antwort kommt schnell.
Im Job war das auch nicht vom ersten Tag an so. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich das eben Erwähnte für mich herausgefunden hatte und auch leben konnte.
Was es dafür gebraucht hat: Sicherheit. Woher kommt die? Mit der Erfahrung. Gepaart mit dem Glaubenssatz: Du kannst das!
Ich weiß, dass ich gut Interviews führen kann. Zumindest so lange, bis man mich auf Quantenphysik anspricht. Und selbst da weiß ich, dass ich mich auf meine Schlagfertigkeit verlassen kann. Ich weiß, dass ich gut darin bin, Seminare zu geben. Ich habe meine Themen verankert. Wenn ich dann in die Situation hineinfühle, paaren sich Erfahrung und Selbstbewusstsein mit Intuition. Heraus kommt vielleicht keine Perfektion, aber Natürlichkeit.
Lassen Sie uns das als Analogie mit ins Laufen nehmen.
Für den Lauf einer unbekannten Strecke bräuchte ich also: Sicherheit, Erfahrung, Selbstbewusstsein und ein Stück Intuition. Daraus ergäbe sich ein guter Lauf mit einem Quäntchen Natürlichkeit.
Beim Laufen mangelt es mir wohlmöglich noch an allem.
Warum? Weil mir das nicht in die Wiege gelegt wurde wie die Schlagfertigkeit.
Wir reden hier von Talent.
Mit Talent lernt sich der entsprechende Fachbereich natürlich etwas leichter. Das ist ja immer so. Mit Talent für Takt und Rhythmus erlernen Sie das Klavierspielen womöglich etwas leichter. Oder das Tanzen. Wenn Ihnen das fehlt, müssen Sie im Zweifel etwas härter trainieren.
Ich habe kein angeborenes Sport- oder Bewegungstalent.
Ich bin erst mit 18 Monaten gelaufen.
Aber ich habe mit sechs Monaten gesprochen.
Das sagt vermutlich alles.
Ich muss mir also meine Lauffähigkeiten hart erarbeiten.
Für einen selbstbewussten, erfahrenen und intuitiven Lauf muss ich richtig ackern.
Einfacher wird es, wenn Sie mich fragen, wenn man das erkennt und fühlt, was man braucht.
»Bitte zeig mir an, wo es langgeht«, ist also ein Schlüsselsatz für mich. Ein wichtiger Faktor. So baue ich mir die Sicherheit bei einer Strecke auf.
Eine erfahrene Läuferin und Bekannte erzählte mir vor Jahren: »Die Marathonstrecke gucke ich mir vorher immer an. Und sei es, dass ich den Weg mit dem Auto abfahre. Ich brauche das für den Kopf.«
Damals verstand ich nichts.
Heute verstehe ich alles.
Und wissen Sie, was uns auch hier wieder zugutekommt?
Die sanfte Selbstansprache.
Kennen wir schon von den unterschiedlichsten Themen, insbesondere in Bezug auf Glück und Resilienz.
Sie könnten so mit sich reden: »Boah, du Loser, als ob es wirklich wichtig wäre, ob es hier links- oder rechtsrum geht. Es kommt doch auf deine Kondition an. Und die ist anscheinend echt noch miserabel«, oder aber Sie sagen zu sich: »Ja, du brauchst diese Sicherheit. Das hat weniger mit Kondition als vielmehr mit Kopfarbeit zu tun. Und je öfter du erfährst, dass du auch fremde Strecken mit diesen kleinen Hilfsmitteln gut gemeistert bekommst, desto besser wirst du sie in Zukunft laufen.«
An diesem Tag lerne ich das für mich.
Und bei der 15 . Kurve frage ich mich plötzlich: Vielleicht ist es auch hier wie im Leben? Vertraue einfach darauf, dass du es kannst!