Als der große Tomasz George und mich heimbrachte, war Polly bei uns zu Besuch. Matt und Jonathan waren in den Pub gegangen. Matt war bei seiner Jobsuche nicht wesentlich weitergekommen, deshalb machte sich Polly Sorgen, dass er immer noch deprimiert sein könnte. Claire hatte überlegt, dass ein Ausflug in den Pub sowohl ihm als auch Jonathan guttun würde.
Die Kinder hatten sie vor den Fernseher gesetzt. Claire meinte zwar, dass die Gesellschaft die Nase rümpfe, wenn man den Fernseher als unbezahlten Babysitter einsetze, aber sie wolle mal eine normale Mutter sehen, die das nicht tue. Die Kinder stritten sich darum, wer mit George kuscheln durfte, sodass sie sich schließlich abwechseln mussten. Doch George machte es nichts aus, zwischen ihnen hin- und hergereicht zu werden. Wie immer genoss er die Aufmerksamkeit. Polly, Claire und ich zogen uns in die Küche zurück. Die Türen blieben zwar offen, damit wir die Kinder hören konnten, aber zumindest konnten wir so Erwachsenengespräche führen.
»Wie läuft es auf der Arbeit und mit Matt? Ich hab das Gefühl, wir haben uns ewig nicht gesehen«, sagte Claire.
»Das liegt an der Arbeit. Weißt du, mir gefällt der Job, wirklich, trotzdem würde ich am liebsten Stunden kürzen. Das geht aber nicht. Wir brauchen das Geld, und im Moment betreue ich zwei große Projekte, die natürlich beide am besten gestern fertig sein müssen, also arbeite ich auch noch nach Feierabend, und das fast täglich. Es kommt mir vor, als würde ich die Kinder so gut wie gar nicht mehr sehen, und wenn, dann bin ich so kaputt, dass ich sie einfach fernsehen lasse.«
»So wie gerade, meinst du? So wie ich? Mach dich deswegen nicht fertig, Polly. Du brauchst auch mal eine Pause. Deshalb sind wir noch keine schlechten Mütter. Sei nicht so streng mit dir.«
»Du hast ja recht. Das kenne ich alles schon. Ich weiß, dass ich manchmal zu hart zu mir bin, aber es fällt mir echt schwer, kein schlechtes Gewissen zu haben, weißt du?« Als Polly nach Henrys Geburt an einer postpartalen Depression gelitten hatte, war sie sich wie eine schlechte Mutter vorgekommen, und ich weiß, dass sie sich deswegen immer noch schuldig fühlt. Dabei ist sie eine tolle Mum – das sehe ich fast jeden Tag.
»Aber der Job macht dir Spaß, ja?«
»Ja, sehr. Und ich finde es toll, dass ich für meine Arbeit wertgeschätzt werde. Ich weiß, das klingt blöd, aber ich bin wirklich stolz auf mich. Und irgendwie will ich gar nicht mehr ganz auf meinen Job verzichten. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt? Ich wünschte nur, Matt würde endlich was finden. Nicht weil ich meinen Job aufgeben wollte, alles andere als das, sondern weil er es hasst, nur zu Hause zu sein. Und ich kann es kaum mitansehen, wie schlecht es ihm geht.«
»Aber da kannst du auch nichts machen, oder? Ich meine, abgesehen davon, ihn zu unterstützen. Außerdem bin ich mir sicher, dass er bald wieder was findet, Pol. Er bewirbt sich doch weiter, oder?«
»Ja, und ich versuche auch, optimistisch zu sein, aber … na ja, sein Glas ist derzeit immer halb leer. Du weißt ja, wie locker und unbekümmert er normalerweise ist, aber momentan sieht er alles schwarz.« Sie seufzte. »Na ja, egal. Wie war denn euer Wochenende?«
»Einerseits gut, andererseits nicht so toll. Dad hat das alles noch mal für mich in die richtige Perspektive gerückt. Wenn wir möglichst bald ein Kind adoptieren wollen, müssen wir auch für ein älteres Kind offen sein. Der Prozess dauert zwar auch lange – wobei: Dank Dad und seinen Kontakten sind wir schon ein gutes Stück weiter –, aber sobald wir für eine Adoption infrage kommen, falls wir infrage kommen, müssen wir nicht so lange warten wie bei einem Baby oder jüngeren Kind. Ich fände es ja toll, ein älteres Kind aufzunehmen. Das ist dann schon in der Schule, und Summer hätte einen großen Bruder oder eine große Schwester, im gleichen Alter wie Henry vielleicht. Aber Jonathan denkt, ein älteres Kind zu lieben würde ihm noch schwerer fallen als ein Baby.«
»Das ist sein Argument?«
»Na ja, es macht Sinn. Also für ihn, weil er das nun mal so empfindet. Er glaubt, dass er Summer so sehr liebt, weil sie von uns ist. Und er hat Angst, dass er für ein adoptiertes Kind nicht das Gleiche empfindet, und er will nicht, dass sich das Kind dann immer zurückgesetzt fühlt.«
»Das ist doch eigentlich ganz lieb gedacht«, befand Polly. Da konnte ich ihr nur zustimmen. Jonathan hatte auch eine sensible Seite; die lag allerdings oft versteckt unter Designeranzügen und gelegentlichem Gepolter.
»Ja, das ist es. Er würde das Kind nicht anders behandeln wollen, und vor allem will er nicht weniger Liebe für es empfinden, auch wenn das Kind es vielleicht gar nicht merken würde. Er hat gesagt, es ist ihm wichtig, alle seine Kinder gleich zu lieben, und wenn er das nicht täte, könnte er nicht damit leben.«
»Und wie gehst du jetzt weiter vor?«, wollte Polly wissen.
»Wir haben uns darauf geeinigt, erst mal zu schauen, ob wir überhaupt offiziell infrage kommen, bevor wir irgendwelche Entscheidungen treffen. Aber um ehrlich zu sein, ist er einfach ziemlich verunsichert, und momentan hängt der Haussegen bei uns etwas schief, um es mal vorsichtig auszudrücken.«
»Oh Gott, wir sind alle verkracht.« Bekümmert starrte Polly auf die Tischplatte.
»Ja, offensichtlich. Und Tash, der Einzigen von uns, die gerade eine Trennung hinter sich hat, geht’s wahrscheinlich noch am besten von uns allen!«
»Aber das freut mich wirklich. Sie hat so viel mitgemacht und war die ganze Zeit so stark, das ist echt bewundernswert.«
»Ja, und da habe ich auch noch was vor. Ich will ihr jemanden vorstellen, einen Kollegen von Jonathan. Deshalb habe ich mir überlegt, euch alle zum Essen einzuladen. Hier bei uns, nächsten Samstag. Meinst du, du kannst einen Babysitter organisieren?«, fragte Claire.
»Ja, ich denke schon, aber bist du sicher, dass es so eine gute Idee ist, sie zu verkuppeln? So lange ist die Trennung von Dave ja auch noch nicht her.«
»Nein, und es kann auch sein, dass der Abend total in die Hose geht, aber seit ihrem Umzug hockt sie nur in der Wohnung. Sie trifft sich höchstens mal mit uns, dabei braucht sie dringend ein Erlebnis, das ihr Selbstbewusstsein aufputscht. Mag sein, dass das Ganze in Tränen endet, aber wahrscheinlich sind’s dann meine«, sagte Claire lachend, und Polly lächelte ihr zu.
»Okay, ich denke zwar, dass du spinnst, aber ich komme. Ich meine, wir kommen. Was hält Jonathan denn davon?«
»Er sagt, dass mich meine Übergriffigkeit irgendwann mal in Teufels Küche bringen wird, aber ich glaube, auf eine verquere Art liebt er mich genau deshalb.«
»Und Tash?« Polly trommelte mit einem ihrer manikürten Finger auf den Tisch. »Darf sie gar nichts dazu sagen?«
»Na ja, sie war jetzt nicht total begeistert von der Idee, aber irgendwann hat sie mir zumindest recht gegeben, dass ihr ein Abend in netter Gesellschaft bei gutem Essen guttun würde.«
»Dann hast du sie also auch so lange genervt, bis sie Ja gesagt hat?«
»Definitiv.« Grinsend sah Claire Polly an und drückte ihren Arm. »Wir kriegen das schon alles wieder hin mit unserer kleinen Gang. Das haben wir doch immer geschafft.«
»Miau!« Ich sprang auf den Tisch. Endlich versprühte mal jemand ein wenig Optimismus, wobei ich genau wusste, dass am Ende wieder ich derjenige sein würde, der alles in Ordnung bringen musste.
»Mummy, Mummy! Summer lässt mich nicht mit George kuscheln.« Martha stand in der Tür und machte ein grimmiges Gesicht.
»Komm«, sagte Claire zu Polly. »Dieses eine Problem können wir schon mal lösen.« Die beiden Frauen lächelten sich an, während sie ins Wohnzimmer gingen. Wie es aussah, geriet der Fernseher auch irgendwann an seine Grenzen.
Jonathan kam ziemlich spät aus dem Pub zurück. Claire war mit mir zusammen aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Neben mir schlief George tief und fest und schnarchte dabei leise. Ich liebte die Geräusche, die er beim Schlafen machte, dabei konnte ich ihm stundenlang zuhören. Na ja, bis ich selbst einschlief zumindest.
»Hi, Jon, wie war dein Abend?«, fragte Claire, als er sie mit einem Kuss begrüßte.
»Gut. Ich wollte eigentlich schon viel früher nach Hause kommen, aber Matt hat mich nicht gehen lassen«, erklärte Jonathan.
»Macht ja nichts. Ging’s ihm denn einigermaßen?«
»Nicht wirklich, aber ich glaube, das wird schon wieder. Er braucht einfach Zeit. Okay, ich hab morgen einen anstrengenden Tag vor mir, ich gehe mal besser ins Bett.« Ohne Claires Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg nach oben. Claire sah ein wenig bekümmert aus, während sie noch die Küche aufräumte, bevor sie Jonathan folgte.
»George«, sagte ich und stupste ihn sanft an. Kurz dachte ich darüber nach, ihn weiter hier schlafen zu lassen, aber ich wollte unbedingt in mein Bett. Er öffnete ein Auge und blickte mich an. »Zeit fürs Bett.«
»Dad?«, fragte er, während er seine kleinen Beinchen streckte.
»Ja?«
»Wieso sind denn alle so unglücklich?«
»Was meinst du?«, erkundigte ich mich möglichst beiläufig, doch mir lief ein unangenehmes Kribbeln durchs Fell. Hatte mein Junge die Spannungen mitbekommen?
»Das Wochenende hat Spaß gemacht, aber ich hab gemerkt, dass Franceska und Tomasz traurig waren. Polly sah auch ein bisschen bedrückt aus, und Claire hat gesagt, dass sie gerade alle Probleme haben. Tash hat das auch gesagt. Ich kenne sie ja alle noch nicht lange, aber was passiert, wenn sie sich nicht wieder vertragen?« Er klang so betrübt, und obwohl sich mein Herz zusammenzog, war ich gleichzeitig unheimlich stolz auf ihn. Er war ein aufmerksamer kleiner Kater mit einer sehr sensiblen Wahrnehmung. Ganz der Vater, wie Jonathan sagen würde.
»Mach dir keine Sorgen, George. Wir kümmern uns darum, dass alles wieder gut wird. Wir beide. Ich habe meinen Familien schon oft geholfen, das sehe ich als meine Aufgabe, und du hast recht: Gerade brauchen sie uns sehr, aber wir bekommen das hin. Vertrau mir.«
»Das tue ich, Dad«, sagte er, bevor er aufstand und nach oben zu unserem Bett lief.
Nachdem ich eine Weile eng an ihn gekuschelt dagelegen hatte, fing ich wieder an zu grübeln. Jetzt hatte ich nicht nur Aleksy, sondern auch George versprochen, dass alles wieder gut werden würde, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich überhaupt anfangen sollte. Schon oft hatte ich irgendwelche Hürden nehmen müssen, diesmal jedoch schienen es so viele zu sein. Eines hatten meine Familien alle gemeinsam: Sie liebten einander wirklich, und ich wusste, dass sie sich nie ganz trennen würden. Trotzdem konnte ich sehen, dass sie Hilfe brauchten. Dringend. Und so wuchs meine To-do-Liste noch weiter an.
Ich hatte immer noch Liebeskummer, auch wenn der auf meiner Liste mittlerweile deutlich nach unten gerückt war, und ich musste mich um Georges Erziehung kümmern. Schließlich brauchte er sehr viel Aufmerksamkeit, genau wie meine Menschen, zumindest die Erwachsenen. Wenigstens den Kindern schien es gut zu gehen. Wobei: Wenn Aleksy schon gemerkt hatte, dass etwas bei seinen Eltern nicht stimmte – wie lange würde es dann dauern, bis auch die anderen Kinder die unangenehmen Stimmungen in ihrem jeweiligen Zuhause wahrnehmen würden? Kinder spürten so was, genau wie Kätzchen, selbst die Kleinsten. Also musste ich die Kinder schützen, während ich die Probleme der Erwachsenen löste, und ich hatte George und Aleksy versprochen, das bald zu tun.
Ich versuchte zu schlafen, doch in meinem Kopf kreisten die Gedanken.
Franceska würde bald weit weg sein, wie um alles in der Welt sollte ich da dem großen Tomasz klarmachen, dass er seine Familie aufs Spiel setzte, wenn er weiter so viel arbeitete, auch wenn er das für seine Familie tat? Und wie sollte ich Polly und Matt zu der Einsicht bringen, dass sie trotz ihres Rollentauschs, der für keinen der beiden ideal war, eine Lösung für alle finden konnten? Und Claire und Jonathan – um die beiden machte ich mir irgendwie am meisten Sorgen. Obwohl Claires Dad versucht hatte, die zwei zur Vernunft zu bringen, erschien mir die Kluft zwischen ihnen so groß. Jonathan glaubte immer noch, dass er ein Kind, das er nicht selbst gemacht hatte, nicht lieben könnte, aber das war Quatsch – man brauchte doch nur George und mich anzusehen. Er war auch nicht mein biologischer Sohn, trotzdem liebte ich ihn über alles. Wieso sah Jonathan das nicht? Und warum wies Claire ihn nicht darauf hin? Mal wieder hing alles an mir: Ich trug eine schwere Last auf meinen kleinen Schultern, und vor mir lag ein langer, steiniger Weg, wenn ich dafür sorgen wollte, dass alle wieder glücklich waren. Und als wäre das noch nicht genug, kam auch noch das Rätsel um die Laternenkatzen oben drauf. Falls sich in unserer Nachbarschaft wirklich etwas Schlimmes abspielte, mussten wir dem auf den Grund gehen. Und das schnell.
Meine Schnurrhaare schmerzten beim Gedanken daran, wie ich all diese Aufgaben stemmen sollte, aber irgendwie würde ich es schaffen. Sonst war alles für die Katz.